• Luisa Neubauer ruft als Vertreterin von "Fridays for Future" zum globalen Klimastreik auf und kritisiert die deutsche Politik dabei aufs Schärfste.
  • Bundeskanzler Olaf Scholz wirft sie vor, seinen Job in der Klimakrise nicht zu machen. Aber auch die gesamte Ampel-Koalition werde immer mehr zur "Stillstandskoalition".
  • Im Interview spricht sie außerdem über die Verantwortung, die wir alle tragen, sowie die Kritik und den Hass gegen ihre Person.
Ein Interview

Frau Neubauer, am Freitag (3. März) ruft "Fridays for Future" zum globalen Klimastreik auf. Sie schreiben in Ihrem Aufruf dazu: "Es gibt eine breite gesellschaftliche Mehrheit für mehr Klimaschutz – doch auf den großen Durchbruch warten wir bis heute." Wie enttäuscht sind Sie?

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Luisa Neubauer: Ich bin nicht enttäuscht von den vielen Menschen, die in den letzten Jahren laut geworden sind. Die klimabewegte Zivilgesellschaft hat jeden Grund, selbstbewusst in die Welt zu blicken. Wir haben Unfassbares erreicht. Wir haben erfolgreich die Bundesregierung verklagt. Wir haben politische Veränderungen erwirkt. Wir haben erreicht, dass die Klimaziele verschoben wurden.

Aber ein großer Durchbruch war das noch nicht?

Dramatisch ist, dass die Bundespolitik trotz der Klimakrise nicht in einen Modus der Krisenbewältigung geschaltet hat. Bei anderen Krisen hat sie das gemacht – aber das Klima ist immer noch Beiwerk. Ökologische Fragen werden immer noch gegen andere politische Themen ausgespielt.

Hätten Sie das bei der amtierenden Ampel-Koalition anders erwartet?

Viele Menschen haben sehr große Hoffnungen in diese sogenannte Fortschrittskoalition gesetzt. Doch sie wird immer mehr zu einer Stillstandskoalition. In einer Zeit eskalierender Krisen ist Stillstand immer Rückschritt. Nach den Enttäuschungen durch die große Koalition sind viele Menschen in diesem Land davon ausgegangen, dass die ökologischste aller Regierungen das Mindestmaß von dem umsetzt, was sie selbst versprochen hat. Es geht uns ja nur darum, dass die Regierung ihr eigenes Versprechen hält, wozu sie auch das Bundesverfassungsgericht aufgefordert hat.

Ist die Klimaschutzbewegung bisher zu vorsichtig mit der Koalition umgegangen?

Ich glaube nicht, dass wir uns ein Aufmerksamkeitsdefizit attestieren müssen. Ich habe den halben Januar im Schlamm in Lützerath verbracht. Wir haben im September letzten Jahres 300.000 Menschen mobilisiert, wir werden jetzt wieder mobilisieren. Auch die Umfragen sprechen für uns. Ein großer Teil der Deutschen möchte nicht, dass Kohleminen erweitert werden. Ein großer Teil der Deutschen möchte mehr Klimaschutz, gerade die Jüngeren. Die Regierung hat jeden Grund zu handeln.

Seit einigen Monaten spielt Klimaschutz wieder eine größere Rolle in der öffentlichen Diskussion. Allerdings oft im Zusammenhang mit Konflikten – zum Beispiel bei der Räumung von Lützerath oder bei den Aktionen der "Letzten Generation".

Politik und Wirtschaft haben sich Klimaschutz bisher offenbar so vorgestellt: Wir nehmen uns alle an der Hand – und wenn wir glauben, heute ist ein guter Tag, dann bewegen wir uns einen Millimeter in irgendeine Richtung und feiern das als Fortschritt. Das passt nicht nur zur ökologischen Realität. In den großen Transformationen, die jetzt anstehen, wird es auch mal knallen. Mal leise, mal laut. Denn das passiert, wenn wir mit dem Status quo brechen. Es ist gut und wichtig, dass jetzt Konflikte an die Oberfläche kommen. Wir müssen sie austragen. Die Bundesregierung will sich vor Konflikten verstecken, indem sie Kompromisse schließt und sie als Fortschritt verkauft. Sie müsste anerkennen, dass sich Dinge substanziell ändern müssen: unsere Art des Wirtschaftens, der Fortbewegung und so weiter.

Zurzeit wird aber mehr über Protestformen als über die Klimakrise gesprochen.

Es ist etwas verlogen, sich darüber zu beklagen. Bevor über die Protestformen gesprochen wurde, wurde auch nicht wirklich über die Klimakrise gesprochen. Jeder Mensch, der über die Klimakrise sprechen will, ist herzlich willkommen, das zu tun.

In den vergangenen Wochen standen Aktivistinnen und Aktivisten der "Letzten Generation" in der Kritik, weil sie eine Flugreise gemacht haben. Sie haben die Empörung zurückgewiesen und in einem Podcast gesagt: "Lieber Doppelmoral als keine Moral." Bereuen Sie diesen Satz?

Den würde ich heute nochmal so sagen. Ich glaube, es macht einen Unterschied: Wenn ein Konzern die Öffentlichkeit über die eigenen Klimaschutzbemühungen falsch informiert, ist das etwas anderes als Menschen, die nicht hundertprozentig nachhaltig leben. Die Welt, in der wir leben, ist nicht nachhaltig – deswegen gibt es Stand heute auch kein 100-prozentig nachhaltiges Leben.

Wie finden Sie es, wenn Sie als Vertreterin von "Fridays for Future" jetzt ständig auf die Aktionen der "Letzten Generation" angesprochen werden – also auf eine andere Klimagruppe?

Es ist eine große Bereicherung für dieses Land, dass wir mehr Klimaschutzbewegungen werden. Wir können uns jetzt auf unsere Aufgaben konzentrieren – zum Beispiel, indem wir ausbuchstabieren, wie eine Klimawende in Deutschland aussehen muss. Wir haben Zeit, uns mit Kirchen, Gewerkschaften, dem Gesundheitswesen zusammenzutun und generationenübergreifend das zu machen, was eigentlich eine Regierung machen sollte: Menschen begeistern und mitnehmen für echten, gerechten Klimaschutz.

Was "Fridays for Future" macht, wäre aus Ihrer Sicht also eigentlich die Aufgabe des Staates?

Das wäre der Job eines Bundeskanzlers in der Klimakrise. Was ist denn der Kern der Politik? Menschen für notwendige Maßnahmen zu begeistern, um Schaden vom Volk abzuwenden. Wenn man anerkennt, dass die Klimakrise die größte Bedrohung für die Demokratie, die Wirtschaft, den Frieden auf der Welt ist – dann müsste ein Bundeskanzler im Jahr 2023 Klimaschutz zur Chefsache machen.

Sie haben einmal gesagt: Wir können gar nicht so klimaschonend leben, wie es nötig wäre. Was meinen Sie damit?

Der Braunkohletagebau im Rheinischen Revier ist die größte CO2-Quelle Europas. Das muss man sich mal vorstellen – welche Bürde wir damit dem Kontinent aufhalsen! Durch die Energieversorgung mit Kohlekraftwerken und Gaspipelines, durch die Straßen und Autobahnen, durch einen komplett sanierungsbedürftigen Gebäudesektor wird unfassbar viel CO2 pro Kopf ausgestoßen. Ich könnte mich ganz still auf mein Sofa legen, kein Schlückchen Wasser trinken, keinen Apfel essen, nicht einmal aus dem Alten Land – trotzdem würde viel zu viel CO2 auf meinem Konto stehen. Weil ich in einem Land lebe, das so viel CO2 und so viele Ressourcen verschleißt.

Also trägt der einzelne Mensch gar keine Verantwortung für besseren Klimaschutz?

Doch, natürlich. Wir haben alle eine Verantwortung. Wir leben in einem Land, das viel verschmutzt und dabei noch sehr privilegiert ist. Wir dürfen uns aber nicht nur als Konsumentinnen und Konsumenten verantwortlich fühlen. Wir sind alle politische Wesen. Wir haben alle eine Stimme, die wir erheben können. Wir sind alle Vorbilder für andere Menschen.

Sehen Sie da eine Bereitschaft in der Gesellschaft, sich zu verändern?

Ganz massiv. In den letzten Jahren ist ein großer Komplex rund um die "Fridays for Future"-Bewegung entstanden, die "For Future"-Gruppen: Zusammenschlüsse von Architektinnen, Psychologen, Lehrern, Eltern. Sie alle wollen sich nicht auf die Rolle des Verbrauchers oder der Verbraucherin reduzieren lassen, sondern fragen sich: Was ist denn eigentlich die Rolle von Architekten, Lehrerinnen oder Krankenschwestern in der Klimakrise? Sie alle wollen nicht so tun, als könnten sie nichts tun.

Politisch scheint sich der Einsatz für Klimaschutz aber nicht immer auszuzahlen. Sie wohnen in Berlin. Da hat die CDU gerade einen Wahlsieg eingefahren – wohl auch, weil sie Wahlkampf gegen ein 500 Meter kurzes Stück Straße gemacht hat, das für Autos gesperrt ist.

Menschen gegeneinander auszuspielen, löst kein einziges Problem, sondern schafft nur mehr Gräben. Auch eine Mutter, die aufs Auto angewiesen ist, hat vielleicht ein Kind, das sicher in der Stadt Fahrrad fahren soll. Auch jemand, der zur Arbeit pendeln muss, hat Interesse an sauberer Luft. Eine Krankenschwester, die mit dem Auto in die Klinik fährt, begreift als Erste, dass die Hitzetoten im Sommer keine Zufälle sind. Diejenigen, die davor warnen, dass Klimaschutz die Gesellschaft spaltet, ziehen doch selbst mit dem spaltenden Schwert durch die Gesellschaft.

Sie stehen als Kopf der Klimaschutzbewegung im Fokus der Öffentlichkeit. Nervt Sie das manchmal?

Es gibt Gott sei Dank inzwischen immer mehr Menschen, die sich öffentlich mit Klimafragen beschäftigen. Das ist ein großer Gewinn. Ich freue mich da über jede Person, die in den öffentlichen Raum tritt. Gleichzeitig finde ich es auch nachvollziehbar, dass Menschen andere Menschen interessanter finden als Organisationen.

Sie bekommen dafür aber auch viel Kritik und Hass zu spüren. Belastet Sie das?

Natürlich belastet mich das. Ich kann meine Arbeit nur machen, weil ich mich von Werten leiten lasse, auf mein Gewissen höre. Ich lasse mich von der Welt und der Wirklichkeit berühren und setze auf die Empathie von anderen Menschen. Ich bin aber auch in einer privilegierten Position und habe tolle Anwälte an meiner Seite.

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