Die chinesische Plattform Temu und die niederländische Kette Action setzen neue Maßstäbe im Einzelhandel. Mit Preisen, die oft unter Konkurrenten liegen, ziehen sie Millionen von Kunden an. Doch was steckt hinter diesen Angeboten? Ein Handelsprofessor analysiert die Geschäftsmodelle, die veränderten Konsumgewohnheiten und die Probleme für Wirtschaft, Umwelt und Verbraucher.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Dominik Bardow sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Viele Kunden können ihr Glück kaum fassen: ein Tablet für knapp über 100 Euro? Eine Kamera-Drohne für unter 20 Euro? Eine Bratpfanne für acht Euro? Drei paar Socken für unter zwei Euro? Alles aktuelle Angebote, zu finden auf der Webseite von Temu oder im Wochenprospekt bei Action. Die chinesische Einkaufsplattform und die niederländische Ladenkette locken mit tollen Angeboten.

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Nicht nur Verbraucher, auch andere Händler fragen: Wieso ist das so günstig? Wo ist da der Haken? Einer, der sich damit auskennt, ist Handelsprofessor Carsten Kortum. Er kann aktuelle Trends im Konsumverhalten, den Erfolg und die Schattenseiten der Billighändler, online wie offline, erklären.

"Die neuen Player im Einzelhandel teilen den Kuchen neu auf und mischen kräftig mit", sagt er. Wobei Temu und Action zwar ähnliche Preise, aber komplett verschiedene Geschäftsmodelle hätten.

Die neuen Akteure im Einzelhandel: Temu und Action

Temu startete im April 2023 in Deutschland und hat laut Reports schon 16 Millionen Nutzer im Monat, die Discounterkette Action über 580 Filialen hierzulande und einen Umsatz von 13,8 Milliarden Euro. Beide gewannen rasch an Popularität, indem sie ein breites Sortiment sehr günstiger Produkte anbieten. "Die etablierten Einzelhändler verlieren durch diese Konkurrenz Marktanteile", analysiert Kortum. Etwa Discounter wie Aldi und Lidl, Großmärkte wie Kaufland, die nicht nur Lebensmittel anbieten.

Die Kunden kaufen nun bei Action, Woolworth oder Tedi, online bei Temu, Shein oder TikTok, wo auch Händler Ware anbieten. "Plattform-Modelle sind die Gewinner, besonders im Online-Bereich." Digitale Marktplätze bündeln Produkte verschiedener Anbieter, bieten so eine breite Auswahl an.

Kaufverhalten im Wandel: Warum Verbraucher zu Discountern greifen

Kortum will zwar nicht von "Billighändlern" sprechen, eher von Discountern, aber natürlich gingen sie über niedrige Preise, "wo man sich fragt, wie das überhaupt profitabel sein kann", sagt selbst er. Ihr Erfolg beruht aber auch auf geändertem Kaufverhalten der Kunden. "Es gab durch die Inflation Preissteigerungen, die Haushalte sparen nun mehr." Dazu kämen die klassischen Schnäppchenjäger.

Nicht jeder sei gezwungen, zu Discountern zu gehen. "Jeder von uns kauft gemischt ein", sagt er, für Frischekäufe fahre man zum Supermarkt, für Ergänzungs- oder Vorratseinkäufe zum Discounter. Action treffe mit einem Grundsortiment von 6.000 Produkten vor Ort offenbar immer den Zeitgeist. Die Leute wollten günstig einkaufen, aber auch eine gewisse Auswahl und ständige Verfügbarkeit.

Das erfordert große Lager, da die Ware überwiegend aus Asien kommt und importiert wird. Ein Aufwand, den nicht jeder Händler bewältigen kann. Zudem biete Action jede Woche neue Artikel. Erlebniseinkauf nennt Kortum es aber nicht. "Gerade Neueröffnungen erleben enormen Andrang." Bequemer ist es da, online zu shoppen, per Handy-App, mit Boni und Gewinnspielen wie bei Temu.

Nicht nur Teenager probieren Temu aus

Dennoch ist da immer die Unsicherheit, ob Ware auch ankommt und der Erwartung entspricht. "Es scheint zu funktionieren", sagt Kortum angesichts der Nutzerzahlen. "Temu versucht das Risiko eines Fehlkaufs zu reduzieren, bietet Rückerstattung bei Nichtgefallen an oder späten Lieferungen." Es sei wichtig für Temu, dass Erwartungen erfüllt werden, um Wiederholungskäufer zu gewinnen.

Wobei genau "der Schlüssel bei Temu ist, dass die Kunden oft keine großen Erwartungen haben". Viele bestellten einfach auf Verdacht. Alle Zielgruppen probierten es aus, auch Über-50-Jährige, belegen Statistiken. Es widerspricht dem Klischees des Teenagers, den Handy-Gewinnspiele locken. Diese seien vielen Kunden in Europa zu penetrant, sagt Kortum, und oft an Bedingungen geknüpft.

Die Strategie der Chinesen

Es locken vor allem die niedrigen Preise, oft gibt es die gleichen Produkte wie anderswo günstiger. Wie kann das sein? "Temu oder Shein verschicken meist direkt aus China, ohne Zwischenhändler." Versandkosten seien durch Weltpostabkommen relativ günstig. Außerdem gebe es Zollfreigrenzen. "Die Chinesen haben erkannt, dass sie nicht nur produzieren, sondern direkt an die Konsumenten verkaufen können." Es sei ein strategischer Schritt, den europäischen Handel außen vorzulassen.

"Viele Artikel werden hier aus China für fünfzig Cent eingekauft und für einen Euro verkauft." Plattformen geben den Herstellerpreis direkter an Kunden weiter, subventionieren auch Preise, um Marktanteile zu gewinnen. Ihr Geschäftsmodell sei dauerhaft durchhaltbar, ist Kortum überzeugt. Da können viele Einzelhändler hierzulande kaum mithalten. Nur die großen Ketten könnten das.

Stirbt der kleine Eckladen?

"Die großen Player wie Aldi und Lidl sind gut aufgestellt und reagieren auf die Konkurrenz", sagt er. Kaufland zum Beispiel versuche, eine Online-Plattform zu werden, mit Amazon zu konkurrieren. Ob all das Arbeitsplätze kostet, ist für Kortum nicht sicher. "Kleine Eckläden gibt es ja kaum noch." An Kassen, in Lagern, bei der Zustellung werde schon vieles automatisiert, weil Fachkräfte fehlen.

Geht das Geschäft der Günstigen auf Kosten von Nachhaltigkeit, Umwelt- und Sozialstandards? "Lobbyverbände fordern oft, dass die EU aktiv werden muss, aber wehren sich gegen Regulierung", erklärt Kortum die Widersprüche der Branche. Seine Hochschule habe zudem mit Studien ermittelt: Immer weniger Konsumenten sind bereit, für mehr Nachhaltigkeit auf ihren Konsum zu verzichten.

Große Zukunft – aber auch nachhaltig?

Auch wenn die Politik langsam reagiert, sieht Kortum eine Zukunft für Discounter online und offline. "Die Chinesen haben sich weiterentwickelt, sie bringen neue Ideen und Produkte nach Europa." Wobei er nicht glaubt, dass sie den Markt hier fluten, sondern sich eher mit den USA im Zollstreit einigen. "Und der stationäre Handel vor Ort hat weiter eine Zukunft, verschmilzt immer mehr mit Online."

Perspektivisch könnte sich der Experte sogar eigene Temu- oder Shein-Läden in Europa vorstellen. Viele Kunden wollen Ware weiterhin anfassen. Nur können sie die Qualität oft schwer einschätzen. Die versteckten sozialen, ökologischen Kosten etwa, wie Ware produziert und transportiert wurde. "Grundsätzlich hat jede Produktion Umweltfolgen, schädliche oder sehr schädliche", sagt Kortum. Insofern sollte man, nicht nur aus Angst vor schlechter Qualität und Zustellung, Käufe gut abwägen.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Carsten Kortum lehrt an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW), wo er Handelskurse im Studiengang BWL-Konsumgüterhandel leitet. Er verfügt über umfangreiche Erfahrung im Handel, arbeitete für Lidl und berät Unternehmen zu globalen Wertschöpfungsketten.

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