Eine Gruppe junger Neonazis soll Anschläge auf Flüchtlingsheime geplant haben. Was steckt dahinter? Wie groß ist diese Bewegung und wie ist das Problem anzugehen? Fragen an die Rechtsextremismus-Expertin und Linken-Politikerin Martina Renner.
Sie sollen Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und Andersdenkende geplant haben, sie hatten sich Waffen und Sprengstoff besorgt und manche von ihnen waren noch minderjährig: Die Bundesanwaltschaft hat in dieser Woche eine mutmaßliche rechtsextreme Terrorzelle zerschlagen. Fünf Personen zwischen 14 und 18 Jahren wurden festgenommen, drei Verdächtige saßen schon zuvor in Untersuchungshaft. Die Gruppe nannte sich "Letzte Verteidigungswelle".
Martina Renner ist Expertin für Rechtsextremismus und saß bis vor kurzem für die Linke im Bundestag. Sie spricht im Interview über Parallelen und Unterschiede zu den 90er Jahren und Lehren für Gegenwart und Zukunft.
Frau Renner, droht uns ein Rückfall in die sogenannten Baseballschläger-Jahre, als in den 90ern schon einmal Neonazi-Gruppen reihenweise Gewalttaten verübten?
Martina Renner: In den vergangenen Jahren sind in der Tat mehrere extrem gewalttätige neonazistische Jugendgruppen entstanden. Die "Letzte Verteidigungswelle" ist nur eine davon. Im vergangenen Jahr ist das Thema etwa durch Störaktionen bei Christopher Street Days in die Öffentlichkeit geraten. Das ist eine neue Mobilisierung einer altbekannten Ideologie. Trotzdem taugt der Blick zurück in die 90er Jahre aus meiner Sicht nicht so sehr. Wir müssen uns fragen, welche Bedingungen jetzt zur Entstehung dieser Gruppen geführt haben.
Welche sind das?
Diese Jugendlichen oder jungen Erwachsenen sind in einer Zeit groß geworden, in der die AfD als erfolgreiche rechtsextreme Partei die politischen Debatten in diesem Land ein Stück weit bestimmt. Das unterscheidet sie von Generationen junger Neonazis zuvor. Sie haben das Gefühl, auf einer Welle zu reiten – auch durch die Vorfälle auf Sylt oder das sogenannte Geheimtreffen zur Remigration bei Potsdam.
Die AfD ruft doch nicht dazu auf, Flüchtlingsunterkünfte anzugreifen.
Aber sie vernetzt sich mit Theoretikern der Remigration oder mit Menschen, die schon durch Gewalttaten aufgefallen sind. Die dadurch verbreitete Botschaft lautet: Wer nicht freiwillig das Land verlässt, wird vertrieben. Ein rassistisches Klima herrschte auch in den 90er Jahren – aber damals gab es eben nicht diesen starken parlamentarischen Arm.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien bei der Radikalisierung? Auch die hat es in den 90er Jahren noch nicht gegeben.
Rechtsradikale Gewalt ist kein reines Internetphänomen. Diese Gruppen treffen sich, verabreden sich zu Gewaltstraftaten, besorgen Tatwerkzeuge, spähen Opfer aus. Natürlich spielt das Internet aber eine Rolle. Die Gruppen organisieren sich bundesweit zum Beispiel über Chatgruppen. Es handelt sich nicht um lokale Gruppen in Ostdeutschland – es gab ja jetzt auch Festnahmen in Hessen und Verbindungen der "Letzten Verteidigungswelle" mit Neonazis in Bayern. Außerdem finden im Internet eine massive rassistische Stimmungsmache und eine Verächtlichmachung von queeren Menschen statt.
Der Soziologe Matthias Quendt spricht gar von einer militanten Massenbewegung. Sehen Sie die auch?
In den 90er Jahren haben sich große Menschenmengen an Angriffen auf Asylbewerberheime wie in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen beteiligt. Da wurden viele Menschen von Neonazis aufgestachelt und sind mitgezogen. Das sehen wir aktuell nicht – das ist ein Unterschied zu den 90er Jahren. Allerdings fehlen uns Erkenntnisse darüber, wie viele Personen in den verschiedenen Gruppen aktiv sind. Wenn man sich auf Instagram oder in anderen sozialen Medien umschaut, hat man schon das Gefühl, dass sich gerade sehr viele, vor allem junge Menschen von rechtsextremer Ideologie ansprechen lassen.
"Vielleicht fehlt manchmal auch die Vorstellungskraft, dass man schon in so einem jungen Alter so strategisch und arbeitsteilig vorgeht."
Haben die Sicherheitsbehörden nach Ihrer Einschätzung diese Szene im Blick?
Die Ermittlungsbehörden arbeiten der Entwicklung immer ein Stück hinterher. Der "Letzten Verteidigungswelle" wird ein Brandanschlag auf ein Kulturhaus in Altdöbern in Südbrandenburg zugerechnet. Da waren die Ermittlungsbehörden zuerst der Meinung, das Feuer sei wegen eines technischen Defekts ausgebrochen. Andere Taten wurden dieser Gruppe nicht zugeordnet, weil sie in anderen Bundesländern stattgefunden haben und die Behörden die Zusammenhänge nicht erkannt haben.
Dass die "Letzte Verteidigungswelle" ins Visier der Ermittler geriet, ist offenbar auch Journalisten von "Stern" und RTL zu verdanken, die in der Gruppe zum Teil verdeckt recherchiert haben.
Ja, die Ermittlungsbehörden wurden dadurch aufgeschreckt und haben dann nachgelegt. Die bundesweite Vernetzung der Gruppe war den Behörden am Anfang nicht bewusst. Dabei ist davon auszugehen, dass diese Gruppen nicht nur in ganz Deutschland Kontakte haben, sondern mindestens auch in Österreich und der Schweiz. Sie verstärken sich gegenseitig und ahmen sich nach. Vielleicht fehlt manchmal auch die Vorstellungskraft, dass man schon in so einem jungen Alter so strategisch und arbeitsteilig vorgeht. Wenn neue Phänomene auftauchen, brauchen die Ermittlungsbehörden oft zu lange, sich darauf einzustellen.
Die Landesregierung in Brandenburg hofft auf eine abschreckende Wirkung der jüngsten Festnahmen auf die gesamte Szene. Kann das funktionieren?
Nein, das glaube ich nicht. Trotz der Ermittlungserfolge und Prozesse der vergangenen Jahre ist die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten gestiegen. Ich sehe da keine Abschreckung. Man muss sich auch die Ideologie von Gruppen wie der "Letzten Verteidigungswelle" bewusst machen: Wer wirklich an den Untergang des deutschen Volkes glaubt, wer sich als Soldat gegen Islamisierung versteht und als Teil eines größeren Netzwerks fühlt, der lässt sich von solchen Festnahmen nicht aufhalten.
Wie muss die Politik aus Ihrer Sicht auf diese Entwicklung reagieren?
Wir brauchen mehr Kompetenz in den Ermittlungsbehörden. Kriminalisten und Kriminalistinnen müssen wissen, wie sich die gewaltbereite rechte Szene in ganz Deutschland und auch in Europa entwickelt. Angesichts der angespannten Personalsituation muss auch die Polizei priorisieren: Auf welche Aufgaben muss sie sich konzentrieren?
Rechtsextreme Überzeugungen verschwinden dadurch aber nicht.
Deswegen ist Präventionsarbeit so wichtig. Die Schulen sind jetzt alarmiert. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Beratung und Unterstützung. In der vergangenen Wahlperiode ist ein Demokratiefördergesetz im Bundestag nicht zustande gekommen – dabei wäre das nötig gewesen. Wir müssen uns nicht nur fragen, wie mit einzelnen Neonazis umzugehen ist. Es gibt andere Mehrheiten in Schulklassen oder in Sportvereinen – aber sie müssen sich in der Auseinandersetzung mit rechten Ideologien sicher fühlen. Es kommt da auf eine starke Zivilgesellschaft an.
Über die Gesprächspartnerin
- Martina Renner wurde 1967 in Mainz geboren und studierte in Bremen Philosophie, Kultur- und Kunstwissenschaft und Biologie. Renner war für die Linke Mitglied des Thüringer Landtags und danach von 2013 bis 2025 des Deutschen Bundestags. Dort saß sie im Innenausschuss und in zwei Untersuchungsausschüssen. Renner befasst sich auch als Autorin von Aufsätzen und Büchern mit dem Thema Rechtsextremismus.