Massenproteste, politische Gefangene und Exilbewegungen prägen die belarussische Politik seit 2020. Fünf Jahre nach den großen Demonstrationen zeigt sich, welche Chancen und Grenzen die Demokratiebewegung noch immer hat.
Am 9. August 2020 brach in Belarus ein politischer Damm. Innerhalb weniger Stunden nach Schließung der Wahllokale füllten sich die Straßen mit Menschen – empört über ein offenbar gefälschtes Wahlergebnis zugunsten von Alexander Lukaschenko, wütend über die willkürliche Festnahme oppositioneller Kandidaten und zermürbt von einer Pandemie, gegen die der Staat kaum Schutz bot.
Frauen führten Protestmärsche an, Studenten legten Hörsäle lahm, Arbeiter und Künstler verweigerten die Arbeit. Diplomaten wurden entlassen, Ärzte und Lehrer veröffentlichten offene Briefe. Die Antwort des Regimes: Schlagstöcke und Folter.
Und noch davor erwuchs ein politisches Märchen. Jenes von Switlana Tichanowskaja – einer Hausfrau, die anstelle ihres inhaftierten Mannes in den Präsidentschaftswahlkampf zog. Es endete nicht im Sieg, sondern im erzwungenen Exil.
Das alles ist fünf Jahre her. Aber was hat sich seither in Belarus verändert? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie hat sich die politische und gesellschaftliche Lage in Belarus entwickelt?
Stefan Meister ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er sagt, die wichtigste Veränderung ist, dass Belarus Teil des russischen Krieges gegen die Ukraine geworden ist.
"Wir sehen eine Militarisierung von Staat und Gesellschaft", erklärt er auf Anfrage unserer Redaktion. Die Zivilgesellschaft habe keinen Raum, sich zu organisieren oder zu artikulieren, viele Menschen seien im Gefängnis oder im Exil. "Praktisch die gesamte Opposition ist im Ausland. Das Regime von Lukaschenko ist konsolidiert und regiert mit massiven Repressionen."
Hat es nach den Massenprotesten bleibende Strukturen oder Netzwerke der Demokratiebewegung gegeben?
Meister erklärt, dass es keine relevanten Strukturen mehr im Land gebe, die für Lukaschenko gefährlich wären; die Gesellschaft habe sich angepasst. Anders sah es 2024 noch der damalige Stellvertreter der im Exil lebenden Switlana Tichanowskaja.
Valery Kaveleuski hatte im April 2024 im Interview mit unserer Redaktion gesagt, der Krieg in der Ukraine schaffe einen sehr fruchtbaren Boden für politische Veränderungen in Belarus. "Die demokratische Bewegung in Belarus wächst", sagte er damals. Sie sei dynamisch, bewege sich vorwärts.
Die "Deutsche Welle" schreibt in einer Analyse, von den Massenprotesten 2020 seien nicht einmal mehr digitale Spuren übrig: Unabhängige Medien wurden geschlossen oder ins Ausland gedrängt, ihre Webseiten blockiert. Viele Menschen löschten eigene Fotos und Videos, um sich und andere zu schützen. Auch Artikel, Berichte, Archive und Social-Media-Beiträge verschwanden.
Wie handlungsfähig ist die Exil-Opposition, insbesondere um Switlana Tichanowskaja?
In den vergangenen Monaten hat das Regime in mehreren kleinen Gruppen politische Gefangene freigelassen – insgesamt über 300 Menschen. Unter ihnen war im Juni 2025 auch Sergej Tichanowski, Blogger und Ehemann der Führerin der belarussischen demokratischen Kräfte, Swetlana Tichanowskaja.
Diese, erklärt Meister, verliert zunehmend an Einfluss in Belarus. "Es ist schwierig, dort sichtbar zu sein, aber im Gegensatz zur russischen Opposition ist die belarussische weitgehend geeint." Sie habe nur sehr begrenzte Ressourcen und kaum Zugänge im Land. In Warschau etwa demonstrierten erst vor wenigen Tagen Hunderte Anhänger der Exil-Opposition gegen den Diktator im eigenen Land. Auch Tichanowskaja war dort.
Welche politische Bedeutung hat die jüngste Freilassung von Sergej Tichanowski?
Als Tichanowski festgenommen wurde, übernahm seine Ehefrau die Verantwortung. Nicht nur symbolisch, sondern auch ganz faktisch: Sie trat an seine Stelle im Präsidentschaftswahlkampf, nachdem Sergej Tichanowski inhaftiert worden war, und wurde zur führenden Stimme der Demokratiebewegung in Belarus.
Nach seiner Freilassung stehen sie nun nicht nur emotional wieder vereint da – sondern auch politisch. In einem Interview mit der "Zeit" betont Sergej Tichanowski seine Entschlossenheit, "das Regime zu brechen", und bleibt aktiv für die demokratische Zukunft des Landes engagiert. Er werde zudem nicht versuchen, die Macht innerhalb der Opposition wieder an sich zu reißen.
Auch Experte Meister sagt: Seine Freilassung stärkt Switlana Tichanowskajas Rolle. "Er war eine wichtige Figur in der Opposition im Wahlkampf, sie ist zu einer politischen Figur gewachsen, als Paar können sie eine zentrale Rolle in der Opposition spielen."
Über soziale Medien und verschiedene Protest-Aktionen im Land versucht dem Experten zufolge die Opposition, weiterhin Einfluss zu nehmen. Doch er sagt auch: All das ist begrenzt und hat nicht wirklich Einfluss auf politische oder gesellschaftliche Entwicklungen.
Warum sitzt Lukaschenko trotz der Proteste noch fest im Sattel?
Zentral, erklärt Politikwissenschaftler Meister, ist die Kontrolle des Sicherheits- und Staatsapparates durch Lukaschenko. Zudem hat sich der Diktator seit mehr als 30 Jahren einen Staat aufgebaut, der die politische Repression fast schon perfektioniert hat.
Es gibt keine Reisefreiheit, keine Pressefreiheit, das Internet und der öffentliche Raum werden kontrolliert, Organisationen verboten. Proteste – wenn es sie überhaupt irgendwo noch gibt – werden gewaltsam niedergeschlagen, Widersacher müssen mit langjährigen Haftstrafen rechnen. Einer der größten Faktoren allerdings ist Russland.
Politisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch ist Lukaschenko auf die Unterstützung durch Moskau angewiesen. Ohne den großen Nachbarstaat gäbe es Lukaschenko laut Meister nicht mehr. "Die Wirtschaft ist fast vollständig auf Russland ausgerichtet, der russische Sicherheitsapparat aktiv in Belarus."
Hat sich Lukaschenkos Herrschaftsstil seit 2020 verändert?
Meister nennt es Schaukelstuhlpolitik. Alexander Lukaschenko habe über Jahre hinweg zwischen Russland und dem Westen hin und her geschaukelt. Diese Politik, sagt Meister, kann der belarussische Machthaber nicht mehr betreiben. Im Prinzip sei er vollständig ins russische Camp gewechselt, weshalb seine Abhängigkeit von Russland extrem gewachsen ist.
Allerdings sei die Freilassung von einigen Oppositionellen ein Anzeichen dafür, dass er austestet, ob eine Annäherung an die USA unter Trump wieder möglich ist. Zwar werden bis heute Belarussen im Zusammenhang mit den Protesten von 2020 verfolgt.
Seit Jahresbeginn sind bereits mehr als 1.700 Menschen in einem etwaigen Zusammenhang festgenommen worden. Dennoch hat das Regime in den vergangenen Monaten auch mehr als 300 politische Gefangene entlassen – darunter auch Tichanowski, der exakt an jenem Tag freikam, an dem der US-amerikanische Sondergesandte Keith Kellogg das Land besuchte.
Und Lukaschenko versucht nicht einmal, erpresserische Taktiken zu vertuschen. Er sei bereit, "mehrere tausend Menschen" zu übergeben, erklärte Lukaschenko am 31. Juli. "Wenn Ihr sie wollt, nehmt sie! Was gibt es im Gegenzug?", sagte er in einer Rede vor belarussischen Diplomaten.
Welche Erwartungen hat die belarussische Demokratiebewegung an den Westen?
Der belarussische Politikwissenschaftler Artyom Shraibman erklärte gegenüber der "Deutschen Welle", der Westen könnte stärker für inhaftierte Belarussen eintreten, etwa durch Verhandlungen, Anrufe, Besuche oder diplomatische Zugeständnisse, um Gefangene zu befreien.
Eine radikale Veränderung erhofft er sich dadurch zwar nicht, wohl aber eine Verbesserung der Situation einzelner Opfer, abhängig vom Engagement des Westens.
Meister sagt, vor allem hofft die Opposition darauf, vom Westen nicht vergessen zu werden und dass es weiter Unterstützung für die Opposition und Zivilgesellschaft gibt. Er sagt auch, in Belarus erwarte man zudem, dass der Westen die Sanktionen und damit den Druck auf Lukaschenko aufrechterhält.
Welche Hebel hätte die EU oder Deutschland, um wirksamer zu unterstützen?
Belarus, sagt der Experte, ist keine wirkliche Priorität für Deutschland und die EU. "Es ist relativ einfach und mit niedrigen Kosten verbunden, das Land zu sanktionieren und zu isolieren."
Empfehlungen der Redaktion
Allerdings verbindet man die Sanktionen nicht mit Angeboten. Und das, sagt Meister, könnte mehr Möglichkeiten bieten, mit dem Regime in Verhandlungen zu kommen – auch wenn es risikoreicher wäre. "Lukaschenko möchte sich ja nicht in Russland integrieren, aber aktuell hat er keine andere Wahl."
Verwendete Quellen
- dgap.org: Zentrum für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien
- dw.com: Massenproteste in Belarus: Was sich seit 2020 verändert hat
- deutschlandfunk.de: Hunderte Anhänger der Exil-Opposition von Belarus demonstrieren gegen Diktator Lukaschenko
- youtube.com: Лукашенко - американцам: "Хотите - забирайте. Что взамен?"