Für viele Paare gehört ein Kuss zu den täglichen Ritualen, zählt er doch als das Zeichen der Liebe. Allerdings teilten Männer und Frauen die Einstellung zum Küssen nicht, gibt Psychotherapeut Wolfgang Krüger zu bedenken. Und das könne zum Problem in einer Partnerschaft werden.

Ein Interview

Der erste Kuss ist etwas ganz Besonderes. Aufregend und emotional. Und aufschlussreich. Denn laut Wolfgang Krüger erfahren wir beim Küssen eine Menge über die andere Person – und sie über uns. Das Küssen ist laut dem Psychotherapeuten ein so wichtiger Bestandteil einer Partnerschaft, dass er sich diesem in seinem Buch "Küssen als Sprache der Liebe" widmet.

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Im Interview mit unserer Redaktion spricht Krüger über die Aussagekraft eines Kusses, inwiefern sich Küsse im Laufe einer Beziehung verändern und weshalb Männer an ihrer Einstellung dem Küssen gegenüber arbeiten sollten.

Herr Krüger, Sie behaupten, man könne beim Küssen einiges über den anderen herausfinden. Was denn?

Wolfgang Krüger: Küssen enthält zwei Fähigkeiten. Zum einen die soziale Kompetenz: Man merkt schnell, wie sich der oder die andere einfühlen kann. Daran, ob der andere zu langsam oder zu schnell küsst, oder ob er in der Lage ist, sich auf Sie einzustellen. Und Sie merken, welche Persönlichkeit Ihr Kusspartner hat. Hat er die Fähigkeit, sich zu zeigen? Ist das ein interessanter Küsser, bei dem ich das Gefühl habe, er oder sie hat eigene Ideen und einen starken Charakter?

Und noch etwas merkt man: ob der andere eine gewisse Kussmelodie hat, also ein Tempo, bei dem Sie spüren, ob er auf sie eingeht. Denn erst dann wird das Küssen zu einem Gespräch. Deshalb sagt das Küssen viel über eine Partnerschaft aus. Es ist die Basis dessen, was ein gelingendes Zusammenleben ausmacht.

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Psychotherapeut Wolfgang Krüger
Psychotherapeut Wolfgang Krüger © Gerald Wesolowski

Sie beschreiben da den perfekten Filmkuss, bei dem alles harmoniert. Kann es denn sein, dass der Kuss einer Person gefällt und der anderen nicht?

Es kann vorkommen, dass der eine gar nicht mitbekommt, wie es dem anderen dabei geht. Das passiert vor allem jungen Männern. Männer schätzen das Küssen generell weniger Wert als Frauen. Küssen ist ihnen etwas suspekt, weil es im Wesentlichen eine emotionale Fähigkeit ist. Weil sie unsicher sind, neigen Männer häufig dazu, zu schnell und zu viel zu küssen, sind danach aber der Überzeugung, gut geküsst zu haben.

"Nicht gut zu küssen, sagt etwas über die Bindungsfähigkeit aus. Deshalb ist das Küssen das wichtigste Zeichen für eine gelingende Beziehung."

Wolfgang Krüger, Psychotherapeut

Aber die Frau sieht das anders …

Genau. Für Frauen kann das ein schreckliches Erlebnis sein, weil sie das Gefühl haben, vom Kuss überwältigt worden zu sein. Das ist ungünstig, denn über 80 Prozent aller Frauen beginnen nur eine Beziehung mit einem Mann, der gut küssen kann. Nicht gut zu küssen, sagt etwas über die Bindungsfähigkeit aus. Deshalb ist das Küssen das wichtigste Zeichen für eine gelingende Beziehung.

Das würde ja bedeuten, dass die Art des Küssens etwas über die Qualität einer Beziehung aussagt…

Ja, es spiegelt die gesamte Beziehung wider. Wenn Sie ein gutes Bauchgefühl haben, wissen Sie dadurch, wie sich der Betreffende im Alltag verhält, wie, wenn Sie mal einen Konflikt haben und wie er im Bett ist. Das spüren Sie alles im Kurs.

Also kann man das Küssen nicht lernen und gemeinsam verbessern?

Das kommt darauf an. Man kann es lernen und man kann den Partner darauf aufmerksam machen. Dann wird man aber in den meisten Fällen zwei Erfahrungen machen. Die meisten Menschen sind, wenn man im gesamten Bereich der Erotik Änderungsvorschläge einbringt, sehr empfindlich. Und man wird merken, dass der Charakter des anderen im Küssen immer wieder durchschlägt. Eine Weile küsst der andere vielleicht anders, und nach ein paar Wochen wieder wie zu Beginn. Denn das Küssen hängt immer mit unserer Persönlichkeit zusammen. Zum Beispiel fangen wir an, anders zu küssen, wenn wir uns entwickeln.

Krüger: Männer und Frauen verbinden mit dem Küssen Verschiedenes

Sie hatten vorhin auch erwähnt, dass Männer anders küssen als Frauen und das Küssen anders wertschätzen. Welche verschiedenen Absichten stecken denn hinter einem Kuss?

Weit über zwei Drittel aller Männer küssen vor allem, um eine Frau ins Bett zu kriegen. Für sie ist Küssen im Grunde ein Vorspiel, eine Verführung. Frauen ärgern sich darüber, weil sie finden, dass Küssen etwas ganz Eigenständiges ist, eine eigene Form von Lust. Sie verbinden Küssen nichts zwangsläufig mit Sex. Insofern haben Männer eine völlig andere Grundeinstellung. Das Erste, was Männer lernen müssten, ist, dass das Küssen an sich Spaß macht und dass es zwar zur Erotik führen kann, aber nicht muss - und dass es überhaupt keinen Grund gibt, dann enttäuscht zu sein. Ändern Männer dieses Verhalten nicht, macht das das Küssen kaputt.

"Küssen ist keine Eintrittskarte für Sex."

Wolfgang Krüger, Psychotherapeut

Was würden sie Männern also raten?

Sich auf den Kuss einzulassen. Fast alle Männer machen beim Küssen die Augen auf, Frauen haben sie geschlossen. Frauen wollen beim Küssen genießen. Männer wollen wissen, was passiert und die Kontrolle behalten. Doch beim Küssen weiß man nie, was im nächsten Moment passiert. Das Küssen ist ein Gespräch. Das verunsichert viele Männer. Sie sollten sich auf diesen Dialog einlassen, Küssen nicht als etwas Kurzes betrachten, und sich auch mal Küssen lassen. Kurzum: einfach genießen und nicht dabei überlegen, wie es weiter geht. Und wissen: Küssen ist keine Eintrittskarte für Sex.

Auch andere Küsse haben eine Bedeutung

Vor allem in längeren Partnerschaften zählen nicht nur Küsse auf den Mund zu Ritualen, sondern auch Küsse auf die Wange oder die Stirn. Bedeuten solche Küsse etwas anderes als Küsse auf den Mund?

Das Küssen auf die Stirn ist besonders interessant, weil ich der Meinung bin: Wenn ein Mann eine meist jüngere Frau auf die Stirn küsst, hat es häufig etwas Väterliches. Das Küssen auf die Stirn hat auch etwas Respektvolles, nach dem Motto "Ich will dich nicht unbedingt ins Bett kriegen". Gibt es diese Küsse häufig, verschwindet langsam die Erotik aus der Beziehung.

Das hört sich sehr negativ an. Muss man sich Sorgen machen, wenn der Partner einen auf die Stirn küsst?

Nein, wenn das mal passiert, ist das wunderschön. Wenn man sich allerdings ausschließlich auf die Stirn oder die Wange küsst, wirkt das so, als weiche man einem erotischen Kuss aus. Wenn das in mehr als der Hälfte der Fälle so ein eingespieltes Ritual ist, dass ich zum Beispiel meine Frau mit einem Kuss auf die Stirn begrüße, wenn sie nachhause kommt, würde ich anfangen, mir Gedanken zu machen.

Küssen als "Maßstab für die Leidenschaft in der Beziehung"

Vermutlich ist das allerdings bei einigen der Fall, dass man sich nur noch kleinere Küsse gibt. Anfangs hat man noch Schmetterlinge im Bauch, dann nicht mehr. Und irgendwann macht sogar das Küssen nicht mehr so viel Spaß. Würde man viel in den Kuss interpretieren, wäre das ja fatal …

Das ist leider der Fall. Küssen ist immer ein Maßstab für die Leidenschaft in der Beziehung. Und natürlich ist eine gewisse Desillusionierung spätestens nach einigen Monaten normal. Dennoch sollte sich ein Paar gelegentlich fragen, was mit der Beziehung passiert ist. Welche Konflikte gab es? Welche Enttäuschungen? Welchen Rückzug? Und was könnte man tun, um wieder Lust aufeinander zu haben, ein bisschen, wie das auch am Anfang der Fall war? Insofern ist das Küssen fast ein Mahnmal dafür, was in einer Beziehung verloren gegangen ist und was man möglicherweise tun müsste, um die Beziehung wieder etwas zu verbessern.

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Wie gelingt das?

Es ist sinnvoll, wenn ein Paar, das viele Jahre zusammen ist, sich gelegentlich vornimmt, sich zu umarmen und sich wieder einmal längere Zeit zu küssen. Wir vergessen das manchmal regelrecht. Da geht im Alltag in längeren Beziehungen wirklich etwas verloren.

Über den Gesprächspartner

  • Dr. Wolfgang Krüger ist tiefenpsychologischer Psychotherapeut und Buchautor. Eines seiner erklärten Ziele ist es, lebenspraktische und tragfähige Lösungen zur Bewältigung von Schwierigkeiten zu finden.