Eine Frage, mehrere Antworten: Manchmal hilft es, ein Problem aus mehreren Perspektiven zu betrachten. In unserem Format "... und jetzt?" beantworten Menschen mit ganz unterschiedlichen Expertisen die intimen Fragen unserer Leserinnen und Leser. Diesmal geht es um das Thema Seelenverwandtschaft.

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Es gibt mehr als schwarz und weiß, richtig oder falsch. Eigentlich wissen wir das. Doch wir haben uns daran gewöhnt, laute, einfache Antworten zu akzeptieren oder nur die Meinung zu hören, die uns unser Algorithmus vorgibt. Doch die Welt ist komplexer. Und das, was für jede und jeden von uns richtig sein kann, ist es auch.

Hier finden Sie auch frühere Ausgaben von "... und jetzt?"

Unsere Leserinnen und Leser haben uns für dieses Format intime Fragen geschickt, die sie beschäftigen. Wir haben diese Fragen mit verschiedenen Menschen besprochen und unterschiedliche Antworten erhalten, die sich mal ergänzen, mal widersprechen.

Eine Frage – verschiedene Antworten

In unserer aktuellen Ausgabe hat sich Stefan, 47, Antworten auf die folgende Frage gewünscht:

"Charakterlich bin ich bodenständig, loyal und zielstrebig. In meiner Art fühle ich mich flexibel und arbeite wie ein Segler, bin also sehr fleißig. Kann ich eine Partnerin finden, eine Seelenverwandte?"

Hier lesen Sie die Antworten, die uns Expertinnen und Experten auf die Frage gegeben haben:

Michael Kühler: Sich fragen, ob Seelenverwandtschaft wirklich erstrebenswert ist

"Natürlich ist es möglich, dass es Personen gibt, die zu diesem Persönlichkeitsprofil passen. Philosophisch kann man hier über die Idee der Passung sprechen. Sie besagt, dass zwei statische Personen entweder zueinander passen oder eben nicht.

Prof. Dr. Michael Kühler
Prof. Dr. Michael Kühler © Fachhochschule Dortmund/Florian Freimuth

Man unterstellt hier: Ich bin so, jetzt brauche ich einfach nur das passende Puzzlestück, das da andocken kann. Nach Erich Fromm würde man damit allerdings einem grundlegenden Irrtum aufsitzen, weil das hieße, dass man an sich selbst nicht ändern muss, um lieben zu können, sondern einfach die passende Person braucht.

Dieser Idee der Passung steht die Bereitschaft gegenüber, sich in einer Liebesbeziehung zu verändern – miteinander und aufgrund der geliebten Person: Will ich weiterhin genau der Mensch bleiben, der ich bisher war – angesichts der geliebten Person, mit der ich eine neue Geschichte kreieren will, die wiederum Einfluss auf mich und meine Identität hätte?

Zwar steht die eigene Identität nie ein für alle Mal fest, sondern wandelt sich ohnehin. Vielleicht lernt man durch die Partnerperson auch neue Dinge kennen, die einem wichtig werden. Aber es gibt durchaus auch Werte, die derart identitätsstiftend sind, dass man sie nicht verändern möchte. Wenn eine Person etwa streng religiös ist und die andere religiösen Glauben für Mumpitz hält, wird es schwierig, eine Kompromisslösung im Alltag zu finden, auch wenn es nicht unmöglich ist.

Aber zu glauben, man müsse 'einfach' nur eine oder gar die seelenverwandte Person finden und dann würde alles perfekt, könnte sich eben als grundlegender Irrtum entpuppen, der einem das Einlassen auf einen 'nicht perfekten Match' gerade erschwert. "

Zum Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Michael Kühler hat die Professur für "Angewandte Ethik in der gesellschaftlichen Verantwortung" an der Fachhochschule Dortmund.
  • Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Philosophie der Liebe.

Torsten Geiling: Wie Rilke die Fragen leben - und unter Leute gehen

"Es fällt mir ein bisschen schwer, Stefan anhand seiner Beschreibung einzuordnen. Aber ich glaube, dass es für jeden Topf auf dieser Welt einen Deckel gibt. Man muss einfach dem Leben vertrauen. Es gibt diesen schönen Satz von Rilke: 'Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.'

Torsten Geiling
Torsten Geiling © Torsten Geiling

Wenn man sich also auf das Leben einlässt, es genießt und offen bleibt, wird man eher auf Menschen treffen, die zu einem passen, als wenn man ständig verzweifelt sucht. Wenn man sich so beschreibt wie Stefan – als offener Mensch, der loyal ist und wie ein Segler arbeitet – dann gibt es keinen Grund, warum nicht auch eine Frau oder ein Mann darauf anspringen sollte.

Natürlich kann man das auch etwas beeinflussen, denn wenn man nur zu Hause sitzt, wird es schwierig, Leute kennenzulernen. Also: Rausgehen, unter Leute gehen und Kontakte knüpfen - dann klappt's!"

Zum Gesprächspartner

  • Torsten Geiling ist Kommunikationswissenschaftler und systemischer Coach. Er berät und begleitet Menschen, die sich trennen wollen, vor, während und nach einer Trennung.
  • Er schreibt Ratgeberbücher wie "Ich will mich trennen". Sein neues Buch trägt den Titel "Du wusstest doch, dass ich Kinder habe!".

Tanja Hoyer: Auf eine gemeinsame Schwingung achten - und anderes hinten anstellen

"Ja, du kannst natürlich eine seelenverwandte Person finden. Es ist die Frage, ob du glaubst, dass diese Frau so sein muss wie du? Oder ob eine Seelenverwandte auch anders sein kann, mit anderen Interessen oder mit ganz anderen Lebensphilosophien.

Tanja Hoyer
Tanja Hoyer © privat

Ich denke, Seelenverwandtschaft hängt damit zusammen, wie man miteinander schwingt. Ob man ein vertrautes Gefühl hat, wenn man sich gegenübersteht. Wenn du jemanden kennenlernst und du kannst zehn Stunden lang die ganze Nacht mit der Person durchquatschen, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie was mit dir zu tun hat, als jemand, mit dem du am Tisch sitzt, der viele Gemeinsamkeiten mit dir hat und ihr nicht ins Gespräch kommt.

Das hat nicht per se was mit Bodenständigkeit zu tun oder mit gleichen Hobbys, sondern damit, wie ihr miteinander seid. Da kann dann alles andere völlig egal sein. Wenn du eine ähnliche Meinung hast, eine ähnliche Vision von Freiheit, eine ähnliche Gefühlsebene, dann braucht es nicht Bodenständigkeit und Segeln, sondern dann kann es auch Surfen, Reiten und Gärtnern sein oder was ganz anderes. Es hat viel mit der Chemie miteinander zu tun."

Zur Gesprächspartnerin

  • Tanja Hoyer führt eine eigene Praxis im Bereich Sexual- und Paarberatung, Körperarbeit und sexueller Aufklärarbeit.
  • Sie leitet Workshops, gibt Vorträge und Interviews zum Thema Sexarbeit, der sie selbst zehn Jahre lang nachgegangen ist.

Paula Lambert: Das eigene Leben spannend machen - und dabei andere anziehen

"Ja, das kannst du. Es gibt das Gegenstück zu dir, und zwar in vielfältiger Form. Im Grunde kranken viele Kontaktversuche daran, dass die Leute nicht glauben, dass sie ein interessanter Mensch für jemand anderen sein könnten.

Paula Lambert
Paula Lambert © Lydia Gorges

Und es gibt natürlich auch Menschen, die so verschüchtert und sozial isoliert sind, dass da auch nicht so viel Feuer ist. Aber dieses Feuer kann man entfachen, indem man zum Beispiel etwas Neues lernt, ein interessantes Buch liest oder eine schöne Reise macht.

Darum sollte man, wenn man das Gefühl hat, dass man für andere vielleicht nicht so aufregend ist, die Kiste des eigenen Lebensschatzes anfüllen mit Erfahrungen, weil man dann vor allem aufregend für sich selber wird. Und das hat natürlich wieder eine Auswirkung auf die Außenwahrnehmung.

Also: Verschwendet nicht die Zeit mit Herumsitzen, sondern macht euer Leben spannend. Dann kommen die Leute auch. Geht raus, lebt!"

Zur Gesprächspartnerin

  • Die Journalistin und Podcasterin Paula Lambert ist Expertin für Liebes- und Sexfragen.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben und gibt in ihrem Podcast "Paula Lieben Lernen" sowie auf Instagram (@therealpaulalambert) Tipps zu Liebe, Sex und Partnerschaft.

Sharon Brehm: Sich im realen Leben kennenlernen - und der Redaktion schreiben?

"Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Ja, Stefan kann auf jeden Fall jemanden kennenlernen.

Sharon Brehm
Dr. Sharon Brehm © Susanne Schramke

Die Eigenschaften, die der Leser beschreibt, wirken auf dem Papier erst einmal sehr ansprechend, nett und freundlich.

Seine Nachricht klingt im positiven Sinne fast wie eine Aufforderung – wenn es da jemanden gäbe, der Interesse an Stefan hätte, könnte man sich bei ihm melden. Am Ende geht es aber natürlich darum, sich wirklich kennenzulernen – also nicht nur, was auf dem Papier steht, sondern tatsächlich, wie jemand in der Realität ist."

Zur Gesprächspartnerin

  • Dr. Sharon Brehm ist systemische Paartherapeutin und bietet Sitzungen in München sowie virtuell an.
  • Sie hat mehrere Bücher über Beziehungen geschrieben, darunter den "Spiegel"-Bestseller "wiederherzgestellt".

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