Eine Frage, mehrere Antworten: Manchmal hilft es, ein Problem aus mehreren Perspektiven zu betrachten. In unserem Format "... und jetzt?" beantworten Menschen mit ganz unterschiedlichen Expertisen die sehr persönlichen Fragen unserer Leserinnen und Leser.

Es gibt mehr als schwarz und weiß, richtig oder falsch. Eigentlich wissen wir das. Doch wir haben uns daran gewöhnt, laute, einfache Antworten zu akzeptieren oder nur die Meinung zu hören, die uns unser Algorithmus vorgibt. Doch die Welt ist komplexer. Und das, was für jede und jeden von uns richtig sein kann, ist es auch.

Hier finden Sie auch frühere Ausgaben von "... und jetzt?"

Unsere Leserinnen und Leser haben uns für dieses Format persönliche oder sogar intime Fragen geschickt, die sie beschäftigen. Wir haben diese Fragen dann mit verschiedenen Menschen besprochen und unterschiedliche Antworten erhalten - die sich mal ergänzen, mal widersprechen.

Eine Frage – verschiedene Antworten

In unserer aktuellen Ausgabe hat sich eine Person Antworten auf die folgende Frage gewünscht:

"Ich - weiblich, 39, Mutter von drei Kindern und seit elf Jahren verheiratet - bin sexsüchtig und schaue mehrmals täglich Pornos. Mein Mann kann nur zwei- bis dreimal pro Woche und fühlt sich danach schlapp. Wie bringe ich ihn dazu, dass er täglich will?"

Die Redaktion hat sich bereits mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigt:

Hier lesen Sie die Antworten, die uns Expertinnen und Experten auf diese Frage gegeben haben:

Tanja Hoyer: 'Sucht' kann für eine Suche stehen

"Gar nicht. Du kannst den anderen nicht verformen oder zu irgendwas zwingen, was er nicht will. Man kann sich fragen, was man selbst tun kann, um sich zufrieden und versorgt zu fühlen.

Tanja Hoyer
Tanja Hoyer © privat

Mir stellt sich auch die Frage, ob du dir selbst das Label 'Sexsucht' gibst oder du eine Diagnose hast. Du könntest schauen, wofür du den Sex brauchst. Häufig ist es so, dass 'Sucht' für etwas da ist oder benutzt wird, wo es eigentlich um eine tiefere Ebene geht. Wofür steht er wirklich? Warum brauchst du ihn so oft?

Spürst du dich nicht gut oder füllst du Trauer, Frust oder Leere damit? Das Wort Sucht könnte zum Beispiel auf einer anderen Ebene für eine Suche stehen."

Über die Gesprächspartnerin

  • Tanja Hoyer führt eine eigene Praxis im Bereich Sexual- und Paarberatung, Körperarbeit und sexueller Aufklärarbeit.
  • Sie leitet Workshops, gibt Vorträge und Interviews zum Thema Sexarbeit, der sie selbst zehn Jahre lang nachgegangen ist.

Michael Kühler: Man muss sich nicht in der Zwangsjacke der monogamen Ehe verheddern

"Die Frage 'Wie bringe ich ihn dazu, mich vollends zu befriedigen?' unterstellt, dass es die Aufgabe der Beziehungsperson wäre. Man könnte aber auch sagen, dass das vielleicht gar nicht die Verantwortung in einer Partnerschaft ist, alle Bedürfnisse zu erfüllen, auch wenn die eigenen Bedürfnisse natürlich legitim sind.

Es bedarf einer offenen Kommunikation und eines Konsenses, wer welche Bedürfnisse in welchem Umfang erfüllen kann und will – und ob es Alternativen gibt. Ein banales Beispiel: Wenn die eine Person Tennis spielen möchte und die andere ist schlecht im Tennis, kann die Partnerperson das Bedürfnis nicht erfüllen – man könnte dann Tennis im Verein spielen, um das Bedürfnis zu befriedigen.

Prof. Dr. Michael Kühler
Prof. Dr. Michael Kühler © Fachhochschule Dortmund/Florian Freimuth

Man kann sich auch hier fragen, darf und soll es ausschließlich die Partnerperson sein oder ist es ihr vielleicht tatsächlich zu viel? Wenn es für alle Beteiligten in Ordnung ist, kann man an andere Beziehungskonstellationen denken. Drastisch ausgedrückt: Man muss sich nicht in der Zwangsjacke der monogamen Ehe verheddern.

Es gibt ja auch Praktiken, bei denen man nicht erwarten kann, dass beide alles gleichermaßen gut finden. Sodass es erst mal eine Frage ist, ob es überhaupt legitim ist, mit dieser Erwartung nach vollständiger Erfüllung der Bedürfnisse an die andere Person heranzugehen.

In der Frage war auch von Sexsucht die Rede. Egal, ob es um Sex, Drogen oder andere Süchte geht – die Frage ist hier, ob dieses Bedürfnis nach Sexualität tatsächlich ein autonomes, ein selbstbestimmtes ist. Oder ob die Person es als fremdbestimmt in sich erlebt. Ich habe dieses Bedürfnis – aber will ich es tatsächlich haben? Bin das ich oder die Sucht, die sich in mir Ausdruck verleiht? Es ist dann zunächst eine Frage für die Person selbst, ob sie mit dem Umfang des Bedürfnisses für sich zufrieden ist - das heißt, ihn als selbstbestimmt erlebt."

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Michael Kühler hat die Professur für "Angewandte Ethik in der gesellschaftlichen Verantwortung" an der Fachhochschule Dortmund.
  • Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Philosophie der Liebe.

Sharon Brehm: Unterschiedliche Sex-Drives sind normal

"Es ist normal, dass zwei Menschen unterschiedliche Sex-Drives haben. Das kommt in jeder Beziehung vor – und das in jeder Frequenz. Die erste Frage, die ich der Leserin stellen würde, wäre: Warum ist es ihr so wichtig, so oft Sex zu haben? Was hofft sie dadurch zu bekommen? Mehr Verbindung, das Gefühl, begehrt oder 'normal' zu sein? Oder darum, dass sich ohne Sex eine große Spannung aufbaut?

Sharon Brehm
Dr. Sharon Brehm © Susanne Schramke

Der zweite Schritt wäre dann natürlich, auch den Partner zu fragen: Warum hat er Sex? Oder was verbindet er damit? Menschen haben ganz unterschiedliche Gründe für Sex. Neben den genannten gibt es auch sowas wie: 'Ich habe das Gefühl, das muss sein.' Oder: 'Eheliche Pflichten.' Oder: 'Wenn ich keinen Sex habe, dann bist du unglücklich.' Gerade die letzten beiden Gründe sind eher Lustkiller.

Worum geht es wirklich? Geht es um Quantität, also darum, wie oft? Oder geht es vielleicht eher um die Qualität? Und wie kann man einen Konsens finden, der beiden guttut? Und ich glaube, am Ende des Tages geht es aber auch darum, den Partner bis zu einem gewissen Grad zu akzeptieren – auch wenn das schwerfällt und man sich vielleicht mehr wünscht. Denn manchmal erlebe ich in der Paartherapie, dass, wenn eine Person die Erwartungen der anderen nicht erfüllt, es auch sehr schnell zu Vorwürfen kommt – oder die andere Person sich sehr schnell unter Druck gesetzt fühlt."

Über die Gesprächspartnerin

  • Dr. Sharon Brehm ist systemische Paartherapeutin und bietet Sitzungen in München sowie virtuell an.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben, darunter den "Spiegel"-Bestseller "wiederherzgestellt".

Paula Lambert: Sich fragen, ob es wirklich um Sex geht - oder etwas ganz anderes

"Jede Form von Sucht ist ein Kompensationsmechanismus. Das bedeutet, dass etwas im Leben nicht ganz da ist, wo es sein sollte.

Paula Lambert
Paula Lambert © Lydia Gorges

An dieser Stelle würde ich zuerst ansetzen. Das Problem ist weniger der Mann, der nicht jeden Tag Sex haben will, sondern eine Frau, die versucht, negative Gefühle, wie Gefühle der Leere oder Gefühle der Sinnlosigkeit, mit irgendetwas zu kompensieren. In diesem Fall mit Sex.

Wenn wir kompensieren, dann meistens, um negative Gefühle wegzudrücken oder um Gefühle nicht fühlen zu müssen, die wir eigentlich fühlen müssten. Das bedeutet, die Fragestellerin hat ein bisschen Arbeit vor sich.

Und was die sexuelle Begeisterungsfähigkeit ihres Partners betrifft: Sie könnte sich mal anschauen, ob seine Bedürfnisse in allen anderen Bereichen in dieser Beziehung überhaupt abgedeckt werden oder nicht. Ob es vielleicht nicht etwas gibt, was sie tun könnte, damit er sich noch wohler, gesehener und vor allem auch geliebter fühlt."

Über die Gesprächspartnerin

  • Die Journalistin und Podcasterin Paula Lambert ist Expertin für Liebes- und Sexfragen.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben und gibt in ihrem Podcast "Paula Lieben Lernen" sowie auf Instagram (@therealpaulalambert) Tipps zu Liebe, Sex und Partnerschaft.

Torsten Geiling: Den Partner zu manipulieren, bringt nichts

"Die eigentliche Frage ist hier: Wie finden wir zueinander? Ich möchte es häufiger, du möchtest es seltener – gibt es eine andere Form für unsere Beziehung?

Torsten Geiling
Torsten Geiling © Torsten Geiling

Es ist wichtig, offen darüber zu sprechen, sich auszutauschen - auch wenn es vielleicht keine perfekte Lösung gibt. Wenn er sagt: 'Ich kann und will nicht öfter', dann sollte man sich fragen: Gibt er mir in anderen Bereichen so viel, dass es mir wichtiger ist, die Beziehung fortzuführen, als sie zu beenden? Oder finde ich einen Weg, meine Bedürfnisse auf eine andere Weise zu erfüllen? Es gibt offene Beziehungsmodelle oder auch Partner, die selbst nur an Sex interessiert sind und ihre eigene Beziehung nicht infrage stellen.

Oder sage ich mir: Zwei- bis dreimal in der Woche habe ich mit meinem Partner Sex, den Rest der Zeit befriedige ich mich selbst? Wenn mein Partner grundsätzlich keinen Sex mehr möchte und ich aber weiterhin ein starkes Bedürfnis danach habe, dann passt das auf Dauer vielleicht nicht mehr zusammen. Kurz gefasst: Reden ist essenziell. Aber den Partner zu manipulieren, um zu bekommen, was man will, funktioniert langfristig nicht."

Über den Gesprächspartner

  • Torsten Geiling ist Kommunikationswissenschaftler und systemischer Coach. Er berät und begleitet Menschen, die sich trennen wollen, vor, während und nach einer Trennung.
  • Er schreibt Ratgeberbücher wie "Ich will mich trennen". Sein neues Buch trägt den Titel "Du wusstest doch, dass ich Kinder habe!".