Vor 40 Jahren gelingt zwei Familien eine spektakuläre Flucht aus der DDR: Mit einem selbstgebauten Heißluftballon überfliegen sie die deutsch-deutsche Grenze. Doch bis es so weit war, müssen sie Dutzende brenzlige Situationen überstehen. Gleich mehrfach droht ihr Fluchtvorhaben aufzufliegen.

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Eine Zeitschrift aus dem Westen bringt die rettende Idee: Günter Wetzels Schwägerin hat sie 1978 beim Besuch im thüringischen Pößneck im Gepäck. Das Magazin berichtet über ein Ballonfahrertreffen im US-amerikanischen Albuquerque.

Als der 24-Jährige die Bilder betrachtet, sieht er sich schon im Heißluftballon über die Grenze schweben. Er erzählt seinem Kollegen Peter Strelzyk davon. Mit ihm hat er schon oft darüber geredet, die DDR zu verlassen. Nur wie, das wussten sie nicht. Bis jetzt.

Bloß: "Wir hatten überhaupt keine Ahnung, wie man einen Heißluftballon baut", erinnert sich Günter Wetzel im Gespräch mit unserer Redaktion. Aber Physik und Mathe waren sein Ding – auch wenn er nicht studieren durfte. Er arbeitete stattdessen als Maurer, als Forstarbeiter, als Lastwagenfahrer. Wetzel hatte jedenfalls das Gefühl, "dass es funktionieren könnte". Bedenken verdrängten die beiden. "Wir wollten uns nicht noch mehr unter Druck setzen."

Ballonflucht für den Sohn ein "großes Abenteuer"

Sie weihen ihr Partnerinnen Petra und Doris ein. Zu acht – mit ihren jeweils zwei Söhnen, zwei, fünf, elf und 15 Jahre alt – wollen sie das Land verlassen.

Es folgen Schätzungen, Berechnungen, Tüfteleien. Stunden an der Nähmaschine. Sie schneiden Stoffbahnen zu und nähen die Teile zusammen. Sie experimentieren mit Brennern, bauen eine Gondel aus Blech und Wäscheleine.

Sie brauchen ständig neue Ideen, Versuche, Notlügen – und es gibt herbe Rückschläge und Enttäuschungen: ein Brenner, aus dem "ein Höllenfeuer" kommt statt einer Flamme. Stoff, der zu luftdurchlässig ist.

Ein aus Angst vor Beobachtern zu eilig abgebrochener Testlauf, nach dem der Ballon noch aus dem Auto-Anhänger heraushängt und auf der Fahrt zerfetzt wird. Sie geben nicht auf, sie probieren es weiter. Doch als auch der zweite Ballon nicht fliegt, steigen Petra und Günter Wetzel entmutigt aus.

Für den 15-jährigen Frank ist das alles ein "großes Abenteuer". Der ältere Sohn der Familie Strelzyk weiß Bescheid, hilft mit beim Ballonbau. Seinen jüngeren Bruder, gerade elf, weihen die Eltern noch nicht ein: Er spielt mit den Kindern des Nachbarn, der bei der Stasi arbeitet. "Ich wusste sehr genau, dass ich mit niemandem über die Fluchtpläne reden darf", sagt Frank Riedmann heute.

"Meine Eltern hatten es deutlich gesagt: Wenn das rauskommt, gehen wir ins Gefängnis – und ihr ins Heim." Belastet habe ihn die Geheimniskrämerei aber nicht so sehr. "Wir waren so eingebunden – und mal ehrlich: Die Geschichte war doch so absurd, die hätte uns sowieso keiner geglaubt."

Erster Fluchtversuch scheitert

Familie Strelzyk will also weitermachen, auch ohne die Wetzels. Doch ihr Fluchtversuch in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 1979 scheitert. Nach einer guten halben Stunde landen sie: im Sperrgebiet auf DDR-Boden, nicht in der Bundesrepublik. "Wir hatten viele Schutzengel, dass wir da wieder weggekommen sind, ohne festgenommen zu werden", sagt Riedmann.

Doch der Heißluftballon bleibt zurück. Die Stasi sucht die Besitzer wegen einer "schweren Straftat" – unter anderem über eine Zeitungsanzeige, in der zurückgelassene Gegenstände wie Kompass und Taschenmesser abgebildet sind. Die Familie weiß: Jetzt wird es eng, jetzt muss es schnell gehen.

Auch Familie Wetzel erfährt von dem missglückten Fluchtversuch. Petra und Günter sind sich sicher, dass die Stasi auch ihnen auf die Schliche kommen wird. Deswegen steigen sie wieder ein.

Die Familien sind allerdings überzeugt davon, dass Kaufhäuser nun den Verkauf von größeren Mengen Stoff melden müssen. Sie reisen durch die ganze DDR, um überall kleine Bahnen zu besorgen. In wenigen Wochen bauen sie einen neuen Heißluftballon.

Der Schock: Der Brenner entzündet den Stoff

16. September 1979: Für einen Testlauf war diesmal keine Zeit. Nach 1:30 Uhr beginnen die Vorbereitungen auf einer Lichtung im Wald zwischen Oberlemnitz und Heinersdorf. Der erste Schock: Der Brenner entzündet den Stoff des Ballons. Glücklicherweise haben die Flüchtenden einen Feuerlöscher dabei. Jedoch entdecken sie ein weiteres Loch.

Dann die Erleichterung: Wenn sie ununterbrochen heizen, steigt der Heißluftballon trotzdem. Auf 2.000 Metern Höhe schiebt der Wind die Flüchtenden zügig voran. Die Stimmung ist angespannt, aber ruhig. Keine Hektik, keine Panik, sagt Wetzel. Plötzlich richtet jemand Scheinwerfer auf den Ballon. Wieder hat die Besatzung Glück: Die Strahlen reichen nicht bis zu ihnen.

Es sind die Scheinwerfer am Grenzübergang Rudolphstein/Hirschberg, doch das erfahren sie erst später. Dann der nächste Schock: Das Gas ist aufgebraucht, der Ballon geht runter. Nach 28 Minuten – der misslungene Fluchtversuch der Strelzyks hatte 34 Minuten gedauert.

Die Familien landen gut, laufen Richtung Süden. Je nachdem, ob sie schon in der Bundesrepublik oder noch in der DDR sind: weg von der Grenze – oder direkt in die Arme der Grenzer. Kleine Felder, die in der DDR unüblich sind, und ein Schild an einem Hochspannungsmast deuten darauf hin, dass sie es geschafft haben.

In der Scheune eines Bauernhofs sehen sie eine landwirtschaftliche Maschine. Jetzt ist klar: Sie sind im Westen. Zwei Polizisten kommen angefahren. Obwohl sie es schon wissen, fragen die Männer noch einmal nach: "Sind wir hier im Westen?" Vor Freude und Erleichterung zünden sie eine Silvester-Rakete.

"Endlich ist all die Anspannung von uns abgefallen", erzählt Frank Riedmann, der heute 55 ist. All der Druck, den die Erwachsenen lange verdrängt hatten: ein Besuch der Stasi bei seinen Eltern, die Angst, nach dem missglückten Fluchtversuch erwischt zu werden. Und die Hoffnung, nun endlich das Leben führen zu können, das sie sich vorstellten.

Familien gehen auseinander

Schon kurz darauf trennen sich die Wege der beiden Familien, obwohl eine so bewegende Geschichte sie verbindet: Günter Wetzel muss ins Krankenhaus, weil er sich bei der Landung einen Muskelfaserriss zugezogen hat. Familie Strelzyk findet sich in einem riesigen Medienrummel wieder.

Später geht es um Befindlichkeiten. Darum, wer wie viel zu der spektakulären Flucht beigetragen hat. Peter Strelzyk kann dazu heute nichts mehr sagen – er ist vor zwei Jahren verstorben. Dass sich die Männer nicht mehr versöhnt haben, bedauern beide, Günter Wetzel und Strelzyks Sohn Frank.

Stasi auch im Westen

Die Stasi holt die Familien auch im Westen ein, schickt etwa "Besuch" bei Wetzels vorbei oder lässt ihnen einen Brief schreiben. Einen Freund von Peter Strelzyk steckt sie wegen Fluchthilfe ins Gefängnis. Als er Anfang 1982 frei kommt, darf er in den Westen ausreisen.

Strelzyk gibt ihm sofort einen Job. Sein Elektro-Geschäft geht allerdings pleite. Jahre später bekommt Strelzyk Einsicht in seine Stasi-Akte – und erkennt: Der Freund war ein Verräter. Strelzyks gehen davon aus, dass der enge Vertraute den Laden im Auftrag der Stasi ruiniert hat.

Mitte der 80er-Jahre gehen Peter Strelzyk, seine Frau Doris und ihr jüngerer Sohn in die Schweiz. Doch die Eltern haben Heimweh, ziehen nach der Wende zurück nach Pößneck in ihre alte Wohnung. In das Haus, in dem sie gemeinsam mit Familie Wetzel am Heißluftballon bauten. Eine "heikle Konstruktion", wie Ballonsportler ihnen später sagen. Doch Wind und Mut haben sie in die Freiheit getragen.

Fluchtgeschichte wurde verfilmt

Zweimal ist die Geschichte der Familien Wetzel und Strelzyk verfilmt worden. Zunächst 1982 in Hollywood unter dem Titel "Mit dem Wind nach Westen". Im vergangenen Jahr brachte der deutsche Regisseur Michael "Bully" Herbig den Film "Ballon" in die Kinos.

Die Ballongondel und ein Teil der Ballonhülle sind im Berliner Mauermuseum am Checkpoint Charlie zu sehen. Auf der Webseite www.ballonflucht.de erzählt Günter Wetzel ausführlich seine Version der Geschichte.

Doris und Peter Strelzyk haben das Buch "Schicksal Ballonflucht. Der lange Arm der Stasi" geschrieben. Es ist 1999 im Quadriga-Verlag erschienen.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Günter Wetzel
  • Gespräch mit Frank Riedmann
  • www.ballonflucht.de
  • Spiegel; Ausgabe 36/1999: "Was habe ich verbrochen?"
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