The Big Apple - so nennen die New Yorker ihre Stadt liebevoll. Das pulsierende Leben einer Großstadt, die beeindruckende Skyline, den farbenfrohen Times Square: Das alles wollte Julie anlässlich ihres 27. Geburtstages hautnah erleben. Die Corona-Pandemie verwandelte den Geburtstag der jungen Frau jedoch in einen Albtraum. Denn New York war mit mehr als 140.000 bestätigten Fällen zum damaligen Zeitpunkt (März 2020) das Epizentrum der Krise in den USA.

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"Man kann sich keinen schlimmeren Zeitpunkt aussuchen, in New York zu sein als gerade jetzt. Ich habe erlebt, wie die Stadt sich von Tag zu Tag verändert hat. Die Straßen sind immer noch wie ausgestorben, was man sich bei dieser Stadt nicht vorstellen kann.

Der Times Square ist völlig leer, nur vereinzelt sind Menschen unterwegs, die sehr schnell nur einfach ihre Sachen erledigen wollen. Jeder Zweite trägt eine Maske. Die Geschäfte sind bis auf die meisten Supermärkte alle geschlossen. Die Kassierer sind sehr oft durch eine Glasscheibe vor den Kunden geschützt. Die Grand Central Station, die große Bahnhofshalle, ist völlig leer – das kann man sich gar nicht vorstellen. U-Bahn-Abteile ohne Menschen drin, Spielplätze, Parks und große Plätze sind abgesperrt oder wie im Central Park provisorische Krankenhäuser. Sogar die Körbe von den Basketballplätzen sind entfernt worden, damit die Menschen sie nicht benutzen. An jeder Tür von den Geschäften hängt ein Schild mit dem Wort 'Closed'. Man denkt, die Zeit sei einfach angehalten worden in einer der hektischsten und größten Städte der Welt.

In diesem Podcast hören Sie Julies ganze Geschichte:

Julie strandete während der ersten Welle der Coronakrise in New York.

Logbuch Quarantäne: Folge 5 - Julie in New York

Anlässlich ihres Geburtstages wollte Julie das pulsierende Leben in Manhattan erleben. Die Corona-Pandemie verwandelte den Geburtstag der jungen Frau jedoch in einen Albtraum. Hören Sie in unserem Podcast Logbuch Quarantäne, wie sich Julie in New York trotz geschlossener Hotels durchschlagen konnte.


Wie kommt es dazu, dass ich hier bin? Ich wollte mal in New York meinen Geburtstag feiern, weil ich die Stadt liebe und das Ganze unterschätzt habe, am Anfang, als es noch nicht so schlimm war.

Ich hatte das vergangene halbe Jahr in Orlando, Florida gearbeitet und alles schon geplant. Und leider fiel dann mein Geburtstag mit den ganzen Schließungen und dem Shutdown zusammen, als es so Mitte bis Ende März seinen Lauf nahm.

Ich bin hingeflogen, habe mit Freunden noch gefeiert - und dann stand plötzlich die ganze Welt auf dem Kopf. Die Nachrichten haben sich überschlagen und dann habe ich am nächsten Morgen meine E-Mails geöffnet und gesehen, dass ich von nun an keinen Job mehr habe, da auch alle Freizeitparks geschlossen wurden und ich in Orlando in einem solchen gearbeitet habe.

Mein Geld ging auch langsam zur Neige, das ging ja alles für die Hotels und das Essen in New York drauf. Jetzt musste ich langsam überlegen, was ich machen sollte. Ich hatte nur noch knapp 40 Dollar übrig und hätte natürlich auf der Stelle nach Orlando zurückfliegen können als es noch Flüge gab und dort eventuell bei Freunden wohnen können. Aber da ich ausgerechnet in New York gewesen bin und man wirklich so leicht zum Überträger wird, schien es mir ein bisschen egoistisch zu sein, einfach zurückzufliegen und meine Freunde mit reinzuziehen und sie eventuell zu gefährden. Also habe ich mich dazu entschieden, hier zu bleiben. Das heißt, mit dem Geld wird es kritisch nach den ganzen Ausgaben, mit den 40 Dollar bekommt man ja nicht mal ein Hotelzimmer in New York. Dann stand ich mit meinem Koffer in der leeren Grand Central Station und wusste nicht, wo ich diese Nacht schlafen sollte.

Couchsurfing für ein Dach über dem Kopf

Ein Hotel konnte ich mir nicht leisten, meine Kreditkarte funktionierte nicht mehr. Dann fiel mir ein, es gibt ja diese 'Couchsurfing-App', wo man bei Fremden gratis wohnen kann. Ich hatte das noch nie ausprobiert, schickte dann ein paar Nachrichten ab und hoffte, dass jemand Mitleid hat - und tatsächlich, am selben Abend noch antwortete jemand. Ein junger Mann, der meinte, ich könne gleich vorbeikommen.

Es war schon etwas komisch, man muss den Menschen schon vertrauen. Aber ich war einfach so dankbar, weil es mittlerweile schon spät war – in dem Moment war er meine einzige Hoffnung. Er war sehr nett und ließ mich für zwei Tage bei sich wohnen. Das war auch ganz witzig, wir haben auch zusammen gekocht. Da man niemandem zur Last fallen will, weil es ja doch fremde Menschen sind, bleibt man immer nur wenige Tage da, bevor es dann komisch wird. Zum Glück hatte mir dann auch schon ein weiterer Couchsurfing-Nutzer zugesagt, dass er Platz auf seiner Couch in New Jersey hat. Ich war zwei Tage dort, dann wurde dieser Mann allerdings etwas aufdringlich und somit habe ich mich dann am nächsten Tag verabschiedet und stand wieder auf der Straße mit meinen 40 Dollar.

Flughafen als Zufluchtsort

Ich war dann schon mega-verzweifelt und bin dann einfach zum nächsten Flughafen gefahren, weil der direkt nebenan war in New Jersey, um mich einfach mal hinzusetzen und nachzudenken, was ich die nächsten Tage machen sollte. Ich fühlte mich fast wie die Obdachlosen, die hier auf der Straße sind und die in dieser Krise auch echt vergessen werden. Was machst du, wenn alle Türen zu sind und du dich nicht mal aufwärmen oder hinsetzen kannst, weil alle öffentlichen Plätze abgesperrt sind? Das ist schwierig, wenn jeder sagt 'stay at home', du aber gerade kein Zuhause hast. Einen Flug konnte ich mir auch nicht leisten. Ich saß am Flughafen und wusste nicht weiter.

Nach einer Nacht am Flughafen - es war zwar nicht sehr komfortabel, aber es hätte schlimmer sein können - traf ich über das Internet am nächsten Tag einen augenscheinlich sehr netten Mann aus New Jersey, der mir anbot, für ein wenig im Haushalt ein paar Tage bei ihm wohnen zu dürfen. Allerdings hatte ich dann schon so eine Stimme in meinem Kopf, denn eigentlich ist es ja sehr gefährlich, was ich da machte. Man muss ja den Leuten komplett vertrauen, nicht nur so, sondern man hofft ja auch, dass der Mensch gesund ist in dieser Zeit. Es schien auf den ersten Blick ganz okay. Der Mann schien ganz wohlhabend zu sein und war in seiner Jugend ein erfolgreicher Football-Spieler gewesen.

Er schien schon ganz nett auf den ersten Blick, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, irgendwas stimmt nicht mit ihm. Er bot mir nach einiger Zeit einen sehr fragwürdigen Deal an und ich solle doch darüber nachdenken, gegen eine "Gegenleistung" bei ihm wohnen zu bleiben. Ich habe dann in der ganzen Nacht kein Auge zu getan, weil ich mir nicht wie ein Gast vorkam, sondern wie in einem Gefängnis und war dann trotzdem froh, in dieser Nacht einfach ein Bett und ein Dach über dem Kopf zu haben.

Am nächsten Morgen bat er mich, für ihn einkaufen zu gehen, was ich auch gemacht habe, da er ein gebrochenes Bein hatte und ich nett sein wollte. Als ich an der Kasse stand, fühlte ich mich einfach nur schrecklich und wollte nicht mehr zurück zum Auto, zu jemandem einsteigen, den ich nicht wirklich kenne und der zudem sehr aufdringlich und merkwürdig war. Vor allem wollte ich auch nicht mehr von irgendwelchen Leuten abhängig sein. Hinzu kam, mit jedem Schritt, den du draußen machst, hast du Angst, dich jederzeit anzustecken und versuchst, bloß nichts anzufassen. Nach Orlando konnte ich nicht zurück, konnte mir ja den Flug nicht leisten und in das Appartement, das ich dort hatte, konnte ich auch nicht mehr, weil alles abgeriegelt war.

Unerwarteter Geldsegen für Julie

Während ich so an der Kasse anstand, habe ich dann ganz in Gedanken zufällig meinen Kontostand über eine App auf meinem Handy gecheckt. Ich habe erwartet, dass er immer noch im Minus sein würde, aber plötzlich sah ich eine größere Summe darauf. Da habe ich mich erstmal gewundert. Dann realisierte ich, dass es das Geld war, das ich noch von der Steuererklärung zurückzubekommen hatte. Das war wie eine Erlösung. Ich kam wie eine veränderte Person aus dem Shop heraus und wäre Corona nicht gewesen, hätte ich die Person, die am nächsten zu mir stand, einfach umarmt. Endlich war ich nicht mehr auf die Hilfe anderer Leute angewiesen und musste auch nicht mehr in dieses Haus zurück.

Jetzt sitze ich in einem kleinen Ein-Zimmer-Appartement in New Jersey. Es ist nicht groß, aber das wichtigste ist, ich habe Privatsphäre und ich halte mich online mit Übersetzungsjobs über Wasser, bis ich genügend Geld zusammen habe und umziehen kann in ein Appartement in der City, wo ich dann warten werde bis die Dinge wieder besser werden und alles ein wenig normaler ist.

Eigentlich wollte ich, wenn sich alles wieder normalisiert, wieder zurück nach Orlando und dort weiterarbeiten. Nach Deutschland möchte ich aktuell noch. Ich warte noch, denn jetzt fliegen und meine Familie vielleicht anstecken möchte ich halt auch nicht. Die letzten News die man hier so hört, zeigten, dass die Maßnahmen wenigstens helfen und auch das "social distancing" wirklich hilft. Ich schaue gerade einfach noch ob ich dann nach Orlando fliege oder doch zurück nach Deutschland.

Ich bin dankbar, dass es Menschen gibt, die mir vertraut haben und mir geholfen haben und dafür, dass ich in dem ganzen Chaos gesund geblieben bin. Ich kann es kaum erwarten, meine Familie und Freunde wiederzusehen. Das war das Verrücktesten, was ich jemals erlebt habe."

Hier gibt es weitere Geschichten im Podcast von "Logbuch Quarantäne":


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