"Sex ist häufig nicht frauenfreundlich", sagt Heike Kleen. Aber wie kann er das werden? Die Autorin erklärt im Interview, warum ihrer Ansicht nach guter Sex und Kommunikation untrennbar miteinander verbunden sind, welchen Missverständnissen sie bei der Recherche für ihr Buch begegnet ist und ob Sex zu Beginn einer neuen Beziehung wirklich besser ist.

Ein Interview

Frau Kleen, Ihr Buch trägt den Titel "ZusammenKommen – Warum Gleichberechtigung sexy ist und Lust auf mehr macht". Inwiefern ist Gleichberechtigung auch sexy?

Heike Kleen: Gleichberechtigung ist sexy, weil es dabei kein Machtgefälle gibt und Menschen sich auf Augenhöhe begegnen. Das wiederum bedeutet, dass vor allem wir Frauen nicht das Gefühl haben, uns unterlegen oder abgewertet zu fühlen. Ich selbst bin noch mit der Prägung aufgewachsen, dass der Mann mehr zu sagen hat und die Frau aus männlicher Perspektive bewertet wird. Umso mehr schockiert es mich auch, heute zu sehen, wie Frauen, etwa in den sozialen Medien, von Männern mit Attributen wie "10 von 10" bewertet werden. Erst wenn wir uns als Menschen sehen und uns auf Augenhöhe begegnen und kommunizieren, können wir auch viel besser über Sex sprechen.

Kommunikation wird noch immer häufig als unsexy dargestellt – aber Sex kann nur dann gut werden, wenn wir unsere Wünsche und Lust offen darlegen und wenn Frauen nicht beschämt oder erniedrigt werden. Wenn wir einmal ganz ehrlich sind, empfinden vor allem Frauen Sex oft als nicht gut. Sex ist häufig nicht frauenfreundlich – daran muss sich etwas ändern. Im Rahmen der Recherche für mein Buch habe ich mit vielen Sexologinnen, Sexologen und Sexarbeiterinnen gesprochen und jede Menge gelernt. Dabei wurde deutlich, dass Frauen Sicherheit brauchen, um wirklich los- und sich in ihrer eigenen Sexualität fallenlassen zu können. Dabei besteht die wohl größte Herausforderung darin, loszulassen.

Sex und Feminismus gehören Ihrer Ansicht nach demnach untrennbar zusammen.

Absolut. Feminismus bedeutet nichts anderes, als dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind und die gleichen Rechte und Pflichten haben – auch wenn auf der Begrifflichkeit für viele Menschen bis heute ein negativer Beigeschmack zu liegen scheint. Doch der Blick auf den Gender Pay Gap, den Gender Care Gap oder den Gender Orgasm Gap zeigt, dass wir längst noch nicht gleichberechtigt sind. Bleiben wir beim Gender Orgasm Gap: Frauen haben im heterosexuellen Sex weniger Orgasmen als beispielsweise im lesbischen Sex. Diese Lücke zeigt, dass Penetrationssex überbewertet wird und es viel mehr um die Begegnung und Kommunikation miteinander gehen sollte.

Wünsche und Bedürfnisse offen zu kommunizieren scheint dennoch weiterhin für viele Menschen ein schambehaftetes Thema zu sein …

So ist es. Allein, dass viele Menschen noch immer von "untenrum" sprechen, zeigt, wie viel Scham schon auf den Begrifflichkeiten liegt. Selbst in der Schule lernen die Kinder und Jugendlichen häufig nicht die korrekten Bezeichnungen für Geschlechtsteile. Wie sollen wir als Erwachsene also kommunizieren, an welchen Körperstellen wir gerne berührt werden wollen, wenn wir sie nicht einmal richtig benennen können oder uns dafür schämen? Vor allem Frauen empfinden mit Blick auf ihren Körper, allem voran die Vulva, häufig Scham. Dabei gibt es hier kein richtig oder falsch. Ob behaart, glatt rasiert oder mit verschiedenen Ausprägungen der Vulvalippen – genau wie Ohren und Nasen sind auch Vulven unterschiedlich. Dennoch wird häufig das vermeintliche Idealbild eines "barbiehaften" Intimbereichs vermittelt, was ich als sehr fragwürdig empfinde.

Welche typischen Missverständnisse rund um Sex und Sexualität sind Ihnen im Rahmen der Buchrecherche begegnet?

Das wohl größte Missverständnis, das auch ehrlicherweise in meinem eigenen Kopf verankert war, war, gewisse Vorlieben und Praktiken als beschämend der gar etwas anormal zu betrachten. Ich habe beispielsweise ein Interview mit einem Dominus geführt und stand der BDSM-Szene aus feministischer Sicht eher skeptisch gegenüber. Am Ende des Treffens saß ich mit drei Domini zusammen in einem Setting voller Peitschen und habe ein intensives Gespräch über toxische Männer, die unterdrückte Lust der Frauen und Prägungen geführt.

Was ist BDSM?

  • Die Abkürzung BDSM steht für Bondage & Discipline (Fesselung & Disziplin), Dominance & Submission (Dominanz & Unterwerfung) sowie Sadism & Masochism (Lust an Schmerz und Hingabe) und ist ein Sammelbegriff für eine Reihe einvernehmlicher sexueller Praktiken und Vorlieben, die auf Macht- und Rollenspielen basieren.
  • Dabei stehen Kommunikation, gegenseitiges Einverständnis und klare Grenzen im Vordergrund, um allen Beteiligten ein sicheres und respektvolles Erleben zu ermöglichen.

Bei meinen Interviews mit Sexarbeitern und Sexarbeiterinnen bin ich wahnsinnig liebevollen und aufgeschlossenen Menschen begegnet, die sich immer wieder Vorurteilen von außen stellen müssen. Rückblickend würde ich sagen, dass das größte Missverständnis wohl darin besteht, zu denken, Frauen und Männer würden grundsätzlich andere Dinge in ihrer Sexualität wollen. Männer reagieren zwar oft stärker auf äußere Reize und bei Frauen kann die Lust eher darin bestehen, begehrt zu werden als zu begehren, aber wir alle sehnen uns danach, um unserer Selbst willen geliebt zu werden. Darum müssen wir den Irrglauben verabschieden, der Feminismus schade den Männern. Feminismus nützt den Männern genauso sehr wie Frauen – auch in sexueller Hinsicht, weil er ihnen den Performancedruck nehmen kann, der ihnen antrainiert wurde.

Welche Mythen gibt es noch?

Dass man nur dann guten Sex haben kann, wenn man einem vermeintlich normschönen Ideal entspricht. Vor allem bei Frauen spielt diese Prägung noch immer eine große Rolle. Dabei ist jeder Körper einzigartig und begehrenswert und die lustvollsten Frauen habe ich bei meiner Recherche im Swingerclub gesehen: Sie waren weder jung noch hatten sie Modelmaße.

Welche Auswirkungen hat das Patriarchat auf die Erwartungshaltung, wie vor allem Männer Sex haben sollten?

Das Patriarchat hat die monogame Ehe hervorgebracht als Absicherung für den Mann, sich seiner biologischen Vaterschaft sicher zu sein. Diese Logik hat die Rolle der Frau über Jahrhunderte massiv eingeschränkt: Sie wurde kontrolliert, musste verfügbar sein und war komplett abhängig. Weibliche Lust hatte in diesem Modell keinen Platz, die Frau wurde auch hier klein gehalten. Noch immer spielt der "Hure oder Heilige"-Aspekt eine Rolle: Eine Frau darf natürlich sagen, wie viele Sexualpartner sie hatte – im Idealfall sollten es aber nicht zu viele sein; aber gar keiner wäre auch schlecht, dann ist sie frigide.

"Auch Frauen untereinander urteilen, denn wir haben die toxische Weiblichkeit im Patriarchat gelernt."

Autorin Heike Kleen über Slutshaming

Männer hingegen werden anders in ihrer Sexualität und Anzahl der Sexualpartnerinnen bewertet und auch Bodyshaming spielt für sie keine so große Rolle – während der Frauenkörper nach wie vor bewertet wird. Dabei sind es nicht nur die Männer, die den Frauenkörper bewerten – auch Frauen untereinander urteilen, denn wir haben die toxische Weiblichkeit im Patriarchat gelernt. In der Folge von Slutshaming ist es für Frauen schwer, sich ihre Lust einzugestehen und diese entsprechend zu kommunizieren.

Was ist Slutshaming?

  • Slutshaming bezeichnet das Abwerten, Kritisieren oder Beschämen einer Frau – meist, aber nicht immer von Frauen – aufgrund ihres tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Verhaltens, ihrer Kleidung oder ihrer sexuellen Selbstbestimmung.

Was braucht es also, um sexuelle Gleichberechtigung zu erlangen?

Vor allem brauchen wir Kommunikation. Frauen brauchen die Sicherheit, ihre Wünsche und Bedürfnisse offen aussprechen zu können ohne direkt geshamt zu werden. Aktuell nimmt die Frauenfeindlichkeit in der Gesellschaft wieder zu. Umso wichtiger ist es, dass die anständigen Männer, von denen es glücklicherweise auch viele gibt, sich gegen die toxischen Männer und vermeintlichen Männlichkeitsideale stellen. Doch leider vermisse ich diese Solidarität an gewissen Punkten. Männer sollten Feminismus nicht erst als Vater einer heranwachsenden Tochter entdecken. Zudem plädiere ich für mehr Aufklärung und dafür, dass Jungen genauso viel emotionale und körperliche Zuwendung, etwa durch Kuscheln, erhalten wie Mädchen – leider ist das noch immer nicht so. Und natürlich dürfen auch Jungen weinen oder einen rosa Rock tragen.

Kann man guten Sex eigentlich lernen?

Ich denke, vor allem als Frau kann man lernen, die eigene Sexualität mehr zu entdecken. Dabei geht es auch darum, unrealistische Bilder von Lust und Sexualität, wie sie etwa in Filmen, Serien oder Büchern gezeigt werden, zu hinterfragen. Insofern geht es darum, solo oder als Paar den eigenen Körper kennenzulernen, ihn liebevoll zu ertasten und anzuschauen oder auch mal Sex-Toys auszuprobieren. Vor allem Frauen, die möglicherweise noch nicht viele Orgasmen erlebt haben, können von Auflegevibratoren profitieren. Auch sexuelle Fantasien sind ein spannendes Feld und es gibt die Möglichkeit, in Form von Büchern oder Audio-Plattformen, unterschiedliche Fantasien zu erfahren. Meiner Meinung nach spielt die Sicherheit immer eine entscheidende Rolle: Fühlt eine Frau sich in einer erotischen Situation sicher und angenommen, fällt es ihr leichter, sich fallenzulassen und hinzugeben.

Frisch Verliebte kennen das Phänomen, vor allem in der Anfangszeit einer neuen Beziehung viel Sex miteinander zu haben. Ist der Sex zu Beginn einer frischen Beziehung besser?

Vor allem bei Beginn einer neuen Partnerschaft sind wir meist so hormondurchflutet, dass die Nähe zueinander entsprechend intensiv genossen und ausgelebt wird. Ob es dabei immer der Sexakt selbst ist, der beide Personen immer zum Höhepunkt bringt, wage ich an dieser Stelle zu bezweifeln. Vielmehr spielt die Zweisamkeit und das Erkunden des anderen Menschen, den man als sexy und aufregend empfindet, eine große Rolle.

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Entsprechend höher ist in dieser Phase der Lustgewinn als bei Langzeitpaaren, die eher routinierten Sex haben. Hier sprechen wir gewissermaßen von Instandhaltungssex, der gefühlt immer am selben Wochentag zur selben Uhrzeit stattfindet und in der Folge oft kein guter Sex ist. Vor allem wenn die Frau nur mitmacht, weil sie denkt, der Mann habe ein Recht auf Sex oder weil sie von ihm abhängig ist.

Wie kann guter Sex auch in Langzeitbeziehungen funktionieren?

Sexologinnen und Sexologen raten dazu, sich zum Sex zu verabreden – aber dann Muster zu durchbrechen. Hier geht es nicht darum, sich ausschließlich zur Penetration zu verabreden, sondern sich Zeit füreinander zu nehmen, sich zu streicheln, zu massieren. Natürlich könnte man auch zusammen etwas Aufregendes erleben: Zur Tantra-Massage gehen, sich einen Porno angucken oder eine kinky Party besuchen – das heißt ja nicht, dass man dort Sex haben muss. Die Herausforderung liegt darin, sich miteinander auf etwas Neues einzulassen. Wenn wir Sex weniger als Penetration, sondern vielmehr als Zusammenkommen empfinden, können wir und unsere Beziehungen nur gewinnen.

Über die Gesprächspartnerin

  • Heike Kleen ist Germanistin und Politikwissenschaftlerin. Sie schreibt als freie Journalistin u.a. für "Spiegel", "Tagesspiegel" und "Zeit". Zudem ist sie TV-Autorin für Talkshows in ARD, ZDF und NDR. In ihren Essays und Sachbüchern beschäftigt sie sich mit der Verbindung von Sexualität, Körperbildern, Rollenmustern und Feminismus.