"Stoppt den Völkermord", fordern Demonstranten, Politiker, Prominente von der israelischen Regierung. Ist der Begriff für die Lage in Gaza wirklich zutreffend? Was das Völkerrecht sagt.
Die Tat ist monströs. Es geht um das "Verbrechen der Verbrechen". Wenn es etwas noch Bösartigeres als Mord geben kann, dann wohl den Völkermord oder Genozid, die beabsichtigte Auslöschung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Nach der systematischen Vernichtung der europäischen Juden durch das deutsche NS-Regime fand der Begriff Einzug in das Völkerrecht. Doch auch danach ist er nicht aus der Welt verschwunden.
Gerade ist der Vorwurf wieder zu hören. Gegen Israel. Also gegen den Staat, der den Jüdinnen und Juden nach dem Holocaust eine Zuflucht bieten sollte. Begeht jetzt die israelische Regierung einen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen? Dieser Vorwurf erklingt jedenfalls auf Demonstrationen in Deutschland und weltweit, wird von Politikern, Prominenten oder Nichtregierungsorganisationen wie "Amnesty International" erhoben.
Grund, sich den Begriff einmal genauer anzuschauen. Wichtig ist dabei: Juristisch gesehen ist Völkermord ein Verbrechen im Sinne des Völkerrechts. Ob es wirklich vorliegt, ist wie so häufig im Recht eine Frage der Auslegung – und eine Entscheidung, die Gerichte treffen müssen.
Was ist Völkermord?
Die juristische Definition findet sich in der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords". Der internationale Vertrag trat 1951 in Kraft. Ein Völkermord ist demnach eine Handlung mit der Absicht, eine "nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören".
Die Konvention wird konkreter. Demnach muss ein Völkermord nicht zwingend in der unmittelbaren Tötung von Menschen bestehen. Er kann auch vorliegen, wenn einer Bevölkerungsgruppe schwere körperliche oder seelische Schäden auferlegt werden, wenn ihre Lebensbedingungen vorsätzlich massiv verschlechtert, wenn Geburten verhindert werden. Oder wenn Kinder aus dieser Gruppe gewaltsam entführt werden.
Ein Wort spielt eine besondere Rolle: die Absicht oder im Juristenlatein "dolus specialis". Um juristisch von einem Völkermord zu sprechen, müssen die Täter das klare Ziel verfolgen, eine Gruppe von Menschen zu zerstören.
Völkermorde in der Geschichte
- 1904 bis 1908: Völkermord an den Herero und Nama durch die Kolonialherren im damaligen Deutsch-Südwestafrika (bis zu 100.000 Todesopfer)
- 1915/1916: Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich (mehrere Hunderttausend bis 1,5 Millionen Todesopfer)
- 1939 bis 1945: Völkermorde an den Juden (rund sechs Millionen Todesopfer) sowie an den Sinti und Roma im nationalsozialistischen Deutschen Reich
- 1994: Völkermord in Ruanda durch die Bevölkerungsgruppe der Hutus an den Tutsis sowie gemäßigten Hutus (mindestens 800.000 Todesopfer)
- 1995: Massaker von Srebrenica (Bosnien-Herzegowina) an rund 8000 Muslimen durch bosnische Serben
Israel und Gaza: Auch ein Verteidigungskrieg hat Grenzen
Wie bewerten Völkerrechtler vor diesem Hintergrund das Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen? Zunächst ist festzustellen: Israel befindet sich in einer besonderen Lage. Es ist umgeben von Regierungen und Gruppen, von denen einige den jüdischen Staat vernichten wollen. In der Islamischen Republik Iran gilt die Zerstörung Israels sogar als Staatsziel. Zudem hatte der jüngste Krieg im Gazastreifen einen Auslöser: den Überfall der in Gaza herrschenden Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mit fast 1200 Todesopfern. Er war ebenfalls ein Verstoß gegen das Völkerrecht.
Bei vielen Israelis herrscht daher das Gefühl, selbst Opfer eines Völkermords werden zu können.
Auch ein Verteidigungskrieg hat im Völkerrecht allerdings Regeln. "Israel ist trotzdem an das humanitäre Völkerrecht und an die Genozid-Konvention gebunden", sagt Michael Riegner, Juniorprofessor für Völkerrecht an der Universität Erfurt.
Mehr als 55.000 Menschen sind inzwischen nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde in Gaza ums Leben gekommen. Israel greift auch Schulen, Krankenhäuser, Flüchtlingscamps, Infrastruktur an und lässt humanitäre Hilfe nur eingeschränkt in das Gebiet. "Je länger der israelische Gegenschlag dauert, je weniger Widerstand die Hamas leistet und je mehr Zivilisten sterben, desto schwieriger wird es für Israel, sich auf das Selbstverteidigungsrecht gegenüber der Hamas zu berufen", sagt Riegner.
Die Völkerrechts-Professoren Kai Ambos und Stefanie Bock argumentieren auf dem "Verfassungsblog", Israels Vorgehen in Gaza entspreche inzwischen mehreren Tathandlungen, wie sie in der Völkermord-Konvention definiert sind: die Tötung von Menschen, körperliche und seelische Misshandlungen sowie die Auferlegung zerstörerischer Lebensbedingungen. Michael Riegner sieht das ähnlich: "Das massive Bombardieren von Zivilisten und das Aushungern der Bevölkerung könnten den objektiven Tatbestand des Völkermords erfüllen."
Nachweis gilt als schwierig
Ende 2023 hat Südafrika Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verklagt – wegen des Vorwurfs des Völkermords. Noch ist das Verfahren nicht entschieden. Sollte der IGH aber wirklich einen Genozid feststellen, hätte das Folgen. Die anderen Staaten wären dann verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um Israel zu stoppen. "Sie dürften zum Beispiel keine Waffen mehr an Israel liefern, die zum Völkermord beitragen", sagt Michael Riegner.
Wie das Verfahren ausgeht, ist aber offen. Denn unklar ist, ob die Kläger der israelischen Führung auch die Absicht nachweisen können, das palästinensische Volk zerstören zu wollen. Diese Absicht wäre die Voraussetzung für das Vorliegen eines Genozids. Doch dieser Beweis gilt als schwierig. "Ob die öffentlichen Quellen – zum Beispiel Pressemitteilungen oder Äußerungen in den sozialen Medien – dafür ausreichen, ist umstritten", sagt Riegner.
Die Bochumer Völkerrechts-Professorin Sabine Swoboda ist zum Beispiel der Meinung, dass der Tatbestand des Völkermordes nicht erfüllt ist, weil es auch andere plausible Motive für den Krieg gebe.
Einerseits sind zahlreiche Äußerungen israelischer Politiker protokolliert, die die Menschen in Gaza entmenschlicht haben. Die Frage, was mit den rund zwei Millionen Bewohnern des Gebiets, das zunehmend einer Trümmerwüste gleicht, passieren soll, kann oder will die israelische Regierung nicht überzeugend beantworten.
Andererseits sieht sie in ihrem Vorgehen in Gaza immer noch einen Akt der Selbstverteidigung. Offiziell führt sie einen Krieg gegen die Terrororganisation Hamas, die sich zum Teil hinter Zivilisten versteckt. Das ist eine andere Motivation als im Nazi-Deutschland, wo für die Massenermordung von Jüdinnen und Juden eine eigene KZ-Infrastruktur aufgebaut wurde. Und das ist auch eine andere Lage als in Ruanda, wo in den 90er-Jahren Hutu-Politiker die ganze Bevölkerung aufriefen, ihre Tutsi-Nachbarn abzuschlachten.
Staaten sind zur Verhütung eines Genozids verpflichtet
Auch wenn seine Entscheidung noch aussteht: Der Internationale Gerichtshof hat bereits angedeutet, dass ein Völkermord in Gaza durchaus eine plausible Möglichkeit ist. Dass Israel – wie zuvor schon die Hamas – Kriegsverbrechen in Gaza begeht, ist aus Sicht vieler Völkerrechtler zudem weniger umstritten.
Gerade aus deutscher Sicht spricht vieles dagegen, mit dem Begriff Völkermord allzu leichtfertig umzugehen. Doch gleichzeitig darf das nicht zur Annahme führen, ein Genozid müsse zwingend dem Holocaust ähneln. Die erwähnte Konvention verpflichtet die Staaten zudem zu einer Verhütung eines Völkermords. Das heißt: Schon wenn er zu befürchten ist, müssen sie tätig werden, bevor es zu spät ist.
Über den Gesprächspartner
- Prof. Dr. Michael Riegner ist Juniorprofessor für internationales Verwaltungsrecht und Völkerrecht an der Universität Erfurt. Er hat Rechtwissenschaften in Passau und Genf studiert und an der Humboldt-Universität Berlin zum Thema "Informationsverwaltungsrecht internationaler Institutionen" promoviert.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Michael Riegner
- Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen: Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (PDF-Datei)
- Verfassungsblog.de: Genozid in Gaza? Einige vorläufige völker(straf)rechtliche Überlegungen
- Amnesty.org: Informationen zum Genozid in Gaza und zum Nahostkonflikt
- Ruhr-Universität Bochum: "Der Begriff Völkermord ist für Juristen zur Last geworden"