Am 24. Juli jährt sich das Unglück der Loveparade in Duisburg zum 15. Mal. 21 Menschen kamen ums Leben, als sich Menschenmassen in einem Tunnel auf dem Weg zum Veranstaltungsgelände stauten. Stefan T., heute 38 Jahre alt, hat damals eine gute Freundin verloren und war selbst vor Ort. Seit dem Unglück steht sein Leben kopf.

Dass Lena (Name geändert) zu den Opfern gehören könnte, ahnte Stefan T. erst abends, als sie nicht zum verabredeten Treffpunkt am Rheinufer kam. Die traurige Bestätigung bekam der gebürtige Wuppertaler erst aus den Medien: Die 25-Jährige gehört zu den 21 Opfern, die das Gedränge auf der Loveparade in Duisburg das Leben gekostet hat.

Mehr als 650 Menschen wurden damals teilweise schwer verletzt, mindestens sechs sollen im Nachgang Suizid begangen haben. 15 Jahre ist das Unglück nun her. Losgelassen hat es Stefan T., heute 38 Jahre alt, nie wieder. Er war damals selbst Besucher der Technoparade und verlor eine gute Freundin.

Hinterbliebener: "Wir waren voller Vorfreude"

Die Bilder des Unglückstags und der Tage danach sind Stefan T. noch präsent: die anfangs ausgelassene Stimmung, die plötzlich immer angespannter wurde. Die Technobeats, die sich mit Geschrei vermischten, später die zahlreichen Medienberichte, Kerzenmeere und Gedenkveranstaltungen.

"Eigentlich wollten wir damals nur einen schönen Nachmittag verbringen, wir waren voller Vorfreude", blickt T. zurück und seufzt. Lena hatte er über das Internet kennengelernt. "Wir haben uns verabredet, damit ich ihr das Tanzen beibringe", sagt er.

T. ist damals Anfang 20 und in der Technoszene unterwegs, besucht Festivals wie das "Mayday" oder das "Syndicate". Er kennt sich mit Jumpstyle aus, einem Tanzstil, der zu Elektro-Musik getanzt wird.

Schicksalhafte Trennung

Stefan T. erinnert sich heute deshalb lieber an diese Bilder: wie er Lena eine CD mit passender Musik gebrannt hat, wie er ihr einzelne Tanzschritte gezeigt hat, oder wie sie einfach gut miteinander klargekommen sind, ohne viel zu sagen.

Am Unglückstag selbst, dem 24. Juli 2010, wollen Lena und Stefan mit ihren jeweiligen Freundesgruppen zur Loveparade. "Wir haben uns vor Ort aber nur kurz gesehen", erinnert er sich. Dann trennten sich die Wege.

Rückblickend hat das Stefans Leben gerettet. Denn Lenas Weg führte am unteren Bereich der östlichen Hauptrampe entlang – dort, wo es nachmittags zu einem starken Gedränge mit massiven Drucksituationen kam.

Fast dreimal so hoher Andrang wie geplant

Stadt und Veranstalter hatten mit maximal 485.000 Menschen über den Tag verteilt geplant, von denen maximal 250.000 Menschen gleichzeitig auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs anwesend sein sollten. Eine Fehlplanung, wie sich später herausstellte: Insgesamt kamen Schätzungen zufolge bis zu 1,4 Millionen Menschen – vor allem die Zuflüsse am Ein- und Ausgang waren falsch eingeschätzt worden.

Das Fatale: Das Gelände war von Zäunen umgeben und hatte nur einen zentralen Ein- und Ausgang – einen Tunnel mit einer Rampe an der Karl-Lehr-Straße. Der war für die aufeinander zuströmenden Menschenmassen viel zu eng, Polizei und Ordner verloren die Kontrolle.

In Wellenbewegungen stürzten immer mehr Menschen übereinander. Stefan T. hatte zu diesem Zeitpunkt einen anderen Weg gewählt – Lena erreichte er durch das überlastete Mobilfunknetz längst nicht mehr.

Stefan T. fragt sich noch heute, wie Lenas letzte Minuten abliefen

"Wie genau Lenas letzte Minuten abliefen, weiß ich nicht. Aber die Gedanken kommen immer wieder", sagt Stefan T. Der überwiegende Teil der Todesopfer wurde erdrückt. Viele versuchten über Stahltreppen zu flüchten, als sich die Menschenmassen auf ein gefährliches Maß von mehr als sechs Personen pro Quadratmeter verdichteten.

Wie lange hat Lena in Panik sein müssen? Wie lange um vielleicht um Luft gerungen? Und vor allem: Warum ausgerechnet Lena? Fragen, die sich Stefan T. immer wieder stellt.

Auch, wenn sich Lena und Stefan nicht lange kannten, der Wuppertaler hat ihr viel zu verdanken, wie er selbst sagt: "Sie hat mir gezeigt, ohne Drogen klarzukommen."

Jüngstes Todesopfer war erst 17 Jahre alt

Die Menschen, die in Duisburg zu Tode kamen, waren zwischen 17 und 38 Jahre alt. Minutiös verfolgte Stefan T. danach die Aufarbeitung in den Medien, kennt heute beinahe jede Doku über das Unglück.

Sie alle bestätigen ihm: Das Unglück hätte verhindert werden können – wären die Warnungen vorab gehört worden. So hatte beispielsweise der damalige Duisburger Polizeipräsident Rolf Cebin die Stadt Duisburg und den Veranstalter Lopavent GmbH bereits im Vorfeld auf die fehlende Eignung des Geländes hingewiesen.

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Auch die über Jahre andauernden Ermittlungen belegen ohne Zweifel: Das Veranstaltungsgelände war nicht geeignet, das Sicherheitskonzept wurde nicht eingehalten, die Steuerung der Besuchermassen am Veranstaltungstag selbst waren unzureichend. So erfolgten beispielsweise geplante Durchsagen nicht, die Zu- und Fluchtwege waren nicht frei, sondern mit Bauzäunen, Fahrzeugen oder Verkaufsständen verengt. Ebenso wurde die zugesagte Zahl an Ordnern deutlich unterschritten.

Augenzeuge der Loveparade 2010: "War ein einziges Chaos"

"Es war ein einziges Chaos", erinnert sich Stefan T. Nach der Loveparade verlor er seinen Halt. Er selbst sagt: "Mein Leben ist aus der Bahn geraten." Große Festivals hat er seitdem nicht mehr besucht, auch den Unglücksort meidet er.

Im Nachgang der Ereignisse brach bei ihm eine Schizophrenie aus, der 38-Jährige hat mehrere Aufenthalte in Psychiatrien hinter sich.

Hinterbliebener fordert Gerechtigkeit

Umso mehr stört es ihn, dass niemand eindeutig zur Rechenschaft gezogen wurde. Die Staatsanwaltschaft leitete unmittelbar ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung ein und kam etwa ein Jahr später zu der Feststellung, dass aus ihrer Sicht die Erteilung der Genehmigung für die Loveparade 2010 rechtswidrig war.

Stefan T. stört es, dass in der Vergangenheit immer wieder versucht wurde, den Besucherinnen und Besuchern eine Mitschuld am Unglück zu geben. So hatte es beispielsweise geheißen, dass Besucher sich vordrängeln wollten und so eine Massenpanik auslösten. Absperrungen sollen dabei überklettert worden sein, Menschen stürzten. Gutachten ergaben später, dass die Stürze nicht todesursächlich waren.

Prozesse ohne Urteil eingestellt

"Ständig hat man sich gegenseitig nur die Verantwortung zugeschoben. Richtig übernommen hat sie niemand", ärgert sich Stefan T. Entschädigungszahlungen – bis zu 70.000 Euro pro Todesopfer – wurden von Hinterbliebenen immer wieder als unzureichend bezeichnet. Der damalige Bürgermeister von Duisburg, Adolf Sauerland, wurde im Jahr 2012 mittels eines Bürgerentscheides abgewählt – er hatte sich erst ein Jahr nach dem Unglück öffentlich entschuldigt.

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Einer der umfangreichsten Prozesse der Nachkriegszeit wurde nach 183 Hauptverhandlungstagen, kurz vor Verjährung, im Jahr 2020 eingestellt. Gegen keinen der zehn Angeklagten – vier Beschäftigte des Veranstalters sowie sechs Mitarbeiter der Stadtverwaltung – erging ein Urteil.

Die Veranstaltungsreihe der Loveparade gibt es heute nicht mehr, seit 2022 findet in Berlin ein Nachfolger namens Rave The Planet Parade statt. Mahn-und Denkmäler erinnern noch an die Opfer von Duisburg – 2017 wurde eine Glastafel mit den Namen der Opfer jedoch von Unbekannten zerstört. "Für mich wird das alles nie vorbei sein", sagt Stefan T. Aber Lena, da ist er sich sicher, die hätte gewollt, dass er weitermacht.