Ein Berliner Palliativarzt steht im Verdacht, mindestens 15 Menschen getötet zu haben. Das ist kein Einzelfall. Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke erklärt, was sogenannte Todesengel antreibt – und warum sie oft lange unentdeckt bleiben.
In Berlin ist ein Palliativarzt angeklagt, der mindestens 15 Menschen getötet haben soll. In weiteren 75 Fällen wird gegen ihn ermittelt. Der 40-Jährige soll seine Patienten getötet haben, während er für das Palliativ-Team eines Pflegedienstes arbeitete. Um die Taten zu vertuschen, legte er mehrere Brände, die schließlich zu den Ermittlungen gegen ihn führten.
Das ist kein Einzelfall: Immer wieder geraten Pflegekräfte oder Ärzte unter Verdacht, sogenannte Todesengel zu sein, die ihre Patienten absichtlich töten. Häufig geschieht das an Orten, an denen das Sterben gewissermaßen zum Alltag gehört, etwa in Kliniken, Pflegeheimen und Hospizen.
Einer der bekanntesten Fälle in Deutschland ist der des ehemaligen Krankenpflegers Niels Högel. Er tötete nachweislich mindestens 80 Menschen. Er beging diese Taten in verschiedenen Kliniken und über Jahre hinweg – bis gegen ihn ermittelt und er verurteilt wurde.
Viele genießen die Aufmerksamkeit
Was treibt solche Täter an? Und warum bleiben sie so lange unentdeckt? Der Kriminalbiologe und Forensiker Dr. Mark Benecke kennt die Motive hinter solchen Taten: Er hat mit mehreren Serienmördern und Todesengeln gesprochen und dabei bestimmte Muster erkannt.
"Viele von ihnen haben ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Aufregung – und wollen ein Teil davon sein", sagt Benecke. "Genau wie bei Brandstifterinnen und Brandstiftern, die das Feuer betrachten. Einige Täter bringen ihre Patienten absichtlich in Gefahr – nur um sie dann selbst wiederzubeleben, so etwa Niels Högel."
Dabei handelt es sich um ein makabres Spiel mit dem Tod, bei dem der Ausgang oft zweitrangig ist. Wichtig ist die Aufregung: Maschinen piepsen, das Personal rennt, es gibt hektische Wiederbelebungsversuche. "In diesen Momenten spüren die Täter die Aufregung", sagt der Forensiker.
Streben nach Macht
Doch nicht immer geht es um Aufmerksamkeit: Hinter vielen Taten steckt auch ein Bedürfnis nach Macht und Kontrolle. "Die Täter oder Täterinnen entscheiden, wer stirbt – und wann", sagt Benecke. "Sie ziehen ihre Energie daraus oder füllen ihre innere Leere damit, dass sie anderen Menschen das Leben rauben."
Manche Täter sind zudem überzeugt davon, dass das Leben ihrer Opfer nichts mehr wert sei – und nutzen die Situation aus. "Ich habe Fälle erlebt, in denen sehr alte, schwerkranke Menschen geheiratet und dann getötet wurden, um ans Erbe zu kommen", sagt Benecke. Andere bestehlen ihre Opfer, bevor sie sie töten.
Gifte, Medikamente und Betäubungsmittel
Wie Todesengel töten, unterscheidet sich von Fall zu Fall – und es sagt viel über ihre Persönlichkeit aus. "Die Vorgehensweise hängt stark von den Fantasien des Täters oder der Täterin ab", sagt Benecke. Manche suchen die große Bühne, wenn etwa im Krankenhaus der Alarm schrillt und Wiederbelebungsversuche starten. Andere dagegen töten Patienten still in ihrem Zuhause.
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Auch die Mittel sind vielfältig, etwa Gifte, Medikamente und Betäubungsmittel. "Es gibt unzählige Möglichkeiten, Menschen in medizinischen Einrichtungen zu schwächen oder zu töten", sagt der Forensiker. Oft spiele der Zufall eine Rolle – oder das, was Täter zuvor gesehen, erlebt oder sich ausgemalt haben. "Eine Frau erzählte mir zum Beispiel, dass sie ihre Opfer mit Medikamenten vergiftet hat, die unter anderem Erbrechen auslösen. Die Spuren störten sie nicht." Ihre Opfer waren sehr alt, deshalb waren nach deren Ableben keine polizeilichen Ermittlungen zu befürchten.
Hohe Dunkelziffer möglich
Beängstigend ist: Viele Täter werden wohl niemals enttarnt. "Wenn jemand nur gelegentlich tötet, fällt das kaum auf", sagt Benecke. Das betrifft vor allem Bereiche und Abteilungen, in denen viele Menschen sterben, etwa in der Palliativmedizin. "Dort ist der Tod alltäglich, was die Aufdeckung erschwert."
Mathematische Analysen könnten helfen, den Tätern auf die Schliche zu kommen. So könnte man prüfen, wann welche Menschen wo und in welcher Zahl sterben – um dann Auffälligkeiten zu untersuchen. Doch solche Methoden scheitern häufig, wegen Bedenken beim Datenschutz, aus mangelnder Vorstellungskraft – oder auch aus der Angst vor dem, was man finden könnte. "Viele Einrichtungen halten es schlicht nicht für möglich, dass das eigene Personal zu so etwas fähig ist", sagt Benecke. "Überwachung wird als übergriffig empfunden."
Verdächtige Spitznamen
Gelegentlich gibt es jedoch Hinweise, makabre Spitznamen zum Beispiel, wenn Pfleger in ihrer Einrichtung als "Todespfleger" bezeichnet werden, weil in ihren Schichten auffällig viele Personen sterben. Doch oft geschieht dem Forensiker zufolge auch dann nichts, sondern die Betroffenen bekommen gute Zeugnisse und werden regelrecht weggelobt – und können ihre Taten dann woanders fortsetzen. "Krankenhäuser und Pflegeheime haben kein Interesse daran, dass Untersuchungen zu Todesfällen sie in ein schlechtes Licht rücken."
So erhielt auch der Pfleger Niels Högel ein sehr gutes Arbeitszeugnis und konnte seine Mordserie zunächst unbehelligt in einer anderen Klinik fortsetzen. "Die Arbeitszeugnisse in Deutschland sind oft kaum aussagekräftig", sagt Benecke. "Niemand will einen Rechtsstreit riskieren. Also wird gelobt und nicht gewarnt."
Und selbst wenn Verdachtsmomente bestehen, schweigen die Einrichtungen meist, wenn sie zum Beispiel von einem potentiell neuen Arbeitgeber zu einer weggelobten Pflegekraft oder einem Arzt kontaktiert werden. "Kaum ein Krankenhaus würde zugeben, dass ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin im Verdacht stand oder einen entsprechenden Spitznamen hatte", sagt Benecke. "Das würde sofort rechtliche Folgen nach sich ziehen – mindestens wegen Beleidigung, oft auch wegen anderer Straftatbestände."
Über den Gesprächspartner
- Dr. Mark Benecke ist Kriminalbiologe und seit vielen Jahren als Gutachter für Polizei und Justiz tätig. Er hält Vorträge, lehrt an Hochschulen im In- und Ausland und ist Autor zahlreicher populärwissenschaftlicher Bücher zu forensischen Themen.