• Florian Bachmeier reist als Fotograf immer wieder in die Ukraine.
  • Im Krieg erlebt er viel Leid und Schrecken – aber auch den starken Durchhaltewillen der Ukrainerinnen und Ukrainer.
  • Im Interview mit unserer Redaktion spricht Bachmeier über seine Arbeit im Kriegsgebiet und erklärt, warum er trotz des großen Risikos immer wieder in die Ukraine reist.
Ein Interview

Herr Bachmeier, Sie haben auf Ihren Reisen in die Ukraine viele Menschen kennengelernt. Wie haben Sie die Ukrainer in den Kriegsmonaten erlebt?

Florian Bachmeier: Der Durchhaltewillen ist überall spürbar. Die Menschen haben sich teilweise mit den widrigen Verhältnissen arrangiert. Was viele aus den Augen verlieren, ist der Kampf ums eigene Überleben. Ich habe nicht oft erlebt, dass Ukrainer Angst ums eigene Leben haben. Vielmehr sind sie bereit, große Opfer zu bringen, um sich aus ihrer Lage zu befreien.

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Als Fotograf sehen Sie viele Dinge, die man auf Ihren Fotos nicht sieht. Ein Foto ist ja nur ein Ausschnitt der Realität. Wie wählen Sie aus, was Sie zeigen und was nicht?

Das ist immer eine fotografische Entscheidung. Es hängt von der Bildsprache und dem Konzept des Projektes ab. Ich sehe mich hauptsächlich als Dokumentarfotograf, mich interessieren vor allem die Menschen. Das Porträt ist mein Fokus. Im Ukraine-Projekt hat sich aber auch herausgestellt, dass die Landschaft eine Art Protagonist sein kann. Landschaften und Porträts nebeneinanderzustellen, hat sich etwa für mein Ukraine-Fotobuch "In Limbo" als tragendes Konzept erwiesen.

Es gibt gerade im Krieg viele schreckliche Situationen. Gibt es da auch Szenen, die Sie nicht fotografieren, weil man sie nicht zeigen kann?

In "In Limbo" gibt es etwa ein Foto, das einen toten Jungen zeigt. Er lag fünf Tage auf der Straße. Ein Nachbar, der ihn nicht kannte, hat ihn schließlich mit einem Teppich zugedeckt. Irgendjemand hat ihm dann auch noch die Stiefel geklaut. Man muss immer überlegen, wie und ob man das zeigen will und ob es Sinn ergibt. Wichtig ist: Ein Foto muss immer Sinn ergeben, sonst ist man schnell beim Voyeurismus oder hat einfach makabere Bilder. Die Entscheidung ist dann gefallen: Ich zeige das, aber von weiter weg. Das sind oft auch Entscheidungen, die man schnell treffen muss. In diesem Dorf war es beispielsweise nicht sicher.

Florian Bachmeier: "Propagandalügen sind sehr verletzend"

Sind Ihre Fotos für Sie auch ein Kampf gegen Propaganda?

Ja, in der Tat. Ich bin kein Reporter, sondern Dokumentarfotograf. Ich versuche, den Leuten mit möglichst viel Empathie zu begegnen, ein Stück ihres Lebens oder Weges zu teilen und zu verstehen. Die schrecklichen Propagandalügen, die verbreitet werden, sind für mich deshalb sehr verletzend. Das sind Dinge, die mit der Realität vor Ort, mit dem Leben der Menschen, nichts zu tun haben. Es sind dreiste Lügen.

Im Krieg passiert es auch immer wieder, dass Bilder verfälscht werden.

Ja, natürlich. Schon seit 2014 gibt es im Ukraine-Krieg viel Manipulation: Bilder, die in anderen Kontexten gezeigt werden oder mit falschen Unterschriften und die bewusst zur Verfälschung von Tatsachen eingesetzt worden sind.

Ist das bei Ihren Fotos auch schon mal passiert?

Nein, dafür sind meine Fotos wahrscheinlich zu weit aus der Tagesaktualität herausgerissen. Manipulation funktioniert vor allem bei Pressebildern, bei meiner Art zu fotografieren eher weniger.

Haben Sie noch Kontakt zu Ukrainern, die Sie schon fotografiert haben?

Ja, vor allem mit Menschen, mit denen ich viel Zeit verbracht habe oder die mir geholfen haben. In den vergangenen Monaten sind auch noch mal einige dazugekommen. In der Regel tauscht man auch Kontaktdaten aus, um etwa Fotos zu schicken. Wenn ich in die Ukraine fahre, treffe ich oft Menschen, die ich schon einmal fotografiert habe, und natürlich auch ukrainische Kollegen.

"Trost finde ich im Durchhaltewillen der Menschen"

Wie gehen Sie mit den Erlebnissen um, die Sie in diesem Krieg sehen?

Trost finde ich im Durchhaltewillen der Menschen und in der mentalen Stärke, die sie zeigen. Ich habe auch das Gefühl, dass vielen Menschen die Anwesenheit von jemandem, der sie ernst nimmt und sich für sie interessiert und mit dem sie ihr Schicksal teilen können, ein Stück weit Trost bringen kann. Wie viel Leid an einen selbst herangetragen wird, spürt man meist erst im Nachhinein.

Vor Ort ist man zu nah dran, um das Ganze direkt zu reflektieren und zu verarbeiten. Teilweise höre ich auch Geschichten, die das Vorstellungsvermögen vieler Menschen in Deutschland übersteigen, weil unsere Generation keinen Krieg mehr erlebt hat. Und in der Ukraine wird ein grausamer Krieg geführt. Nicht nur mit Bomben und Granaten, sondern auch mit Kriegsverbrechen, Exekutionen, getöteten Kindern, mit Leichen, die in Dörfern liegen und nicht bestattet werden.

Können Sie mit solchen Situationen so professionell umgehen, dass Sie das Leid nicht so sehr an sich heranlassen?

Das versuche ich zumindest. Andererseits ist es auch nicht mein Anspruch, es nicht an mich heranzulassen. Ich möchte es erleben und fühlen, weil meine Protagonisten das ja auch erleiden und fühlen müssen.

"Bange Momente": Im Donbass in einen Hinterhalt geraten

Gab es auch mal Momente, in denen Sie Angst um sich selbst hatten?

Ja, das war aber schon vor einigen Jahren im Krieg im Donbass. Ich war 2015 etwa zur Zeit des Minsker Abkommens mit mehreren Journalisten unterwegs, die aus Deutschland, der Ukraine und Russland kamen. Unser Fahrer hat einen Weg gewählt, auf dem kein Checkpoint mehr war. Wir sind dann zu tief in das von Separatisten kontrollierte Gebiet hineingefahren. Wir sind in einen Hinterhalt geraten, wurden bedroht, festgehalten und schikaniert. Der russische Journalist, der Kontakt mit Ukrainern hatte, wurde sogar wochenlang entführt. Es waren sehr bange Momente, bis man uns dann zurückgeschickt hat.

Wie sind Sie wieder herausgekommen?

Als klar war, dass es bei uns nichts zu finden gibt und das Waffenstillstandsabkommen in den nächsten Stunden in Kraft treten sollte und wahrscheinlich auch ein Befehl kam, sich auf eine andere Position zurückzuziehen, hat man uns irgendwann zurückfahren lassen.

Lernt man aus solchen Situationen, sich in Zukunft mehr zu schützen?

Das ist schwierig. Schutz ist immer relativ. Wenn ich etwa an einer Stelle bin, an der Granaten- und Artilleriebeschuss stattfindet, weiß ich nicht, wie viel die Schutzweste bringen soll. Immerhin sind damit lebenswichtige Organe geschützt. Ein Helm bietet vermutlich noch mehr Schutz. Aber nicht alle Bedrohungen sind berechenbar oder absehbar. Dennoch versucht man natürlich, sich so gut es geht zu schützen und ein nicht allzu großes Risiko einzugehen. Aber es ist Krieg, das ist immer mit Risiko verbunden.

"Plötzlich ging alles ganz schnell"

Sie beschäftigen sich ja schon viel länger mit der Ukraine als seit dem Einmarsch Russlands. Wie kam es dazu?

Seit 2011 bin ich bei dem Journalistennetzwerk n-ost. Ich habe schon immer eine Faszination für die Länder Mittel- und Osteuropas, die Ukraine habe ich zum ersten Mal 2012 besucht. 2013 war ich für ein längeres Projekt in Moldawien und habe dort Tuberkulose-Kranke fotografiert. Das war gerade zu der Zeit, als der Maidan losging, im November 2013. Ich bin mit dem Bus in die Ukraine gefahren und habe zweimal die Proteste fotografiert.

2014 ging es mit der gewaltsamen Niederschlagung der Maidan-Bewegung weiter. Da bin ich dann noch mal hingereist, als sich die Ereignisse überschlagen haben. Plötzlich ging alles ganz schnell: Die Annexion der Krim sowie später der Separatistengebiete im Donbass, der Provinzen Luhansk und Donezk. Seitdem bin ich so oft es ging in die Ukraine gereist, entweder auf eigene Kosten oder ich habe Geschichten für verschiedene Medien fotografiert. Mit den Publikationen konnte ich die Reisen finanzieren. So habe ich etwa die Jugendarbeit an den Front- beziehungsweise Kontaktlinien im Donbass begleitet und die Fertigstellung des Beton-Sarkophags über dem havarierten Reaktor von Tschernobyl. Es ist über die Jahre sehr viel Material zusammengekommen.

So entstand dann auch Ihr Fotobuch "In Limbo"?

Ich habe mir die Frage gestellt, was man aus den ganzen unveröffentlichten Fotos machen könnte. Es entstand die Idee für "In Limbo", das im Herbst 2021 erschienen ist. Der Titel war nahezu prophetisch: "In Limbo", diese Zwischenhölle, lag in der Zeit zwischen dem Maidan und dem Ausbruch des richtigen Kriegs 2022, nachdem seit 2014 der Krieg im Osten des Landes schon eine tägliche Realität war. Es war der Zustand, bevor die richtige Hölle hereingebrochen ist, das konnte ich damals aber noch nicht wissen.

Ich war mit der Promotion des Buches beschäftigt, wollte mit einem Fernsehteam der ARD nach Kiew reisen, um dort Kateryna Mishchenko, die Autorin der Buchtexte, zu treffen. Das war genau der Tag, an dem Russland die Ukraine überfallen hat.

Was ist dann passiert?

Die Autorin ist dann Richtung Westen geflüchtet. In den ersten Tagen war das Chaos so groß, dass ich von Lwiw gar nicht nach Kiew gekommen wäre. Ich habe in Lwiw in den ersten Tagen die Flüchtlingsströme fotografiert. Danach bin ich zu Fuß in einem ziemlich weiten Marsch über die Grenze nach Polen ausgereist, um dann einen Monat später wieder hinzufahren.

Ich war 2022 dann noch zweimal dort, einmal für eine Reportage über den westlichen Teil der Ukraine, der sich auf den Krieg vorbereitet hat, und einmal für eine Reise entlang des Dnipro. Ein Fluss, der eine erhebliche Bedeutung in der Geschichte der Ukraine hat: Der Dnipro hat die Ukraine schon immer kulturell und geschichtlich geteilt. Die Reise ging von der Front im Norden zur Front im Süden – nach Saporischschja.

Das war sicherlich auch eine sehr gefährliche Reise, oder?

Im Süden war es relativ ruhig an der Front. Als ich dort war, gab es keine Infanterie-Kampfhandlungen. Ich habe bis jetzt im Krieg noch kein Artilleriefeuer oder Granatenbeschuss miterlebt.

Das ist vielleicht ja auch ein Stück weit Glück, oder?

Ja, natürlich. Als ich zum Beispiel nach Bachmut wollte, hat mein Fahrer abgelehnt. Auf die Schnelle habe ich dann keinen anderen Fahrer gefunden. Da ich das selbst finanziere, hat es auch immer noch nicht geklappt.

Steht eine Reise nach Bachmut dennoch weiterhin auf Ihrer Agenda?

Ja. Ich plane, noch einmal ein Buch oder eine Ausstellung zu machen. Da muss ich auf jeden Fall den Osten noch mehr bereisen. Ich habe mit Saporischschja, Cherson und Mykolajiw bisher vor allem die Südfront besucht.

"Man hat immer Angst vor der Antwort"

Haben Sie schon mal ein Foto bereut, weil es etwas zu Grausames oder Schreckliches gezeigt hat?

Nein, eigentlich nicht, zumindest nicht in der Ukraine. Höchstens in Moldawien: Als ich die Tuberkulose-Kranken dort fotografiert habe, ist die Krankheit epidemisch geworden. Es sind sehr viele Menschen gestorben, die dann in Leichenhäusern gelagert wurden. Da musste ich sehr gut auswählen. Es gab einige Bilder, die zu schrecklich waren, um sie zu zeigen oder zu veröffentlichen. Das war einfach zu viel.

Wenn man im Krieg Personen fotografiert, kann es auch sein, dass sie wenige Tage später nicht mehr am Leben sind. Wie gehen Sie damit um?

Wenn man jemanden kennt, der an einen anderen Ort versetzt wurde, und man fragt nach ihm, hat man immer Angst vor der Antwort, die man bekommt. Das ist mir aber noch nicht passiert: Diejenigen, die ich kannte und nach denen ich gefragt habe, waren immer noch am Leben.

Das ist schön zu hören und macht etwas Hoffnung. Gibt es noch etwas, das Ihnen in der aktuellen Kriegssituation Hoffnung bereitet?

Was ein baldiges Ende des Krieges betrifft, habe ich wenig Hoffnung. Die Situation ist sehr verfahren. Eine Verhandlungslösung ist wohl nicht in Sicht, weil man mit einem Aggressor nicht verhandeln und irgendeine Forderung erfüllen kann. Was zu Beginn des Krieges möglich war, ist nach den schrecklichen Kriegsverbrechen von Butscha, Irpin und weiteren Städten nicht mehr möglich. Ich denke nicht, dass man mit den aktuellen Machtstrukturen in Russland eine Verhandlung anstreben kann. Es gibt im Moment – und das tut mir sehr leid – wahrscheinlich keine Alternative, als die Ukraine militärisch zu stärken und damit so viele Menschen wie möglich zu schützen.

Die Geschichte der Ukraine ist schon immer mehr als tragisch. Immer zwischen Hammer und Amboss, zwischen den großen Imperien, das ganze Mittelalter hindurch. Es gab verschiedene politische Interessenssphären, ein Teil war über Jahrhunderte polnisch-litauisch, der andere von den russischen Zaren erobert. Nach dem russischen Bürgerkrieg gab es den Holodomor, die herbeigeführte Hungersnot durch Stalin. Im Zweiten Weltkrieg hatte die Ukraine wahrscheinlich mit die meisten Opfer zu beklagen hat, etwa durch die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Und nun führt Russland Krieg gegen die Ukraine.

Was treibt Sie trotz des Leids an, immer wieder in die Ukraine zu reisen?

Nach so vielen Jahren, in denen ich auch so viele Menschen dort kennengelernt habe, ist es für mich eine moralische Verpflichtung geworden. Ich möchte den Menschen so weit es geht beistehen. Ich will das Leben der Menschen sowie die Entwicklung und Geschichte dieses Landes, das an einem Wendepunkt der Zeit steht, dokumentieren. Ich möchte einfach bei den Menschen sein.

Über den Gesprächspartner: Florian Bachmeier arbeitet seit 2010 als selbstständiger Fotograf. Seit 2012 ist er Mitglied bei N-Ost Nachrichtennetzwerk für Osteuropa. Bachmeier lebt und arbeitet in München und Madrid.
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