ADHS kann das Leben auf den Kopf stellen - besonders in der Mutterschaft, wo Organisation, emotionale Stabilität und ständige Verfügbarkeit gefragt sind. Welche Hürden neurodivergente Mütter meistern müssen und wie die richtigen Strategien aussehen.
Erschöpfung, Reizüberflutung, Schuldgefühle: Viele Mütter kennen diese Gefühle. Doch was, wenn hinter der ständigen Überforderung nicht "nur" Alltagsstress steckt, sondern eine unerkannte Neurodivergenz wie ADHS? Für Betroffene bedeutet das: Selbst kleine Aufgaben können sich wie unüberwindbare Hürden anfühlen.
Autorin Natalia Lamotte, selbst vierfache Mutter und neurodivergent, kennt diese Doppelbelastung. In ihrem Buch "Chaos, Kinder und Konfetti" (Kösel Verlag) teilt sie persönliche Erlebnisse, fundiertes Wissen und praxistaugliche Strategien, um zwischen Chaos, Familienalltag und Selbstfürsorge einen Weg zu finden. Im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news spricht Lamotte, die auch als Doula arbeitet, darüber, warum viele Ratgeber an neurodivergenten Müttern vorbeigehen und wie sich die eigenen Stärken gerade in der Mutterschaft entfalten können.
In Ihrem Buch schreiben Sie sehr persönlich über Ihre späte ADHS-Diagnose. Was hat dieser Moment rückblickend für Sie verändert?
Natalia Lamotte: Ich habe plötzlich viele meiner Herausforderungen besser nachvollziehen und mit einem milderen, freundlicheren Blick auf mich selbst schauen können. Statt wie früher oft viel Scham und Schuld zu fühlen, hatte ich mehr Verständnis und konnte mir selbst besser helfen. Aber nicht nur der Blick auf mich veränderte sich. Das Schöne war, dass ich dadurch auch mein Umfeld und besonders meine Eltern anders sehen konnte. Viele ihrer Verhaltensweisen, die ich früher nicht einordnen oder ihnen vielleicht sogar übelnehmen konnte, ergaben plötzlich Sinn.
Viele Mütter fühlen sich gestresst. Woran erkennt man den Unterschied zwischen "normaler" Erschöpfung und den Anzeichen von unbehandeltem ADHS?
Lamotte: Das stimmt. Viele Mütter sind erschöpft. Kein Wunder, bei all dem Mental und Emotional Load, der ständigen Verantwortung und dem Funktionieren müssen. Der Unterschied ist oft subtil: Während sich "normale" Erschöpfung mit ausreichend Schlaf, etwas Pause oder Unterstützung bessert, bleibt bei ADHS das Gefühl von Überforderung bestehen - egal, wie sehr man sich bemüht.
Listen helfen nicht wirklich, Termine verschwinden trotz Erinnerung aus dem Kopf, Reize werden schnell zu viel und machen manchmal sogar wütend, kleine Herausforderungen bringen einen aus dem Takt, während größere Katastrophen manchmal besonders gut gewuppt werden können. Wenn du also merkst, dass der Stress kein wirkliches Ende nimmt, dass du regelmäßig dieselben Herausforderungen hast, etwa falsch priorisierst, dich immer wieder selbst verurteilst, obwohl du dein Bestes gibst - könnte es sich lohnen, hinzuschauen.
Sie schreiben, dass sich die Belastung durch ADHS in der Mutterschaft potenziert. Was sind typische Alltagssituationen, in denen das besonders spürbar ist?
Lamotte: Mutterschaft bringt von Beginn an enormen Druck mit sich - gesellschaftlich und emotional. Ein Druck, für den es leider meist weder Sichtbarkeit noch echte Unterstützung oder Anerkennung gibt. Gleichzeitig fordert sie ein hohes Maß an Struktur, Organisation und emotionaler Regulation - nicht nur für einen selbst, sondern auch für mindestens ein weiteres Wesen. Pausen werden fremdbestimmt und sind seltener.
Bewährte Bewältigungsstrategien aus der Zeit vor dem Kind - wie zum Beispiel stundenlanges Eintauchen in ein Thema oder Rückzug in völliger Ruhe - funktionieren plötzlich nicht mehr oder sind schlicht nicht mehr möglich. All das wirkt wie ein Verstärker auf bereits bestehende Schwierigkeiten. Was vorher noch irgendwie kompensiert werden konnte, kollidiert jetzt mit dem konstanten Anspruch, verfügbar, reguliert und organisiert zu sein.
Warum funktionieren gängige Erziehungsratgeber und Strukturhilfen für neurodivergente Mütter oft nicht?
Lamotte: Weil sie stillschweigend davon ausgehen, dass man Aufgaben priorisieren, Abläufe immer gleich ausführen und seine Emotionen zuverlässig regulieren kann. Genau das ist bei ADHS, Autismus oder anderen neurodivergenten Ausprägungen oft nicht oder nur bedingt möglich. Stattdessen brauchen wir Strategien, die flexibel genug sind, um sich an schnell wechselnde Energielevel, emotionale Schwankungen und Reizüberflutung anzupassen. Gängige Werkzeuge sind nicht flexibel genug, zu streng und setzen auf Selbstdisziplin, anstatt auf kreative, individuell passende Lösungen.
Als Doula begleiten Sie auch andere Frauen durch Schwangerschaft und Geburt. Merken Sie anderen Frauen schnell an, wenn Sie neurodivergent sind? Wenn ja, woran?
Lamotte: Ich würde ja sagen und gleichzeitig aufpassen, nicht zu vorschnell eine Schublade aufzuziehen. Denn jede Frau ist individuell und Neurodivergenz zeigt sich bei jeder anders. Aber ich nehme wahr, wenn da jemand ist, der mit einem anderen Nervensystem durch diese ohnehin schon sensible Zeit geht, weil bestimmte Bedürfnisse, Reaktionen oder Kommunikationsstile sich wiederkehrend zeigen, wenn man genau hinhört und hinschaut.
Wie begegnen Sie Menschen, die ADHS als "Modediagnose" abtun?
Lamotte: Puh, das ist wirklich ein schwieriges Thema für mich. Ich habe selbst lange gehadert und mich gefragt, ob das vielleicht alles doch nur eine Ausrede ist - genau da trifft das Wort "Modediagnose" einen wunden Punkt und entwertet all den täglichen Struggle, den ich und so viele andere erleben. Was mich besonders ärgert, ist, dass die meisten Frauen - im Vergleich zu Männern - ihre Diagnose erst im Erwachsenenalter bekommen. Das bedeutet, sie leben oft jahrelang ohne das nötige Wissen und ohne passende Unterstützung. Für mich ist das kein Zeichen für einen Trend, sondern eher für einen medizinischen Missstand. Kurz: Gender Health Gap.

Welche konkreten Strategien oder Tools haben sich für Sie selbst im Familienalltag besonders bewährt?
Lamotte: Für mich war ein wichtiger Schritt, zu akzeptieren, dass Tools oder Strategien oft nur phasenweise funktionieren und dass es völlig okay ist, sie irgendwann auszutauschen oder einfach mal zu pausieren. Ich habe verstanden, dass Veränderungen selten linear verlaufen, sondern eher in Schleifen. Wenn eine Herausforderung wiederkehrt, bedeutet das nicht, dass ich versagt habe.
Viel wichtiger ist es, freundlich und geduldig mit mir selbst zu bleiben, die Strategie vielleicht nochmal zu versuchen oder einen neuen Weg zu probieren. Was mir außerdem enorm hilft, ist offene Kommunikation. Seit meiner Diagnose verstehe ich mich selbst viel besser und kann meinem Partner erklären, was mir schwerfällt und warum das so ist. Dadurch kann er mich gezielter unterstützen oder nimmt es zumindest nicht mehr persönlich, wenn bei mir etwas nicht klappt. Im besten Fall können wir sogar gemeinsam über solche Situation lachen.
In welchen Situationen spüren Sie heute nicht nur die Herausforderung, sondern auch die Kraft Ihrer Neurodivergenz?
Lamotte: Gerade in der Mutterschaft - und auch als Doula - sind mein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, meine Feinfühligkeit und mein besonderer Blick für das, was anderen oft nicht auffällt, echte Stärken. Ich nehme Zwischentöne wahr, spüre, wenn etwas unausgesprochen im Raum steht und kann mich gut in andere hineinversetzen. Das hilft mir, nicht nur die Bedürfnisse meiner eigenen Kinder sensibel zu begleiten, sondern auch Frauen und Familien in intensiven Lebensphasen einfühlsam zur Seite zu stehen.
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Auch meine Kreativität sehe ich als positive Eigenschaft, um unkonventionelle Lösungen für chaotische Alltagssituationen zu finden. Zum Beispiel, indem ich Spiele mit meinen Kindern erfinde, die sie zum Zähneputzen bringen oder in Geburtsbegleitungen, wenn ich individuell und spontan auf die jeweilige Situation eingehen kann. Ich glaube fest daran, dass genau diese Fähigkeiten dazu beitragen, Mutterschaft und Geburt menschlicher, gerechter und unterstützender zu gestalten. (ncz/spot) © spot on news