Junge Menschen demonstrieren für mehr Klimaschutz, in Hongkong setzen sich Bürger gegen den Einfluss Chinas zur Wehr, in Chile erheben sich junge Menschen gegen soziale Ungerechtigkeit. Weltweit werden politische Konflikte derzeit auf die Straße getragen. An mehreren Orten sind Proteste auch in Gewalt umgeschlagen. Wie ist das zu erklären?

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In Hongkong legen einzelne Demonstranten Brände oder zerstören Geschäfte, in Chile werden U-Bahn-Stationen demoliert. Auch in Katalonien kommt es zu gewaltsamen Zusammenstößen von Polizei und Befürwortern der Unabhängigkeit der spanischen Provinz. Im niederländischen Groningen ziehen Landwirte im Oktober mit Traktoren das Portal eines Verwaltungsgebäudes aus den Angeln.

Wie ist zu erklären, dass bei anfangs friedlichen Protesten auch Gewalt zum Einsatz kommt? Und könnten auch die Fridays-for-Future-Demonstrationen in diese Richtung kippen? Darüber hat unsere Redaktion mit dem Soziologen Simon Teune, Vorstandsvorsitzender des Instituts- für Protest- und Bewegungsforschung, gesprochen.

Herr Teune, derzeit gibt es auf der Welt besonders viele und zum Teil auch gewaltsame Proteste. Ist das ein Befund, den Sie als Wissenschaftler teilen würden?

Simon Teune: Es sind viele. Aber ob es auch mehr geworden sind, ist schwer zu sagen. Wir erleben derzeit an vielen Orten gleichzeitig eine Zuspitzung von Protesten, die zum Teil schon über einen längeren Zeitraum laufen. Sie finden in sehr spezifischen Situationen statt, haben unterschiedliche Auslöser, es gehen unterschiedliche Gruppen auf die Straße. Das Verbindende ist, dass gerade verstärkt über diese Proteste berichtet wird. Aber die Aufmerksamkeit ist immer sehr selektiv.

Inwiefern?

Die Proteste im Irak und im Libanon sind in Deutschland lange überhaupt nicht wahrgenommen worden. Dass sie jetzt stärker im Licht der Öffentlichkeit stehen, liegt vielleicht auch an der Aufmerksamkeit für Proteste anderswo auf der Welt. Generell kommt ein großer Teil auch massiver Proteste aus anderen Regionen hierzulande kaum an – selbst bei Hunderttausenden Teilnehmenden oder Toten durch Polizeigewalt.

Wie lässt es sich erklären, wenn Teilnehmer nicht nur friedlich demonstrieren, sondern auch zu gewalttätigen Aktionen greifen?

Für autoritäre Regime sind Proteste eine Gefahr. Sie reagieren häufig mit gewaltsamen Polizeieinsätzen. Das war aber auch in Demokratien wie Spanien und Chile der Fall. In Chile hat die Regierung sogar das Militär mobilisiert, das für den Umgang mit Protestierenden gar nicht ausgebildet ist. Mehrere Menschen wurden erschossen, viele misshandelt. Dann geht es sehr schnell, dass Proteste eskalieren, dass die Demonstrierenden mit Steinen werfen, Sachen anzünden, randalieren. Das ist zumindest eine mögliche Reaktion. Aber wir haben auch gesehen, dass sich trotz der Gewalt gegen Protestierende immer mehr Menschen an den Demonstrationen beteiligt haben.

Spielt es nicht letztlich den kritisierten Regierungen in die Hände, wenn Demonstrationen in Gewalt ausarten? So lassen sich Proteste einfacher in ein schlechtes Licht rücken.

Das gilt vielleicht für diejenigen, die die Regierung für glaubwürdig halten. Wenn die Medien nicht auf Regierungslinie sind und die Menschen andere Informationen haben, kann das auch schnell nach hinten losgehen. Wenn Proteste nach gewalttätigen Polizeieinsätzen eskalieren, ist diese Strategie oft wenig plausibel.

Komplett friedlich sind dagegen bisher die Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung verlaufen. Gibt es Besonderheiten aus Sicht der Protestforschung?

Besonders ist sicherlich, dass so eine große Bewegung von Schülerinnen und Schülern getragen wird. Da gibt es eine Parallele zu Chile, wo junge Menschen die aktuellen Proteste in Gang gesetzt haben. Der Umfang der Fridays-for-Future-Proteste ist schon erstaunlich. Am 20. September waren 1,4 Millionen Leute auf der Straße. Das war einer der größten Proteste in der Geschichte der Bundesrepublik. Erstaunlich ist aber auch das Missverhältnis zwischen dieser großen Mobilisierung und den Reaktionen derjenigen, die in Politik und Wirtschaft Verantwortung tragen. Selbst eine Mehrheit der FDP-Wähler will eher Klimaschutz als Wirtschaftswachstum. Aber die Bundesregierung hat ein Klimapaket vorgelegt, mit dem sie ihrer Verantwortung nicht gerecht wird.

Wie könnte es mit der Klimabewegung weitergehen – gerade wenn politische Erfolge ausbleiben?

Es gibt immer zwei mögliche Entwicklungen bei Protestbewegungen. Möglich ist erstens eine Institutionalisierung, also dass sich Protestierende Parteien oder Organisationen anschließen. Zweitens gibt es den Weg der Radikalisierung: Man beginnt, die demokratischen Institutionen und das Wirtschaftssystem grundsätzlich infrage zu stellen. Im Fall der Klimaproteste bedeutet das, dass sich mehr Menschen für zivilen Ungehorsam entscheiden. Die Fridays for Future sind ja schon mit dem Regelbruch des Schulstreiks gestartet. Es kann sein, dass jetzt zum Beispiel die Aktionen von "Ende Gelände“ Zulauf bekommen, die symbolisch den Kohleabbau stoppen, indem sie die Gruben besetzen.

Kann es aus Ihrer Sicht auch zu gewalttätigen Aktionen kommen?

Das ist zumindest bis jetzt in der Klimabewegung nicht absehbar, weil das kein Akteur als sinnvoll erachtet oder überhaupt ins Gespräch bringt. Deutlich schlimmer finde ich die Aussicht, dass die Demokratieverdrossenheit der Beteiligten wächst. Für sie entsteht der Eindruck: Trotz der Menschenmassen und trotz der breiten Unterstützung bewegen sich die Verantwortlichen nicht. Das hat eine enorme Sprengkraft.

Zur Person: Dr. Simon Teune leitet den Bereich "Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte“ am Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Zudem ist er Vorsitzender des Vorstands des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung.
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