Die Situation im Gazastreifen wird immer dramatischer. Die Kommunikationsspezialistin Rosalia Bollen war vor Kurzem im Gazastreifen, um die Arbeit des Kinderhilfswerks UNICEF zu dokumentieren. Im Interview erzählt sie von Kindern und ihren Hoffnungen, die immer wieder aufs Neue zerstört werden.
Eine Kiste mit altem Brot, eine Feuerstelle, einen Topf mit Tee: Viel mehr hat Hanadi nicht, um ihre Kinder zu versorgen. Die Mutter aus Chan Yunis lebt mit ihren Kindern neben einem Friedhof. "Sie sind tot und wir sind lebendig", erzählt sie. "Aber in Wahrheit sind wir ebenfalls tot." Um den Hunger ihrer Kinder zu stillen, kratzt sie Schimmel von altem Brot und weicht es in Tee ein. Ihr kleiner Sohn verlor innerhalb von zehn Tagen anderthalb Kilo.
Die Geschichte von Hanadi und ihren Kindern ist eine von vielen im Gazastreifen. Vor einigen Monaten wurde die beschlossene Waffenruhe beendet, seitdem gehen die Bombardierungen und Angriffe weiter. Zuletzt geriet Israel in die Kritik, Hilfslieferungen zu blockieren und keine Unterstützung mehr in den Gazastreifen zu lassen. "Gaza steht an der Schwelle zur Hungersnot" – so drastisch formuliert es Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, in einem Gastbeitrag in der "Frankfurter Rundschau". Trotz der Blockaden ist UNICEF weiterhin in Gaza und leistet unter anderem psychosoziale Hilfe.
Die Kommunikationsspezialistin Rosalia Bollen war vor Ort und wartet derzeit darauf, wieder nach Gaza einreisen zu können. In ihrer Arbeit spricht sie mit den Menschen vor Ort und dokumentiert die Arbeit von UNICEF. Im Interview berichtet sie von der Hilfe, die bisher im Gazastreifen geleistet wurde, und wie sich die Situation seit März verändert hat.
Frau Bollen, Sie arbeiten als Kommunikationsleiterin im Gazastreifen, sie sprechen mit Eltern und Kindern vor Ort. Was erzählen sie Ihnen? Ist da vor allem Angst oder Frust oder auch Wut?
In den ersten Monaten in 2025, als es noch die Waffenruhe gab, waren die Kinder hoffnungsvoll. Sie erzählten mir Dinge wie: "Dann kann ich wieder in meinem Bett schlafen. Dann finde ich meinen Teddybären wieder. Ich weiß nicht, was mit meinem Freund passiert ist, der nebenan lebte, ich möchte ihn wiedersehen. Das Erste, was ich mache, ist Fußball zu spielen." Es war schrecklich, das zu hören, weil ich wusste, dass diese Häuser, in die sie zurückkehren wollten, und große Teile von Gaza nicht mehr existieren. Es ist Müll und Schutt, wo auch immer man hinsiehst.
Sie waren ab Oktober 2024 im Gazastreifen, ein Jahr nach Kriegsbeginn. Was haben Sie dort erlebt?
Jedes Kind im Gazastreifen ist hungrig, durstig und müde. Fast alle Kinder sind krank, haben einen Angehörigen oder Freunde verloren, leben in einem Zelt und haben Angst vor den Flugzeuggeräuschen und streunenden Hunden. Jetzt ist es noch schlimmer geworden.
Und was erzählen sie Ihnen jetzt?
Nach dem 18. März, nachdem Israel seine Angriffe wieder aufgenommen hatte, wurden erneut zahlreiche Menschen getötet und verletzt. Eltern und Kinder sind seitdem verzweifelter. Eltern erzählen mir, dass sie sich völlig verlassen fühlen vom Rest der Welt. Sie haben uns gebeten, den Krieg zu stoppen. Aber leider haben wir als UNICEF nicht die Macht dazu. Die Eltern haben Angst vor der Zukunft ihrer Kinder, sie glauben, dass ihre Generation verloren ist. Sie fragen uns, ob UNICEF mehr Bildung ermöglichen kann. Die Kinder sind seit zwei Jahren nicht mehr zur Schule gegangen. Schule bedeutet nicht nur, dass Kinder etwas lernen können, sondern auch Routine und Stabilität.
Wie unfassbar, dass Eltern auch in so einer verzweifelten Situation noch an die Bildung ihrer Kinder denken.
Da war ich auch überrascht. Ich weiß, wie schlecht ihre Lebensbedingungen sind, ich hätte damit gerechnet, dass sie mich nach Essen fragen. Aber viele Eltern sind so verzweifelt darum bemüht, ihren Kindern irgendeine Art von Normalität oder zumindest die Illusion von Normalität zu bieten. Zwei Mütter wollten die Geburtstage ihrer Töchter feiern. Sie fragten mich, ob ich Geburtstagskerzen organisieren könnte oder vielleicht sogar ein kleines Geschenk. Solche Begegnungen überraschen und berühren mich immer wieder.
Gibt es denn Bildungsangebote von UNICEF in Gaza?
Es gibt so genannte kinderfreundliche Orte, wo die Kinder Unterricht bekommen, zum Beispiel in Mathe und Arabisch. Dafür bauen wir Zelte als temporäre Klassenzimmer dort auf, wo sich viele geflüchtete Menschen befinden. Die Kinder kommen mehrmals die Woche dorthin und können sich für ein paar Stunden vom Krieg ablenken, lernen oder mit anderen spielen. Heute sind etwa 69 von 104 dieser kinderfreundlichen Orte operativ.
Wie kommt die Hilfe bei den Menschen an?
UNICEF ist bereits seit Jahrzehnten im Gazastreifen präsent. Das heißt, wir kennen die Bevölkerung und das Gebiet. Wir haben momentan etwa 100 Mitarbeitende vor Ort, vier Lagerhäuser und es gibt 127 Kliniken, die Mangelernährung behandeln und von UNICEF unterstützt werden. Wir haben also eine wichtige operative Präsenz. Wir verteilen die Hilfsgüter nicht direkt aus den Lagerhäusern oder auf der Straße. Wir nutzen bestehende Strukturen, um die zu unterstützen, die am vulnerabelsten sind. Wir wissen, dass Kinder mit leerem Magen sich schlechter im Unterricht konzentrieren können. Also verteilen wir in den Zelten, wo Unterricht stattfindet, protein- und energiereiche Kekse, damit sie etwas im Magen haben. Das Problem ist einfach, dass es nicht genug von allem gibt.
Wie priorisieren Sie das, was Sie zur Verfügung haben?
Ganz ehrlich, es ist eine sehr schreckliche Aufgabe. Alle Kinder brauchen Unterstützung. Wir haben das im Winter gesehen, da gab es Kinder ohne Schuhe im Regen, aber wir hatten nicht genug Winterkleidung für alle. Also mussten wir einen Teil für besonders vulnerable Kinder reservieren, mit denen wir bereits arbeiten. Wir haben Eltern bei der Verteilung von Rollstühlen auch Winterkleidung mitgegeben. Um Kinder, die ihre Eltern verloren haben, kümmern wir uns besonders, durch psychologische Unterstützung. Auch sie haben Winterkleidung von uns erhalten. Das sind sehr spezifische Beispiele, aber was ich unterstreichen möchte, ist, dass wir sicherstellen wollen, dass die Hilfe auch wirklich bei denen ankommt, die am verletzlichsten sind.
Was sind weitere Hilfsangebote?
Wir haben viele verschiedene Programme. Wir sind involviert in Projekte zu sauberem Trinkwasser und Hygiene. In unserem Kinderschutzprogramm kümmern wir uns verstärkt um Kinder mit Behinderungen. Zum Beispiel organisieren wir Rollstühle oder Hörgeräte. Sowas ist wichtig, denn so können die Eltern ihre Kinder mitnehmen, wenn sie beispielsweise auf den Markt gehen müssen. Und natürlich gibt es ein Ernährungsprogramm, um die Kinder mit Mangelernährung zu behandeln.
"Diese Kinder sehen nicht mehr aus wie Kinder, sie sehen aus wie kleine Skelette."
Die Situation hat sich durch die Blockade von Hilfsgütern in den letzten Wochen noch einmal deutlich verschlechtert. Über zwei Monate kamen keine Medikamente oder Nahrungsmittel nach Gaza, Hilfsgüter konnten nicht verteilt werden. Welche Veränderungen haben Sie sofort bemerkt?
Schon zehn Tage nach der Blockade verschwanden Lebensmittel vom Markt, zum Beispiel Früchte, die zuvor noch importiert wurden. Dann gab es keine Eier mehr, keine Milch, überhaupt kein Fleisch. Das haben wir alle zu spüren bekommen. Meine Kollegen und ich haben mehrere Kinder gesehen, die akut mangelernährt waren. Das sind Kinder, die sechs Monate alt sind und so viel wiegen wie Neugeborene. Ein Junge, der ein Jahr alt war, wog nur noch vier Kilo, obwohl das Normalgewicht in diesem Alter bei zehn Kilo liegt. Diese Kinder sehen nicht mehr aus wie Kinder, sie sehen aus wie kleine Skelette.
Neben dem Hunger und Mangel an Hilfsgütern: Was belastet die Menschen in Gaza derzeit zusätzlich?
Es gibt so viele Kinder mit lebensverändernden Verletzungen, die Gliedmaßen verlieren, Kinder, die Verbrennungen am ganzen Körper haben. Vor ein paar Tagen gab es einen Angriff auf eine Schule in Gaza-Stadt. Danach sind Kollegen dorthin, um zu sehen, ob es Überlebende gibt. Sie haben ein 4-jähriges Mädchen ausmachen können, sie heißt Hanin. Ihre Eltern wurden getötet. 25 Prozent ihres Körpers haben Verbrennungen 2. Grades, auch in ihrem Gesicht. Die Krankenhäuser können das nicht stemmen, sie haben keine Medikamente mehr. Das bedeutet, dass dieses Mädchen mit diesen Schmerzen lebt. Das sind keine Einzelfälle, solche Geschichten finden überall statt in Gaza.
Ich habe eine Sache in Gaza gelernt: Auch wenn es schon schlimm scheint, es kann immer noch schlimmer werden.
Wie geht man mit alldem um? Vor allem wenn man da ist, um zu helfen?
Es ist sehr schwierig. Ich habe eine Sache in Gaza gelernt: Auch wenn es schon schlimm scheint, es kann immer noch schlimmer werden. Aber es ist auch frustrierend, weil die Lösung so einfach wäre. Und für viele Dinge liegt die Lösung in unseren Lagerhäusern, außerhalb von Gaza. Doch wir sind nicht autorisiert, sie einzuliefern. UNICEF allein hat das Äquivalent von 1.000 Trucks voll mit Lebensmittel, Impfungen, Kleidung oder Hygieneartikeln. Wir sind bereit, rund um die Uhr zu arbeiten. Und es ist unerträglich, dass wir das nicht dürfen. Es ist frustrierend zu sehen, dass die Kinder solches Leid erleben müssen, weil sie nichts getan haben, um diesen Krieg zu verursachen. Sie sind dafür nicht verantwortlich, trotzdem sind sie die größten Opfer. Und sie haben keine Macht, etwas an der Situation zu ändern.
Was fordern Sie?
Das Wichtigste ist, dass die Kämpfe, sofort aufhören. Und dass die israelischen Geiseln freigelassen werden. Das kann nicht mehr warten. Bis heute wurden mehr als 50.000 Kinder getötet oder verletzt. Das ist eine riesige Zahl und sollte dazu führen, dass die Welt handelt. Wir würden gerne unseren Job machen. Wir riskieren unsere Leben und wir sind bereit, das zu tun, weil die Bedürfnisse der Menschen so groß sind. Die Bevölkerung in Gaza braucht diese Unterstützung. Sie können nicht fliehen. Es gibt keinen Ort, der sicher ist in Gaza. Wir brauchen ein Ende der Angriffe.
Über die Gesprächspartnerin
- Rosalia Bollen ist Kommunikationsleiterin bei UNICEF und war bis vor Kurzem im Gazastreifen, um dort mit den Menschen zu sprechen und die Arbeit von UNICEF zu dokumentieren. Derzeit wartet sie darauf, in den Gazastreifen zurückkehren zu können.
(Anm.d.Red: Inzwischen konnten Hilfslieferungen wieder in den Gazastreifen gelangen, jedoch in sehr reduziertem Maße.)