Die Schreckensmeldungen aus dem Gazastreifen reißen nicht ab. Täglich gibt es neue Berichte von getöteten Zivilisten. Warum das Leiden bislang kein Ende findet.
Der Krieg im Gazastreifen befindet sich in seinem zweiten Jahr. Es ist ein Krieg, in dem die Zivilbevölkerung von Anfang an eine Verfügungsmasse der Konfliktparteien war. Die radikalislamische Hamas nutzt Zivilisten und Geiseln als Schutzschilde. Die israelische Armee schießt immer wieder auch auf wehrlose Palästinenser und verwehrt ihnen lebenswichtige humanitäre Hilfe.
Die neueste Eskalation der Gewalt: Schüsse der israelischen Armee bei Essensausgaben der Gaza Humanitarian Foundation (GHF). Dabei wurden am Sonntag laut palästinensischen Angaben 67 Menschen getötet.
Vier Verteilzentren für zwei Millionen Menschen
Die Organisation der humanitären Hilfe durch Israel und die GHF gerät zunehmend in die Kritik. Während der Waffenruhe wurden Hilfsgüter noch an 400 im Gazastreifen verteilten Orten ausgegeben. Seit die Hilfe zentral über die GHF organisiert wird, gibt es nur noch vier.
Das sorgt dafür, dass die Lieferungen viele Menschen nicht erreichen und es bei den wenigen Verteilstellen immer wieder zu Chaos und Todesopfern kommt. Der Leiter des UN-Hilfswerks für die Palästinenser (UNRWA), Phillipe Lazarrini, hat die Zentren deshalb als "sadistische Todesfallen" bezeichnet.
Ofer Waldman leitet seit kurzem das Israel-Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv und kritisiert die GHF scharf: "Vier Verteilzentren für zwei Millionen Menschen. Wie soll das funktionieren?", fragt er im Gespräch mit unserer Redaktion.
Die GHF kann aktuellen Schätzungen zufolge höchstens 15 Prozent der Bevölkerung versorgen. Hilfsorganisationen schlagen schon länger Alarm. Die Mangelernährung der Kinder im Gazastreifen hat sich laut Unicef allein im Vergleich zum Februar um 180 Prozent erhöht. Laut Berichten sind 17.000 Kinder seit Beginn des Krieges getötet worden. Das entspricht 28 Kindern pro Tag – also einer kompletten Schulklasse.
Christine Kahmann, Sprecherin von Unicef, kritisiert die israelische Regierung scharf: "Faktisch besteht weiterhin eine Blockade von Hilfsgütern. Die wenigen Hilfsgüter, die durchgelassen werden, reichen bei Weitem nicht aus."
Mehrheit der Israelis will den Krieg beenden
Die Kritik aus dem Ausland wächst. 25 Länder, darunter Großbritannien, Frankreich und Italien, fordern ein sofortiges Kriegsende. Das Leiden der Zivilbevölkerung in dem Palästinensergebiet habe "ein neues Ausmaß erreicht", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der Staaten.
Auslöser des aktuellen Kriegs war der 7. Oktober 2023, als die Hamas Israel überfiel, dort mehr als 1.100 Menschen tötete und 250 Geiseln in den Gazastreifen verschleppte. 50 davon befinden sich noch immer in der Gewalt der Terrororganisation.
Auch die israelische Bevölkerung wolle den Krieg beenden, erklärt Ofer Waldman: "Aber nicht vordergründig wegen des Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung, sondern wegen der israelischen Geiseln und der toten israelischen Soldaten."
Das liegt auch an der Berichterstattung in Israel, in der das Drama um die israelischen Geiseln deutlich präsenter ist. Dort tragen hauptsächlich zivilgesellschaftliche Organisationen das Leid in Gaza in die öffentliche Debatte.
Die israelische Regierung versucht diese Stimmen mit einem neuen Gesetz zu unterdrücken. Es erlegt politischen Organisationen höhere Steuern und Gerichtskosten auf. Die Regeirung sieht sich dabei im Recht, weil sie das Land hinter dem Kampf gegen die Hamas hinter sich versammeln will.
Die Hamas ist auch nach eineinhalb Kriegsjahren nicht besiegt und hält immer noch israelische Geiseln in ihrer Gewalt. Daran erinnert auch Michael Rimmel, der das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel leitet: "Man darf nicht vergessen: das Ende des Krieges hängt nicht nur von Israel ab, sondern auch von der Hamas", sagt Rimmel im Gespräch mit unserer Redaktion.
Geiseldeal als Knackpunkt
Beide Seiten stehen bei den Verhandlungen über eine mögliche neue Waffenruhe und einen Gefangenenaustausch unter Druck: "Die Hamas will die Geiseln eigentlich nicht zurückgeben. Sobald die letzte Geisel frei ist, hat die Hamas keine Möglichkeit mehr, Israel unter Druck zu setzen", erklärt Rimmel.
Auf der anderen Seite muss Regierungschef Netanjahu auf seine rechtsextremen Koalitionspartner achten. Diese wollen keine palästinensischen Gefangenen freilassen, das wäre aber wohl eine Bedingung für einen Geiseldeal.
"Sollte es zu einem Deal mit der Hamas kommen, kann ich mir vorstellen, dass weitere Koalitionspartner die Regierung verlassen", vermutet Rimmel. Im Streit um die Einberufung ultraorthodoxer Juden in die Armee hatte bereits vergangene Woche eine religiöse Partei die Regierung verlassen.
Riskiert Netanjahu den Bruch der Regierung?
Am Dienstag beginnt die Sommerpause im israelischen Parlament. Ofer Waldman denkt, dass es Netanjahu in dieser Phase auf einen Bruch der Koalition anlegen könnte, da in der dreimonatigen Pause gegen nur schwer ein Misstrauensvotum gegen ihn gestellt werden kann.
Der Ministerpräsident könnte diese Zeit nutzen, um einen Waffenstillstand und einen Geiseldeal zu verhandeln und mit diesem Erfolg im Rücken Neuwahlen anstreben: "Netanjahu ist ein politisches Genie, die Opposition ist zerstritten. Deshalb ist ihm zuzutrauen bei Neuwahlen zu gewinnen – trotz der aktuell schlechten Umfragewerte", so Waldman.
Die rechtsextremen Kräfte in der Regierung verfolgen derweil einen anderen Plan: "Die Ultrarechten sagen ganz offen, dass sie die Menschen aus dem Gazastreifen vertreiben wollen, damit Israelis ihn besiedeln können", sagt Waldman. Wie Michael Rimmel stellt er klar, dass diese völkerrechtswidrigen Pläne in der israelischen Bevölkerung nicht mehrheitsfähig sind.
Vertreibung wäre ein Kriegsverbrechen
Allerdings ist eine solche Position laut Waldman auch nicht mehr so verpönt wie früher: "Die Gewalt des 7. Oktobers hat die Realität vieler Israelis entgrenzt. Seit diesem Tag scheint alles möglich: selbst ein Kriegsverbrechen wie die Vertreibung von Millionen Menschen", sagt er.
US-Präsident Donald Trump zeigte sich immer wieder offen für die Vertreibungspläne. Bei einem gemeinsamen Termin Anfang Juli sprachen Trump und Netanjahu davon, mit Nachbarländern Israels in Kontakt zu stehen, die "den Palästinensern eine bessere Zukunft geben wollen".
Deutschlands Entwicklungsministerin Reem Alabali-Radovan stellte sich kürzlich im Interview mit unserer Redaktion klar dagegen: "Pläne, die zu einer Vertreibung von Palästinenserinnen und Palästinensern führen, sind absolut inakzeptabel", sagte sie.
Wann spricht die EU mit einer Stimme?
Ein solcher Schritt würde die Netanjahu-Regierung auf internationaler Bühne weiter isolieren. Aktuell hält Deutschland sich im Vergleich zu anderen europäischen Staaten noch mit Kritik an Israel zurück.
So unterzeichnete Deutschland nicht die Erklärung anderer europäischer Staaten, die ein sofortiges Kriegsende forderten. Trotzdem findet auch Bundeskanzler Friedrich Merz, dass es so nicht weitergehen kann: "Das ist so nicht akzeptabel, wie die israelische Armee dort vorgeht", sagte er am Montag.
Empfehlungen der Redaktion
Waldman, der sowohl die deutsche als auch die israelische Staatsbürgerschaft hat, nimmt beide Länder in die Pflicht. Von Deutschland fordert er, endlich mit den europäischen Staaten mit einer Stimme zu sprechen, um den Druck auf die israelische Regierung zu erhöhen. Als Israeli sieht er sich dagegen in der Pflicht, das Leid in Gaza anzuprangern: "Als israelischer Staatsbürger trage ich die Haftung für das was Israel macht."
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Christine Kahmann (Sprecherin von Unicef)
- Gespräch mit Ofer Waldman (Direktor der Heinrich-Böll-Stiftung in Israel)
- Gespräch mit Michael Rimmel (Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel)