Mafia in Deutschland? Das konnten viele lange Zeit nicht glauben. Doch die Mafia ist schon lange hier – und macht glänzende Geschäfte. In Teil sechs unserer Serie "Mythos Mafia" zeigen wir die Gefahren, die hierzulande von ihr ausgehen, und wie sie hierzulande Fuß fassen konnte.
Als Deutschland realisiert, dass die Mafia nicht nur ein italienisches Problem ist, ist es eine laue Sommernacht. Es ist 2 Uhr morgens am 15. August 2007. Vor dem Restaurant "Da Bruno" in der Duisburger Innenstadt steigen zwei Männer aus einem Auto. Sie schießen mehr als 60 Mal. Sechs junge Männer fallen ihnen zum Opfer. An ihnen wurde Rache für eine Fehde aus ihrer Heimat Kalabrien genommen.
Die Morde schockten ganz Deutschland. Schnell wurde klar, wer verantwortlich ist: die kalabrische Mafia 'Ndrangheta. Italienische Ermittler, die bereits gegen diese Gruppe ermittelten, kamen nach Duisburg, um die deutschen Kollegen zu unterstützen, denn hier wusste man so gut wie nichts über diese Mafia-Organisation.
Die 'Ndrangheta: Unsichtbar, aber eine wirtschaftliche Großmacht

Die 'Ndrangheta hat ihren Ursprung in der Stiefelspitze Italiens. Selbst in Italien war lange Zeit nichts über sie bekannt. Im Rampenlicht standen die Cosa Nostra aus Sizilien oder, nach dem Bucherfolg des Journalisten Roberto Saviano, die Camorra in Neapel und Kampanien.
Experten sind sich jedoch einig: Die 'Ndrangheta ist die mächtigste Gruppe der organisierten Kriminalität in Italien und zählt weltweit zu den größten Akteuren. Sie ist in mindestens 17 europäischen Ländern aktiv. Ihr jährlicher Umsatz wird laut italienischen Berichten auf 50 Milliarden Euro geschätzt.
Der Mafia-Experte und Vorsitzende des Vereins Mafianeindanke Sandro Mattioli betont in seinem Buch "Germafia", dass die Anzahl der Mafiosi in Deutschland jährlich steige, die Mittel, um sich dagegen zu wehren, jedoch mangelhaft oder nicht vorhanden seien. Wie aber kamen die Mafiosi überhaupt nach Deutschland?
Die Mafia in Deutschland – eine Liebesgeschichte?
Die Verbindung der 'Ndrangheta nach Deutschland gibt es laut des Bundeskriminalamtes bereits seit den 1970er-Jahren. 2023 gab es 132 Tatverdächtige aus unterschiedlichen Delikten, die der kalabrischen Mafia zugeordnet werden konnten. Zudem leben offiziellen Angaben zufolge rund 500 Mitglieder der Organisation in Deutschland, italienische Behörden gehen jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus.
Ein Sprecher des BKA bestätigt auf Anfrage unserer Redaktion, dass es sich bei der 'Ndrangheta um die stärkste Gruppierung der italienischen Organisierten Kriminalität in Deutschland handle – insbesondere in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern.
Im italienischen Sachstandsbericht der Direzione Investigativa Antimafia von 2023 wird vermerkt: "In jüngster Zeit hat es den Anschein, dass sich die 'Ndrangheta aus Crotone und Cosenza auch im wohlhabenden deutschen Gebiet niedergelassen hat, um den Wirtschaftssektor zu infiltrieren."
Diese gesellen sich zu den 'Ndrangheta-Gruppen aus Reggio Calabria und San Luca, die bereits seit Jahrzehnten in Deutschland aktiv sind. Die Bundesrepublik sei "dank seiner florierenden Wirtschaft ein Anziehungspunkt für italienische Mafia-Organisationen".
Strategien und Geschäftsmodelle: Zwischen Drogen und Olivenöl
Die Arbeitsbereiche der 'Ndrangheta sind vielfältig – laut dem Bundeskriminalamt (BKA) liegt der Schwerpunkt auf Drogenhandel, vor allem Kokain. Doch auch Geldwäscheaktivitäten konnten nachgewiesen werden, vor allem durch die Nutzung legaler Geschäftsbereiche wie der Gastronomie, dem Immobiliensektor oder der Lebensmittelindustrie.
Nach Angaben des Bundesministeriums des Inneren (BMI) auf Anfrage der Redaktion ist die italienische Mafia hochorganisiert und professionell. Sie agiert wie ein wirtschaftliches Unternehmen. Dennoch sind Bluttaten, wie die in Duisburg 2007, ungewöhnlich, denn sie ziehen ungewollte Aufmerksamkeit auf die Geschäfte der 'Ndrangheta.
Dies bestätigt auch das BKA: im "Regelfall" würde keine Gewalt angewendet und konspirativ agiert. So können kriminelle Aktivitäten wirksam verschleiert werden, Ermittlungen sind dadurch langwierig und kompliziert.
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Das BMI erklärt sich den "Erfolg" der italienischen Mafia durch ihre "hohe Anpassungsfähigkeit an die gegebenen Rahmenbedingungen".
Die 'Ndrangheta agiert vor allem über Netzwerke
Mattioli recherchiert bereits seit 15 Jahren zur Mafia in Deutschland – und kritisiert Missstände. Es gäbe eine schlechte Aufarbeitung von Mafia-Ereignissen in Deutschland. "Wenn der politische Wille da ist, zum Beispiel gegen sogenannte Clankriminalität, dann tut sich was. Aber die italienische Mafia wird immer noch viel zu sehr romantisiert."
Die Deutschen lieben Italien, auch zuhause im italienischen Restaurant um die Ecke. "In kleinen Kommunen, zum Beispiel in Hessen oder Bayern, gehen alle zum Italiener essen: der Gemeinde- oder Stadtrat, Unternehmensführer. Und das wird natürlich auch ausgenutzt, da bilden sich Netzwerke," erklärt Mattioli. "Diese Netzwerke werden blöderweise nur selten beleuchtet, egal, ob sie – mutmaßlich - zu einem Ministerpräsidenten reichen, der Deutschen Bank oder dem FC Bayern."
Mattioli schreibt in seinem Buch, mehrere Kronzeugen hätten übereinstimmend berichtet, dass die ’Ndrangheta für ihre Finanzgeschäfte auf die Mitwirkung von Bankdirektoren angewiesen gewesen sei. Diese hätten Kontrollen unterlassen. Vier von fünf dieser Zeugen nannten in diesem Zusammenhang die Deutsche Bank. Ob tatsächlich Finanzexperten der Deutschen Bank mit der Mafia zusammengearbeitet haben, lässt sich jedoch nicht abschließend sagen.
Doch ihre Netzwerke helfen der 'Ndrangheta sehr, denn so nehmen sie Einfluss auf politische Entscheidungen oder können steuern, wohin Aufträge und Gelder fließen. Laut BMI bestehe dadurch die Gefahr einer "Unterwanderung legaler Strukturen".
Dass es eine gesteuerte Unterwanderung Deutschlands aus Kalabrien gibt, bezweifelt Mattioli aber: "Unterwanderung bedeutet Machtübernahme. Das ist hier kaum das Ziel. Die Clans wollen aber Politik, Wirtschaft und Verwaltung für ihre Zwecke nutzen."
Beim Italiener um die Ecke: Wo deutsche Politik und Mafia aufeinandertreffen
Wie wichtig Restaurants für die lokale Einflussnahme sind, zeigt sich im Fall von Mario L. Der Betreiber mehrerer Pizzerien und Restaurants im Stuttgarter Raum soll bereits in den 90er-Jahren engen Kontakt zum CDU-Politiker und späteren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Günther Oettinger und anderen Politikern gehabt haben.
Oettinger war Stammkunde bei Mario L. und bezeichnete ihn als einen seiner "besten Freunde". In einer Ferienanlage in Kalabrien, die L. gehörte, trafen sich immer wieder Politiker und Geschäftsleute zum Essen und Plauschen. Über welche Abmachungen und Geschäften dort die Hände geschüttelt wurden, ist nicht abschließend geklärt.
2018 wurde Mario L. in Catanzaro, Kalabrien bei einer gemeinsamen Aktion von deutschen und italienischen Ermittlerteams verhaftet, unter anderem wegen der Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung. Zu diesem Zeitpunkt distanzierte sich Oettinger bereits von seinem ehemaligen Freund.
Wieso wurde nicht ausreichend ermittelt?
Auch nach der Verhaftung von Mario L. kam es zu Unstimmigkeiten im Prozess, die bis heute Fragen aufwerfen. So wurde beispielsweise ein Ermittler und Mafia-Experte von dem Fall abgezogen und versetzt. Zudem wurde das Vermögen von L. weder geprüft noch beschlagnahmt - obwohl die italienischen Behörden bei derselben Operation ein Vermögen von etwa drei Millionen Euro sichergestellt hatten.
Der Mafia-Experte Mattioli hatte in einer Fernsehsendung die Behörden beschuldigt, die 'Ndrangheta hier zu schonen - darauf folgte eine Regierungsbefragung im Landtag. In Stuttgart hingegen hieß es, es gebe keine rechtliche Grundlage, das Vermögen zu beschlagnahmen.
Ob sich jemand bewusst dagegen entschieden hatte, dem Geld von Mario L. nachzugehen ist weiterhin unklar. 2022 stellen Abgeordnete der SPD eine Anfrage an das baden-württembergische Innenministerium, um zu erfahren, wieso das Verfahren so schleppend lief – eine Antwort blieb bisher aus.
Das Recht in Deutschland spielt Mafiosi in die Hände
Die Rechtsprechung in Mafia-Delikten scheint in Deutschland komplizierter als in Italien. Dort gibt es den sogenannten "Codice Antimafia", der alle Gesetze zur Bekämpfung der Mafia bündelt. In Italien reicht schon eine Verbindung ab drei Personen, die einer mafiaartigen Vereinigung angehören, für eine mögliche Gefängnisstrafe von zehn bis 15 Jahren.
Die deutsche Justiz begegnet mutmaßlichen Mafiosi mit dem Paragraphen 129 zur Bildung einer kriminellen Vereinigung - doch müssen die Staatsanwälte konkrete Taten nachweisen, welche die Angeklagten eindeutig überführen, Mitglied einer mafiösen Vereinigung zu sein.
Mattioli zufolge ist der Paragraph 129 bis zu diesem Jahr nie angewendet worden. Verurteilt wurden einzelne Taten, doch in rechtlicher Hinsicht waren die Strukturen dahinter nicht von Belang. Im Falle der Mafia, die vor allem strukturell arbeitet, ist dies fatal.
Wie die Mafia heutzutage Schuldgeld erpresst
Die Geschichte von Mario L. ist exemplarisch für die Beziehungen, welche die Mafiosi hierzulande aufgebaut haben und dafür, wie weitreichend diese sein können. Dabei bietet die Gastronomie nicht nur eine Anlaufstelle, um Freundschaften zu knüpfen, sondern auch eine neue Art der Schutzgelderpressung.
Dabei werden Lebensmittel wie Käse, Olivenöl oder Wein in Ungarn und Italien gekauft, ohne dass die Mafiosi dafür den Marktwert – oder überhaupt etwas – bezahlen. Die Ware wird Gastwirten in Deutschland angeboten, auch wenn sie nie eine Bestellung aufgegeben haben. Auf Ablehnung folgen Drohungen oder im äußersten Fall Gewalt. Die Wirte zahlen – aus Angst um ihre Sicherheit.
Zuletzt kam es Anfang April zu Razzien in Deutschland und Italien. Demnach gab es in Deutschland 19 Männer, die sich als falsche Lebensmittellieferanten ausgegeben haben sollen. Unter den Verhafteten war auch ein Polizist, der Informationen an die mutmaßlichen Mafiosi weitergegeben haben soll.
Auf Anfrage unserer Redaktion gab die Staatsanwaltschaft Stuttgart an, dass derzeit noch acht Verhaftete in Untersuchungshaft säßen. Vorgeworfen werden ihnen Betrug, Erpressung und Gewaltdelikte. Unter ihnen befindet sich auch der beschuldigte Polizeibeamte, der Vorwurf gegen ihn lautet Geheimnisverrat. Anklage wurde bisher nicht erhoben.
"Die Mafia höhlt die Gesellschaft aus und ehrliche Geschäfte geraten dadurch in Gefahr."
Mitglieder der 'Ndrangheta sind Geschäftsmänner mit Kalkül, die versuchen, ihre Macht weiter zu verfestigen. Sie begeben sich in die Reichweite von mächtigen Menschen in Politik und Wirtschaft, um Freundschaften zu schließen.
Dieses Bild des Geschäftsmannes lässt sich schwer vereinbaren mit dem allseits bekannten Bild des Mafioso aus Filmen, der sich von Motiven wie Ehre und Familie leiten lässt. Filme wie "Der Pate" führen heute zu einer verzerrten und veralteten Idee, was die Mafia ist und wie sie vorgeht.
Sandro Mattioli warnt in seinen Texten davor, die Mafia auf diese Art zu unterschätzen: "Die Mafia höhlt die Gesellschaft aus und ehrliche Geschäfte geraten dadurch in Gefahr. Es geht nicht nur darum, Drogenhandel zu unterbinden, sondern unsere demokratischen Errungenschaften zu schützen."
Gefahr in Deutschland sollte nicht unterschätzt werden
Das Schwierigste scheint zu sein, die Mafia als reale Gefahr für Deutschland und für unsere Gesellschaft zu erkennen. Mord, Gewalt, Erpressung, das ist es, womit die Mafia heute noch immer assoziiert wird. Es ist das, was Gesellschaft und Justiz aufhorchen lässt, was Schlagzeilen macht. Und es ist das, worüber in Deutschland der Kopf geschüttelt wird, über die Italiener, die im Griff der Mafia gefangen sind.
Für Sandro Mattioli besteht die Gefahr vor allem in der enormen Finanzkraft und wirtschaftlichen Potenz, die die Clans haben und die sie auch in Geschäften mit deutschen Banken einsetzen. Dass diese Macht nicht wahrgenommen wird, hat auch damit zu tun, wie viele Menschen in Deutschland über ihr Land denken: "Wir leben hier in der Annahme, dass sowas wie die Mafia in Deutschland niemals funktionieren würde. Wir denken, bei uns sei alles bestens. Dabei wuchern und prosperieren die kriminellen Strukturen längst!"
Je komplizierter das Geschäft, desto geringer die Aufmerksamkeit
Die 'Ndrangehta hat etwas Entscheidendes verstanden: Je weniger Aufmerksamkeit ihre Geschäfte erregen, je uninteressanter und komplizierter ihre Geschäfte für die Gesellschaft sind, desto besser für sie. Finanzgeschäfte? Wirtschaftskorruption? Das erzählt sich eher schlecht.
Empfehlungen der Redaktion
Durch eben diese Unsichtbarkeit wird die Mafia noch gefährlicher. Denn oft ist den Menschen nicht bewusst, dass sie grade die Hand eines Mafioso schütteln, um einen Deal abzuschließen. So arbeiten und interagieren Menschen mit der Mafia, die sich dessen gar nicht bewusst sind – und halten das System damit ungewollt am Laufen.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Sandro Mattioli
- "Germafia. Wie die Mafia Deutschland übernimmt" von Sandro Mattioli, Westend Verlag
- Anfrage an das Bundeskriminalamt
- Anfrage an das Bundesministerium des Inneren
- Anfrage an die Staatsanwaltschaft Stuttgart
- Zeit.de: Deutscher Polizist wird bei Mafia-Razzia festgenommen
- lespresso.it: La ’ndrangheta incassa 50 miliardi l’anno. Ma c’è ancora una Calabria che ogni giorno resiste
- DPolG.de: Konsequente Bekämpfung der Mafia erforderlich
- daserste.de: Video: Unter Mafia-Verdacht: Oettingers Pizza-Connection
- Bericht DIA 2023 (italienisch)
- bka.de: Bundeslagebild 2023: Organisierte Kriminalität - Bericht
- Deutscher Bundestag zur Anti-Mafia-Gesetzgebung in Italien: https://www.bundestag.de/resource/blob/581216/WD-7-195-18-pdf.pdf