Die Mehrheit der unter 30-Jährigen nutzt mittlerweile Dating-Apps und viele von ihnen sind auf der Suche nach einer sogenannten "Situationship". Was das genau ist und wie sich der Dating-Markt in den letzten Jahren verändert hat, erklärt der Beziehungsexperte Christian Hemschemeier.

Ein Interview

Wie haben sich Dating und der Dating-Markt in den letzten Jahren verändert?

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Christian Hemschemeier: Es zeigt sich meiner Ansicht nach in unserer Gesellschaft ein Trend zu kurzfristigen Verbindungen. Immer mehr Menschen suchen nach Spaß und möchten keine tiefgehenden Beziehungen eingehen. Natürlich trifft dies nicht auf alle Menschen zu, aber es scheint eine Tendenz in Richtung Unverbindlichkeit zu geben. Das zeigt sich nicht nur im Dating-Kontext, sondern auch in anderen Lebensbereichen. Ich sehe das zum Beispiel bei unseren Veranstaltungen: Früher hat sich der Großteil der Teilnehmer bereits mehrere Monate im Voraus angemeldet, heute melden sich viele erst auf den letzten Drücker an.

Woran liegt es, dass immer mehr Menschen unverbindlicher daten?

Meiner Ansicht nach hat die zunehmende Nutzung von Dating-Apps einen negativen Einfluss auf das Datingverhalten. Diese Entwicklung beobachte ich besonders in den letzten Jahren. Dating-Apps gibt es zwar schon sehr lange, sie wurden jedoch anfangs nicht so negativ bewertet wie aktuell. Ich denke, dass das vermeintliche Überangebot auf Dating-Apps diese Entwicklung begünstigt hat. Die Vielzahl an Optionen lässt uns glauben, dass noch jemand Besseres um die Ecke kommen könnte.

Und wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, intensiv online zu daten und mehrere Dating-Prozesse gleichzeitig zu führen, fällt es schwer, sich auf eine einzige Beziehung festzulegen. Viele sind dann in einer Endlosschleife gefangen und finden schneller den Kick in einem neuen Match als in einer tiefergehenden Verbindung. Wenn das glücklich machen würde, wäre es kein Problem. Allerdings sehnen sich viele nach längeren Verbindungen. Doch wenn man sich über einen langen Zeitraum an kurze Dating-Prozesse gewöhnt hat, ist es schwer davon loszukommen. Das ist tatsächlich schwierig.

Oft hört man im Zusammenhang mit unverbindlichem Dating von sogenannten "Situationships". Was ist das genau?

Eine "Situationship" ist eine Mischung aus One-Night-Stand, Single-Sein und Beziehung. Es besteht eine Verbindung zwischen zwei Menschen, die sich mögen. Allerdings muss mindestens einer von beiden noch überlegen, ob er oder sie nicht noch etwas Besseres findet. Die Person sucht nach dem nächsten Kick und möchte sich nicht festlegen, da dies als Einschränkung empfunden wird. Das ist gerade schon sehr präsent in unserer Gesellschaft.

"Das Problem liegt darin, dass oft egobasierte Verhaltensweisen mit 'Situationships' einhergehen."

Vielleicht hat unsere Gesellschaft in den letzten Jahrhunderten einen zu starken Fokus auf Monogamie gelegt. Es ist auch eine gewisse Befreiung, sich dem nicht zu unterwerfen. Das ist in Ordnung, jeder kann seine Partyjahre haben. Das Problem liegt nur darin, dass oft die sogenannten Dating-Trends oder egobasierten Verhaltensweisen mit "Situationships" einhergehen. Hier besteht ein großer Zusammenhang, da sie in einem Umfeld entstehen, in dem man sich nicht festlegt. Oder man legt sich fest und handelt hintenrum genauso. Das empfinde ich als sehr problematisch.

Was genau meinen Sie damit, dass sich Menschen festlegen und hintenrum genauso handeln?

Für viele Menschen scheinen Dating-Apps eine beliebte Freizeitaktivität zu sein, selbst wenn sie in einer Beziehung sind. Dabei sind sie nicht verfügbar für andere und auch nicht für ihren Partner. Es geht oft um das eigene Ego, das momentan stark betont wird. Wenn man nur etwas Lockeres möchte, ist das auch okay. Man kann trotzdem ehrlich sein und erklären, dass man keine Beziehung möchte und andere Menschen daten will. Leider geschieht dies oft nicht, und viele geben vor, etwas anderes zu wollen, um ihre eigenen egoistischen Bedürfnisse zu befriedigen.

Sofern man gegenüber seinen Datingpartnern ehrlich ist, sind "Situationships" doch okay, oder?

"Situationships" können für Menschen, die zu Verlustangst neigen oder emotional instabil sind, eher schädlich sein. Das tut ihnen überhaupt nicht gut. Zudem stellt sich generell die Frage, ob dieses Modell gut für unsere Psyche ist. Erste Studien zeigen, dass Personen, die im Alter von 18 bis 30 Jahren in "Situationships" waren, Schwierigkeiten mit Langzeitbeziehungen haben. Die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Langzeitbeziehung nimmt mit jeder "Situationship" ab.

Was empfehlen Sie stattdessen?

Ich tendiere immer – nicht aus moralischen Gründen – dazu, strikt monogame Dating- und Beziehungssituationen zu bevorzugen, weil sie für die Psyche häufig leichter zu verarbeiten sind. In "Situationships" ist es oft so, dass es einem gut gefällt und dem anderen nicht. Wenn beide damit einverstanden sind, ist das natürlich unkritisch. Doch sobald Gefühle ins Spiel kommen ... und das wissen wir ja: je mehr man sich verliebt, desto mehr sehnt man sich nach Exklusivität - und da wird es problematisch.

"Wieso besteht eine Angst davor, es als Beziehung zu bezeichnen?"

Viele trauen sich nicht zu fragen, was zwischen ihnen ist - aus Angst vor Ablehnung. Sie gehen dann unsichere Verbindungen ein, bei denen einer weniger will als die andere. Eine klare Kommunikation ist an dieser Stelle wichtig, auch wenn viele denken, es sei uncool, das anzusprechen, weil es heutzutage angeblich nur noch "Situationships" gibt. Und wenn man jemanden datet und sich darauf einigt, exklusiv zu sein und sich in einem exklusiven Rahmen kennenlernt, dann kann man es auch "Beziehung" nennen. Wieso besteht eine Angst davor, es als Beziehung zu bezeichnen? Meiner Ansicht nach ist kein zusätzlicher Begriff notwendig. Es wäre gesund zu sagen, wir sind in einer Beziehung und schauen, wie es läuft.

Laut dem jüngsten Tinder-Report sind es vor allem junge Singles zwischen 18 und 25 Jahren, die nach einer "Situationship" suchen. Ist es so, dass junge Menschen sich nicht mehr binden wollen, oder ist es eher normal, dass sie unverbindlichere Beziehungsformen bevorzugen?

Tatsächlich glaube ich, dass es eine größere Variation gibt, und das finde ich nicht schlecht. Es ist interessant zu sehen, wie die junge Generation verschiedene Lebenskonzepte erforscht. Bei meinen eigenen Kindern sehe ich diese Vielfalt – mein Sohn ist seit fünf Jahren in einer festen Beziehung, während meine Tochter ein eher offenes Beziehungsleben führt. Es gibt also mehr Variationen. Wenn ich junge Menschen frage, haben viele das Gefühl, dass es eine Tendenz zu mehr Unverbindlichkeit gibt, nicht unbedingt jede oder jeder, aber im Durchschnitt, würde ich sagen.

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Über den Gesprächspartner

  • Christian Hemschemeier ist Diplom-Psychologe und Beziehungsexperte. Er hat mehrere Bücher geschrieben, sein aktuelles trägt den Titel "Feuer & Flamme: Warum echte Leidenschaft die Polarität von männlicher und weiblicher Energie braucht".

Verwendete Quellen

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