Jeremy ist ein einsamer Junge, der viel vor dem Computer sitzt. Nein, anders: Jeremy ist ein kaputter Mörder. Beides ist wahr. Davon erzählt "Sie sind unter uns", ein "Polizeiruf 110", in dem Kommissarin Doreen Brasch es mit einem Schul-Shooter zu tun bekommt.
Jeremy ist ein ziemlich durchschnittlicher Siebzehnjähriger. Der Sohn geschiedener Eltern, der in Mathe nicht besonders gut ist, den manche Mitschüler "schräg" finden und der anderen leidtut.
Das Einzige, was an Jeremy erst einmal etwas ungewöhnlich ist: dass er seine Mutter Rebecca (Maja Beckmann) pflegen muss. Eine verzweifelte Kranke mit MS, die sich außer an Jeremys Hilfe vor allem an die Strohhalme klammert, mit denen ihre Heilpraktikerin wedelt: Rebecca müsse positiv bleiben: "Zweifel sind energetische Killer." Rebecca solle geduldig sein: "Dienstag nehmen wir uns dein Kehl-Chakra vor."
Beim Vater gießt Jeremy Blumen, weil der mit seiner neuen Familie gerade auf Rügen ist. Mit Jeremys Alltag hat er seit fünf Jahren "eigentlich nichts mehr zu tun", werden wir später erfahren.
Jeremy ist verloren gegangen
Jeremy kann einem wirklich leidtun. Irgendwann ist Jeremy einfach verloren gegangen. Aber dann knackt er den Waffenschrank im Haus seines Vaters, schnallt sich eine GoPro um und geht Lehrer erschießen.
Er macht das genau so, wie die einschlägige Literatur Schul-Shooter beschreibt: ganz unbeteiligt, ruhig, eben nicht wie der klassische Amokläufer, sondern nach einem scheinbaren Plan, den er sich in seinem wirren Hirn zurechtgelegt hat. Erst ist der Schuldirektor dran, dann dessen Stellvertreterin. Dann zwei Schüler. Dann ist die Polizei vor Ort, und Jeremy verschanzt sich mit seinen Waffen in einem Klassenzimmer. Die Schüler sollen sich auf den Boden legen. Die Lehrerin soll sich auf den Boden legen. Gesicht nach unten, Handy aus. Jeremy lehnt unterm Fenster an der Heizung und schluckt Tabletten.
In der benachbarten Berufsschule hat sich inzwischen die improvisierte Einsatzzentrale gebildet. Kommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen), Kriminalrat Uwe Lemp (Felix Vörtler) und ein Team aus Psychologen und bewaffneten Einsatzkräften versuchen, die Situation in den Griff zu bekommen, bevor es weitere Tote gibt. Hoch konzentriert, ruhig, mit Worten. Die Scharfschützen stehen bereit, aber das Gespräch hat Vorrang. Erst einmal. Für Jeremy eine ungewohnte Situation.
Pädagogisch wertvolle Sensibilität
"Sie sind unter uns" arbeitet mit langen Kameraeinstellungen und still beobachtenden Nahaufnahmen. Das Casting ist hervorragend – nicht nur Mikke Rasch ist seiner schwierigen Rolle als Jeremy gewachsen, auch seine Mitschülerinnen und Mitschüler sind ausgezeichnet besetzt. Dieser "Polizeiruf" (Buch: Jan Braren, Regie: Esther Bialas) ist einer dieser Filme, über die wir Kritikerinnen schreiben, wie "sensibel" er das "heikle Thema" angehe, dass er "auf Voyeurismus verzichte" und mit einem aufmerksamen Blick auf die Umstände "zum Nachdenken" anrege.
Stimmt alles. Aber wer sich nicht von einem Film wie aus dem Lehrbuch für einfühlsame Filme über gesellschaftlich relevante Themen belehren lassen will oder wer sich den sensiblen Umgang auch in Bezug auf die Intelligenz des Fernsehpublikums wünscht, wer allergisch auf platte Erklärungsmuster reagiert, der wird sich über "Sie sind unter uns" trotzdem ärgern. Und nicht nur über die Tatsache, dass die Schulsekretärin nach den Schüssen auf den Rektor erst einmal in ihrem Ordner nach dem korrekten Vorgehen im Falle eines Amoklaufs nachschlägt.
Opfer der Gesellschaft oder Mörder?
Es passt alles etwas zu pädagogisch wertvoll zusammen: Die Eltern, die nur mit sich selbst beschäftigt sind. Die ignoranten Mitschüler. Eine Vertraute, die Jeremys Warnung hat verpuffen lassen, weil sie nicht wollte, dass er "wegen ihr Ärger in der Schule bekommt". Die Corona-Pandemie, mit der sich Jeremys Abdriften in abstruse Verschwörungstheorien statistisch untermauern lässt.
Was dabei zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass es immer noch um einen Mörder geht, der sich eine Kamera und eine Waffe besorgt hat, um damit zu töten.
Empfehlungen der Redaktion
Es ist alles zu glatt, zu aufgezeigt, um wirklich aufzuwühlen. Dieser "Polizeiruf" will in erster Linie warnender Appell sein – und erst dann eine dramatische Geschichte. Das macht "Sie sind unter uns" nicht als fiktives Drama beängstigend, sondern nur als Zeigefinger-Krimi. Weil er daran erinnert, dass sie tatsächlich "unter uns" sind: Menschen, die in die Schulen unserer Kinder marschieren und schießen könnten.