Sie dienen eigentlich der Rauchentwöhnung, doch einige Ärztinnen und Ärzte sowie Betroffene setzen Nikotinpflaster auch gegen postinfektiöse Beschwerden ein. Welche Idee steckt dahinter, was sagt die Forschung dazu – und welche Risiken gibt es?

Je nach Anbieter und Konzentration sind Nikotinpflaster bereits für ein bis drei Euro am Tag rezeptfrei zu haben. Im Vergleich zu vielen Therapien, die Long-Covid- und ME/CFS-Betroffene ausprobieren, ist das ein vergleichsweise einfacher und günstiger Versuch. Die Idee hinter diesem Ansatz stammt von dem Anästhesisten Marco Leitzke, einem Oberarzt der Helios Klinik Leisnig, der sich bereits seit 2020 mit den Langzeitfolgen der Corona-Infektion befasst.

Was ist ME/CFS?

  • Die Abkürzung ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Es handelt sich um eine schwere, chronische Multisystemerkrankung. Hauptsymptom ist eine ausgeprägte körperliche und geistige Erschöpfung. Typisch ist die sogenannte Post-Exertional Malaise (PEM): eine deutliche Verschlechterung des Zustands schon nach geringer körperlicher oder mentaler Belastung. Weitere Symptome können Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Schmerzen sowie Kreislauf- und Immunsystembeschwerden sein. Die Krankheit kann leicht bis schwer verlaufen – im schlimmsten Fall sind Betroffene dauerhaft bettlägerig. Die Ursachen sind noch nicht vollständig geklärt und es gibt bislang keine Heilung. Die Behandlung kann also nur die Symptome bekämpfen. Quelle: Deutsche Gesellschaft für ME/CFS

Was steckt hinter dem Konzept? Welche Wirkung ist belegt – und welche Risiken gibt es?

Warum könnten Nikotinpflaster bei Long Covid und ME/CFS helfen?

Hinter dem Therapieansatz steht die Hypothese, dass Corona- und andere Viren die Funktion des cholinergen Systems stören. Dabei handelt es sich um einen Teil des Nervensystems, das mit dem Botenstoff Acetylcholin wichtige Körperfunktionen in Gehirn, Organen und Muskeln steuert.

Der Anästhesist Marco Leitzke sieht die "Grundlage der Erkrankung" darin, dass virale Eiweißstrukturen wie das Spike-Protein von SARS-CoV-2 die Rezeptoren für Acetylcholin blockieren. Dadurch wäre die Signalübertragung gestört, was so unterschiedliche Symptome wie Erschöpfung, Muskelschwäche, Konzentrationsprobleme, Atemnot und Herzrasen erklären könne.

Nikotin, so viel ist bekannt, hat eine hohe Affinität zu den Acetylcholinrezeptoren. Es könnte die Blockade auflösen, indem es die Virusproteine von den Rezeptoren verdrängt und diese wieder aktiviert. Indem Nikotin die Acetylcholinrezeptoren auf Immunzellen stimuliert, könnte es zudem die Freisetzung von Botenstoffen (Zytokinen) verringern und damit entzündungshemmend wirken. Seine Hypothese hat Leitzke im Januar 2023 im Fachjournal "Bioelectronic Medicine" publiziert.

Was spricht für diese Hypothese?

In seiner Veröffentlichung berichtet Leitzke über eine Mini-Fallserie mit vier am Post-Covid-Syndrom erkrankten Nichtrauchern und Nichtraucherinnen. Bei ihnen sollen sich bereits innerhalb weniger Tage die Symptome deutlich verbessert haben, teilweise erreichten sie nach ein bis zwei Wochen eine vollständige Erholung.

Ende Februar dieses Jahres legte der Mediziner eine weitere Publikation im Journal "Bioelectronic Medicine" nach: Mit Nuklearmedizinern des Universitätsklinikums Leipzig konnte er den Effekt des Nikotins mithilfe bildgebender Verfahren visualisieren. Dazu führte das Team bei einer Long-Covid-Patientin vor und nach einer zehntägigen Nikotinpflastertherapie einen sogenannten PET-Scan durch (Positronen-Emissions-Tomografie). Dieser zeigte in verschiedenen Körperregionen, auch im Gehirn, dass nach der Behandlung mehr Acetylcholinrezeptoren frei waren als zuvor, die Signalwege des Nervensystems also verbessert waren.

Zudem befragte Leitzkes Team 231 Long-Covid-Patientinnen und -Patienten nach ihren Erfahrungen mit einer Pflastertherapie, die zum Teil auch deutlich länger als zehn Tage dauerte. Fast drei Viertel (73,5 Prozent) berichteten demnach von deutlichen Verbesserungen.

Ist der Nutzen der Nikotinpflaster damit belegt?

Nein. Die Fallserie ist zwar in einem begutachteten Journal erschienen, sie ist mit vier Probanden jedoch viel zu klein, um damit eine abschließende Aussage treffen zu können. Zudem fehlte eine Kontrollgruppe, mit deren Hilfe ein Placebo-Eeffekt herausgerechnet werden könnte. Die Dokumentation durch ein bildgebendes Verfahren kann mit nur einer Teilnehmerin ebenfalls nur ein zusätzliches Indiz liefern, aber keinen Beleg für den Nutzen der Nikotinpflaster.

Der Mediziner Leitzke bezeichnet die Therapie daher ausdrücklich als "nicht evidenzbasiert" und weder medizinische Fachgesellschaften noch die aktuelle ärztliche Leitlinie für die Post Covid-Therapie nennen Nikotinpflaster als Behandlungsoption. Ein Wirkungsnachweis könnte erst in einer aufwendigen klinischen Studie – einem randomisierten, kontrollierten Versuch mit einer größeren Anzahl an Teilnehmenden – erbracht werden. Leitzke würde einer solche Studie gern durchführen, bislang fehlen dafür jedoch die Ressourcen.

Welche Erfahrungswerte gibt es aus der Praxis?

Online haben sich international Patientinnen und Patienten zusammengeschlossen, um einen "Nikotintest" durchzuführen und gemeinsam zu dokumentieren. Ihre Angaben sind unterschiedlich. Während einige von starken Verbesserungen berichten, spürten andere keinen Effekt. Manche brachen den Therapieversuch aufgrund von Nebenwirkungen schnell ab.

Post-Covid-Betroffene beschreiben dabei häufiger positive Effekte als Menschen mit ME/CFS, die zum Teil seit vielen Jahren erkrankt sind. Die meisten dieser positiven Effekte beziehen sich auf neurokognitive Beschwerden ("Brain Fog") und Symptome wie Fatigue, Schlafprobleme und Gleichgewichtsstörungen wie das Posturale Tachykardiesyndrom (POTS). Eine systematische Erfassung der Erfahrungen nach Symptomen liegt bisher nicht vor.

Marco Leitzke selbst steht in Kontakt mit vielen Post-Covid-, ME/CFS- und auch Post-Vac-Betroffenen, die Nikotinpflaster ausprobiert haben. Er sagt: "Bei einem Großteil der Patienten sehen wir Verbesserungen." Bei manchen stellten sich diese allerdings erst nach mehreren Monaten ein – weil, wie Leitzke vermutet, alle der mehreren tausend Acetylcholinrezeptoren im Körper blockiert sein könnten.

Bei anderen Ärztinnen und Ärzten fällt das Fazit divers, aber leicht positiv aus. "Viele Betroffene erreichen bei den kognitiven Funktionen eine deutliche Verbesserung. Der Versuch lohnt sich. Der Zugang ist einfach und man bekommt ein schnelles Ergebnis", meint die Ärztin Claudia Ellert, die selbst unter Corona-Langzeitfolgen litt und sich in der Selbsthilfegruppe Long Covid Deutschland engagiert.

Der auf ME/CFS spezialisierte Wiener Neurologe Michael Stingl sagt: "Bei meinen Patient:innen habe ich bisher meistens nicht die großartigen Effekte gesehen, wie teilweise kolportiert wird. Oft genug gibt es gar keine oder eine geringe Wirkung. Aber es ist ein niedrigschwelliger und relativ harmloser Versuch."

Gemischt sind auch die Erfahrungen des Kardiologen Bernhard Schieffer, Leiter Post-Covid- und Post-Vak-Ambulanz der Uniklinik in Marburg: "Nikotin – sehr niedrig dosiert – ist eine sehr wichtige Achse, vor allem bei Kindern und Jugendlichen mit neuromuskulären Störungen. Bei manchen wirkt das gut, bei manchen gar nicht."

Wie läuft die Therapie ab?

Anders als viele Nikotinprodukte setzt sie nicht auf einen "Kick", sondern auf eine permanente, niedrigdosierte Stimulation. Denn würde der Nikotinspiegel im Blut schnell wieder absacken, so Leitzkes Hypothese, könnten die gerade erst gelösten Viruspartikel wieder an den Rezeptoren ansetzen. Er empfiehlt daher, das Nikotin "sehr niedrig dosiert und langsam einzuschleichen" – und zwar ärztlich abgesprochen, schließlich ist Nikotin keine harmlose Substanz.

Patientinnen und Patienten, die die Therapie ausprobiert haben, setzten schwache Nikotinpflaster ein, die 7 Milligramm Nikotin in 24 Stunden abgeben. Leitzke hält dies für die richtige Zieldosis. "Ich rate allen, nicht darüber hinauszugehen", sagt er – für die ersten Tage aber seien 7 Milligramm noch viel zu hoch. Da es keine ausreichend schwachen Pflaster im Handel gibt, kursieren im Internet Anleitungen, wie Patientinnen und Patienten die Schutzfolie zerschneiden können, sodass zunächst nur ein Viertel oder ein Achtel des Pflasters Hautkontakt haben. Die Gelmatrix des Pflasters selbst sollten sie nicht zerschneiden, da sie das Nikotin dann nicht mehr kontinuierlich und in geringen Dosen abgeben kann. Um Hautirritationen zu vermeiden, sollte die Klebestelle täglich gewechselt werden.

Welche Nebenwirkungen gibt es?

Dass Rauchen krebserregend ist, liegt nicht am Nikotin. Dennoch handelt es sich bei dem Stoff um ein Nervengift, das in niedriger Dosis anregend, in höherer Konzentration aber schädlich sein kann. Den Blättern der Tabakpflanze dient es dazu, Fressfeinde abzuwehren. Mögliche Nebenwirkungen der Nikotinpflaster sind vor allem Übelkeit, Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, Kreislaufprobleme, Reizbarkeit, Schlafstörungen oder Herzrasen. Zudem, so der Anästhesist Leitzke, komme es oft zu einer typischen "Erstverschlechterung" nach dem Start der Pflaster-Therapie, da zunächst Spike-Proteine in die Blutbahn eingeschwemmt würden: "Das kann sich wie ein Infekt anfühlen, ist bei den meisten aber nach ein paar Tagen oder zwei Wochen vorbei."

Bekannt ist, dass Nikotin in Zigaretten, Vapes oder Nikotinbeutel abhängig macht. Bei Nikotinpflastern ist das Suchtpotenzial dagegen gering, eine psychische Gewöhnung bei einer längeren Nutzung allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen. Die selbst von Post Covid Betroffene Neurobiologin Janna Moen, Postdoktorandin an der Yale-Universität, vermutete in einem Interview zudem, dass eine Dauerstimulation der Immunrezeptoren die Immunabwehr zu sehr herunterregeln und die Körperabwehr schwächen könnte. Auch falls Leitzkes Hypothese zutrifft, bliebe also das Problem: Angesichts der fehlenden Studien kann derzeit niemand genau sagen, nach welcher Zeit Patientinnen und Patienten das Nikotin wieder ausschleichen sollten.

Bei Vorerkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, insbesondere auch bei der instabilen Angina Pectoris (einer Vorstufe zum Herzinfarkt) oder unkontrolliertem Bluthochdruck kann Nikotin gefährlich sein; hier sollten sich Betroffene keinesfalls in ein Therapieexperiment mit Pflastern stürzen. Bei Unter-18-Jährigen rät Leitzke zu besonderer Vorsicht, da Nikotin Einfluss auf die Gehirnentwicklung hat. Nicht zuletzt könnten die Pflaster – auch noch unbekannte – Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten haben.

"Ich würde niemandem empfehlen, sich mit Rauchen therapieren zu wollen – das würde auch nicht funktionieren."

Marco Leitzke, Oberarzt der Helios Klinik Leisnig

In jedem Falle warnt Leitzke davor, parallel Cholinesterasehemmer zu nehmen, etwas das unter postinfektiös Erkrankten verbreitete Medikament Mestinon mit dem Wirkstoff Pyridostigmin. Es verstärkt auf andere Art ebenfalls die cholinerge Signalübertragung, was mit dem Nikotin zu einer Überstimulation und – im Extremfall – zu einer cholinergen Krise führen kann. Dabei handelt es sich um eine lebensbedrohliche Komplikation, bei der zu viel Acetylcholin ins Nervensystem gelangt. Dies kann zahlreiche Symptome auslösen und schlimmstenfalls zum Atemstillstand führen.

Empfehlungen der Redaktion

Gibt es Alternativen mit ähnlichem Wirkungsansatz?

Vor allem eines ist keine Alternative: Rauchen. Ganz abgesehen von allen bekannten Gesundheitsgefahren, würden Zigaretten und Vapes zwar kurzfristig für einen hohen Nikotinspiegel im Blut sorgen, der jedoch schnell wieder abfällt – das ist das Gegenteil dessen, was Nikotinpflaster erreichen sollen. "Ich würde niemandem empfehlen, sich mit Rauchen therapieren zu wollen – das würde auch nicht funktionieren", sagt Marco Leitzke deutlich.

Die Hypothese zu den Nikotinpflastern inspiriert derzeit jedoch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, weitere Therapieansätze in Studien zu testen. Der Marburger Kardiologe Bernhard Schieffer etwa geht davon aus, dass niedrig dosiertes Nikotin dem peripheren Nervensystem helfen könnte – aber: "Es gibt bessere Substanzen." Zurzeit bereite er eine Studie mit potenziellen Wirkstoffen vor, die direkt im zentralen Nervensystem wirken und die neuroinflammatorische Prozesse hemmen sowie die Blut-Hirn-Schranke stabilisieren könnten.

Über RiffReporter

  • Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter.
  • Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

Verwendete Quellen

  © RiffReporter