"Das war ja klar!" So oder ähnlich schimpfen wir oft, wenn etwas schiefgegangen ist. Dabei sitzen wir aber dem sogenannten Rückschaufehler auf – einer verzerrten Wahrnehmung der Vergangenheit und unseres eigenen Urteilsvermögens.

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Unserer eigenen Wahrnehmung können wir nicht immer ganz trauen: Wir erinnern uns oft verklärend an die Vergangenheit, interpretieren neue Informationen so, dass sie unser vertrautes Weltbild bestätigen (der sogenannte Bestätigungsfehler) und unter- oder überschätzen oft unsere persönlichen Fähigkeiten.

Solche Denkfehler, bei denen die innere Wahrnehmung nicht mit der äußeren Realität übereinstimmt, fasst die Psychologie unter dem Begriff der kognitiven Verzerrung zusammen. Dabei nehmen Menschen die Dinge also anders wahr, als sie objektiv tatsächlich sind, erinnern sich falsch oder ziehen fehlerhafte Schlüsse aus bestimmten Informationen. Diese verzerrteWahrnehmung muss nicht immer ein ernstes Problem darstellen, kann unser Urteilsvermögen aber durchaus beeinflussen und uns in den kleinen und großen Entscheidungen fehlleiten, die wir im Alltag treffen.

Viele kognitive Fehler haben damit zu tun, wie wir Vergangenes in der Erinnerung wahrnehmen. Dazu gehört auch der Rückschaufehler (englisch: hindsight bias), bei dem wir unsere Fähigkeit überschätzen, die Entwicklung von Ereignissen korrekt vorherzusehen.

Der Rückschaufehler und die "perfekte Sehstärke"

Im Englischen ist die Redewendung "Hindsight is 20/20" weitläufig bekannt. Sinngemäß übersetzt bedeutet sie: "In der Rückschau hat man immer die perfekte Sehstärke". Der Wert "20/20" bezeichnet im Rahmen eines Sehtests ein normales, uneingeschränktes Sehvermögen.

Gemeint ist damit, dass man mit dem zusätzlichen Wissen, das man in der Gegenwart besitzt, vergangene Ereignisse oft anders einschätzt. Auf dieser neuen Wissensgrundlage ärgert man sich dann vielleicht, damals nicht anders beziehungsweise besser gehandelt zu haben.

Genau dieses Phänomen beschreibt der Rückschaufehler. Wer in der Gegenwart schon weiß, wie ein bestimmtes Ereignis ausgegangen ist, hält diesen Ausgang im Rückblick oft für wahrscheinlicher und besser vorhersehbar, als er es tatsächlich war. Vielleicht geht die Person sogar davon aus, das Ereignis sei eigentlich unvermeidlich gewesen.

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Wie hoch ist der Eiffelturm?

Ein einfaches, oft zitiertes Beispiel für den Rückschaufehler ist ein psychologisches Experiment, bei dem die Teilnehmer:innen gebeten werden, die Höhe des Eiffelturms zu schätzen. Nachdem sie ihre Schätzungen abgegeben haben, teilt ihnen der/die Versuchsleiter:in anschließend die tatsächliche Höhe mit. Sie beträgt übrigens 330 Meter.

Einige Zeit später werden die Teilnehmer:innen dann noch einmal nach ihrer ursprünglichen Schätzung gefragt. Im Vergleich zeigt sich meist, dass sie glauben, mit dieser ersten Schätzung deutlich näher an der tatsächlichen Zahl gelegen zu haben, als es in Wirklichkeit der Fall war.

Der wesentliche Grund für diese kognitive Verzerrung ist, dass die Teilnehmer:innen die richtige Antwort inzwischen kennen. Laut dem Magazin Spektrum der Wissenschaft, das diesen Versuchsaufbau in seinem Lexikon der Psychologie beschreibt, tritt dadurch eine Art "Überlagerung" im Gedächtnis ein: Die früher gespeicherte (falsche) Zahl wird von der später gelernten (korrekten) Zahl verdrängt. Oder anders gesagt: Weil sie die tatsächliche Höhe des Eiffelturms jetzt kennen, können sich die Teilnehmer:innen schwerer vorstellen, sie einmal nicht gekannt zu haben. Sobald die 330 Meter Teil des neuen Wissens sind, wirken sie auf einmal wie ein offensichtlicher und selbstverständlicher Wert.

Der Rückschaufehler im Alltag: Weitere Beispiele

Der Rückschaufehler tritt aber nicht nur bei objektiven Fakten wie Zahlen auf, sondern auch bei der Neubewertung vergangener Ereignisse. Wenn wir beispielsweise mit dem Fahrrad gestürzt sind, meinen wir im Rückblick besser zu wissen, wie wir diesen Fahrrad-Fehler hätten vermeiden können. (Der große Stein auf dem Weg hätte uns doch auffallen müssen!) Wenn unsere Lieblingsfußballmannschaft ein Spiel verliert, meinen wir, die Niederlage sei schon in der ersten Halbzeit absehbar gewesen. (Das konnte ja nichts werden, so wie der Mittelstürmer drauf war!). Und so weiter.

Dabei merken wir oft nicht, dass wir die vergangene Situation nicht auf Grundlage unseres damaligen Wissens bewerten, sondern auf Grundlage von neuen Informationen, die uns damals noch gar nicht zur Verfügung standen. Den Stein auf dem Radweg haben wir vielleicht einfach nicht rechtzeitig bemerkt – und ob der Mittelstürmer sich in der zweiten Halbzeit vielleicht doch noch fangen würde, war am Anfang des Spiels überhaupt nicht abzusehen.

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Wie kommt es zum Rückschaufehler?

Laut dem Wissensmagazin Quarks gibt es drei wesentliche Ursachen für den Rückschaufehler:

  • Wir erinnern uns nicht mehr richtig an unsere ursprüngliche Einschätzung einer Situation, wie zum Beispiel im Eiffelturm-Experiment.
  • Im Rückblick scheint das Endergebnis einer Situation leichter vorhersagbar, weil wir den Ausgang inzwischen schon kennen.
  • Weil wir mittlerweile wissen, wie eine Situation ausgegangen ist, erscheint es uns unvermeidlich, dass sie genau so ausgehen musste. Einen anderen Ausgang können wir uns dann nicht mehr vorstellen, weil die Realität der Gegenwart unsere früheren Vorstellungen überlagert hat.

Allen drei Fällen liegt aber im Grunde die gleiche "Verzerrung" zugrunde: Eine – oft unbewusste – Umdeutung oder Überschreibung der Vergangenheit.

Übrigens: Nicht nur in Bezug auf Vergangenes können wir uns verschätzen. Mit Affective Forecasting projizieren wir in die Zukunft.

So wirkt sich der Rückschaufehler auf uns aus

Der Rückschaufehler ist für sich genommen eigentlich ein harmloses Phänomen. Ob wir nun von der ersten Spielminute an das 3:0 absehen konnten oder nicht, ob das heruntergefallene Ei in der Küche Schicksalsfügung oder Zufall war – für unser Leben und unseren Alltag ist das in der Regel von keiner größeren Bedeutung.

Im größeren Rahmen und auf längere Sicht betrachtet kann der Rückschaufehler aber durchaus negative Folgen für uns haben – und für andere. Denn nicht nur uns selbst werfen wir manchmal vor, wir hätten es besser wissen müssen, sondern auch unseren Mitmenschen.

Ein wesentliches Problem des Rückschaufehlers ist es, dass er unser Urteilsvermögen verzerren kann und damit unsere Entscheidungen beeinflusst. Wenn wir uns allzu sicher sind, negative Konsequenzen treffsicher voraussehen zu können, das in Wirklichkeit aber gar nicht der Fall ist, können wir Risiken und Gefahren einer Situation leichter unterschätzen.

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Außerdem lernen wir durch die verzerrte Erinnerung womöglich wenigeraus unseren Fehlern – entweder, weil wir uns nicht eingestehen wollen, dass wir mit unseren Prognosen nicht immer richtig liegen oder weil wir resigniert davon ausgehen, dass diese Fehler sowieso unvermeidlich sind. ("Es musste ja so kommen!") Diese resignierte Haltung kann sogar zu einem geringeren Selbstvertrauen und zu Selbstvorwürfen führen. Auch Schuldgefühle können damit einhergehen.

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Wie der Rückschaufehler unsere Mitmenschen betrifft

Andererseits kann der Rückschaufehler uns auch zu Vorwürfen und Schuldzuweisungen gegenüber anderen verleiten. Quarks nennt dafür zwei Beispiele:

  • Die Managerin, die einen ungeeigneten Mitarbeiter eingestellt hat. Ihr wird rückblickend vorgeworfen, sie hätte gleich erkennen müssen, dass dieser Mitarbeiter nicht in die Firma passe.
  • Der Arzt, der von einer Patientin verklagt wird. Sie ist der Ansicht ist, er hätte einen Tumor auf ihren Röntgenbildern schon viel früher erkennen müssen.

Was aber, wenn der Lebenslauf des Mitarbeiters zu Beginn einen hervorragenden Eindruck machte? Was, wenn der Tumor im Frühstadium selbst für Fachmediziner:innen nur schwer zu erkennen war? Wenn wir vor vollendeten Tatsachen stehen, neigen wir schneller dazu, diese Tatsachen für offensichtlich zu halten – und von unseren Mitmenschen zu erwarten, sie hätten sie lange im Voraus erkennen müssen. Nicht immer ist diese Erwartungshaltung aber auch gerecht und realistisch.

Übrigens: Das Phänomen, unsere Kompetenz aufgrund von Unwissenheit zu überschätzen, wird auch Dunning-Kruger Effekt genannt.

Lässt sich der Rückschaufehler vermeiden?

Wie es im Quarks-Beitrag heißt, ist der Rückschaufehler eine sehr hartnäckige Angewohnheit. Trotzdem kannst du versuchen, ihn mit einigen Verhaltensweisen besser in den Griff zu bekommen:

  • Mach dir den Rückschaufehler bewusst: Diesen Schritt hast du eigentlich schon begonnen, indem du diesen Artikel gelesen hast. Wenn du dir bewusst bist, dass es das Phänomen der "hindsight bias" gibt, hast du bessere Chancen, sie im Alltag zu erkennen. Da der Prozess aber größtenteils unbewusst abläuft, bis du dennoch nicht automatisch gegen den Rückschaufehler gefeit. Natürlich ist es dennoch möglich, Gewohnheiten zu ändern.
  • Sei nachsichtig mit dir selbst: Fehler passieren uns allen – das heißt aber nicht, dass sie vorherbestimmt sind. Aus der Rückschau ist es natürlich verständlich, sich nach einem Missgeschick Vorwürfe zu machen oder sich darüber zu ärgern, dass man nicht umsichtiger gehandelt hat. Indem du auf dich selbst wütend wirst, machst du den Fehler aber nicht ungeschehen und belastest dich nur zusätzlich. Besser ist es, Nachsicht mit sich zu üben. "Das kann doch jedem mal passieren!" ist ein besserer Leitsatz als "Das musste ja so kommen!" Mehr dazu, wie man sich selbst verzeihen kann und gutes Selbstmitgefühl betreibt, erfährst du in unseren anderen Ratgebern
  • Sei nachsichtig gegenüber anderen: Wenn du dir selbst eingestehen kannst, dass du nicht unfehlbar bist, fällt es dir auch leichter, anderen ihre Fehler zu verzeihen. Bist du der Meinung, du hättest in einer Situation besser gehandelt als jemand anders? Dann kannst du dich fragen, ob diese Person damals wirklich den gleichen Wissensstand hatte, über den du jetzt verfügst. Vielleicht unterschätzt du die Schwierigkeit der Situation, weil du im Rückblick über mehr Informationen verfügst.
  • Mach dir Notizen: Ein Aufsatz zum Thema empfiehlt als einfache, aber wirkungsvolle Übung, die eigenen Erwartungen und Überzeugungen vor (wichtigen) Ereignissen aufzuschreiben. So kannst du später leichter abgleichen, wie du vor der jeweiligen Situation wirklich gefühlt und gedacht hast und verringerst die Wahrscheinlichkeit eines Rückschaufehlers. Diese Praxis kannst du zum Beispiel in Form eines Tagebuchs ganz natürlich in deinen Alltag integrieren.

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