Lange haben wir uns über den hartnäckigen Winter beklagt. Jetzt kitzeln erste Sonnenstrahlen die Haut, die Vögel zwitschern um die Wette und wir fühlen uns plötzlich sooo müde! Woher kommt die Frühjahrsmüdigkeit? Oder ist sie bloß Einbildung? Dipl. Psychologe Werner Cassel vom Schlafmedizinischen Zentrum der Universität Marburg klärt auf.

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Herr Cassel, bilden wir uns die berühmte Frühjahrsmüdigkeit ein?

Nein, es steckt wirklich etwas hinter dem Phänomen. Aber nur etwa ein Viertel der Bevölkerung spürt die Frühjahrsmüdigkeit. Der Rest hat vermutlich ein bisschen mehr Reserven und liegt nicht so knapp am nötigen Schlafbedarf.

Warum tritt die Schläfrigkeit genau im Frühling auf? Liegt sie primär am Wetter oder an der Zeitumstellung?

Ich denke, dass es eine Kombination aus drei Faktoren ist. Erstens schlafen wir im Sommer durchschnittlich etwas weniger als im Winter. Bei manchen Menschen sind das bis zu 45 Minuten. Damit geht eine Anpassungsphase einher, in der man tagsüber müder ist, bis man sich daran gewöhnt hat. Dann steigt der Tiefschlafanteil – die Phase also, in der wir uns erholen –, und wir sind auch mit weniger Schlaf tagsüber wacher.

Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Zeitumstellung. Dabei stellen wir unsere innere Uhr darauf ein, eine Stunde früher aktiv zu sein. Das ist ein richtiger Umstellungsprozess, der am Beginn erst einmal müde machen kann.

Die Zeitumstellung lässt sich also nicht damit kompensieren, dass man am betreffenden Wochenende ausschläft?

Nein. Unsere innere Uhr hat einen richtigen Rhythmus. Den kann man nicht an einem Tag umstellen. Wenn man ausschläft, ist man am betreffenden Wochenende vielleicht nicht müde. Aber man merkt die Zeitumstellung am folgenden Montagmorgen umso mehr.

Und der dritte Faktor für die Frühjahrsmüdigkeit?

Der dritte Mechanismus ist der, dass man sich im Winter meist anders ernährt. Auch bei einer normalen Ernährung nimmt man im Winter nicht so viele Vitamine und Spurenelemente zu sich. Hinzu kommt ein ausgeprägter Vitamin-D-Mangel am Ende des Winters wegen des Lichtmangels. Im Frühjahr werden die Tage heller, wir werden tendenziell etwas aktiver und das trifft auf diese schlechten Ressourcen. Das alles führt dazu, dass man sich nicht leistungsbereit und schlapp fühlt.

Zumindest bezogen auf den Vitaminmangel könnte man aber im Winter vorbeugen, oder?

Richtig. Man kann bewusst darauf achten, sich vitaminreich zu ernähren. Das macht schon ab Beginn des Winters Sinn.

Wann ist der typische Zeitraum, in dem die Frühjahrsmüdigkeit zuschlägt?

Hierzulande ist der typische Zeitraum die zweite März- und die erste Aprilhälfte. Und da liegt die Zeitumstellung leider mittendrin. Sie macht es uns noch schwerer. Es gibt eine kanadische Studie, die zeigt: Nach der Zeitumstellung im Frühjahr passieren am folgenden Montagmorgen acht Prozent mehr Verkehrsunfälle.

Sind Sie als Schlafexperte gegen die Zeitumstellung?

Ja. Sie ist ein unnötiger Störfaktor, der die Frühjahrsmüdigkeit verstärkt. Man könnte meiner Meinung nach entweder die Winter- oder die Sommerzeit durchlaufen lassen. Man muss das aber nicht überdramatisieren: Man wird ja nicht schwer krank durch die Zeitumstellung. Nach einer Anpassungsphase von etwa zwei bis drei Wochen hat sich der Körper umgewöhnt.

Haben Sie Tipps für alle, die jetzt mitten in der Frühjahrsmüdigkeit stecken?

Wichtig ist: Man sollte abends nicht zu spät zur Ruhe kommen. Für Frühjahrsmüde ist es sinnvoll, etwa eine halbe Stunde früher ins Bett zu gehen. Das bedeutet nicht, dass man sich unter Druck setzt und sofort schlafen muss. Man sollte sich einfach mehr Zeit für die Ruhe geben: Man kann sich ins Bett legen und zum Beispiel bei wenig Licht ein Buch lesen, bis man richtig schläfrig ist. Wenn ich aber um 23 Uhr noch am Computer sitze, meine Mails checke oder Arbeit erledige, dann komme ich nicht zur Ruhe.

Wie sieht es am nächsten Morgen aus? Bei den meisten klingelt der Wecker immer um dieselbe Zeit. Andere nutzen Apps, die den Schlafrhythmus überwachen und einen wecken, wenn man gerade in einer leichten Schlafphase ist. Wie sinnvoll ist diese Methode?

Das ist von der Idee her gut. Ob die Apps immer richtig funktionieren, kann man in Frage stellen. Die Schlafdauer lässt sich bei den meisten ausrechnen: Sie sollte ein Vielfaches von 90 Minuten sein, also zum Beispiel 7,5 Stunden. Grundsätzlich sollte der Wecker nicht erst kurz vorm Einschlafen gestellt werden, weil das zusammen mit Gedanken an die Aufgaben des nächsten Tages verbunden ist und wieder aktiv macht.

Wie sieht es mit Sport aus? Kann beziehungsweise sollte man jetzt genauso aktiv sein wie gewöhnlich?

Am wichtigsten ist es, die positiven Effekte des Tageslichtes zu nutzen. Man sollte möglichst viel rauskommen. Wenn man es sich erlauben kann, geht man während der Arbeit am besten alle zwei Stunden für zehn Minuten nach draußen. Tageslicht fördert die Vitamin-D-Produktion, macht uns wach und unterstützt die Serotoninproduktion, was die Laune hebt. Sport sollte man deswegen am besten im Freien machen und in der Aktivitätsphase, die bei den meisten Menschen zwischen 7 und 18 Uhr ist.

Haben Sie noch einen Ernährungstipp?

Jetzt kommen viele frische Kräuter und Gemüse auf den Markt. Man sollte lieber zu diesen greifen und frisch kochen, und Fertigprodukte oder ähnliches liegen lassen. Wichtig ist, sich ausgewogen und vitaminreich zu ernähren und vom fetten Essen, das typisch für die Winterzeit ist, wegzukommen.

Herr Cassel, vielen Dank für das Gespräch.

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