Israels Ex-Verteidigungsminister Gantz hatte Netanjahus Regierung 2024 verlassen. Nun ruft er auch andere Oppositionspolitiker auf, sich ihr anzuschließen, um einen Deal mit der Hamas zu ermöglichen.

Der israelische Oppositionspolitiker Benny Gantz schlägt dem unter Druck stehenden Regierungschef Benjamin Netanjahu eine gemeinsame Übergangsregierung vor, um die Freilassung der Geiseln im Gazastreifen zu erreichen. Netanjahu ist für sein politisches Überleben bislang auf rechtsextreme Koalitionspartner angewiesen, die ein Abkommen mit der islamistischen Terrororganisation Hamas über eine Waffenruhe strikt ablehnen.

Auch Angehörige der Geiseln bekräftigten zusammen mit Tausenden Demonstranten in der israelischen Küstenmetropole Tel Aviv sowie anderen Orten des Landes ihre Forderung nach einer Waffenruhe und warnten, dass die geplante Einnahme der Stadt Gaza durch die Armee das Leben der Geiseln gefährde. "Es liegt ein Abkommen auf dem Tisch", sagte der Bruder zweier Entführter laut Medien. Dies könne die letzte Chance sein, Leben zu retten.

Gantz: Israel befindet sich an Wegkreuzung

Die Geiseln seien in Lebensgefahr, "ihre Zeit läuft ab", sagte auch Gantz. Mit Blick auf Videoaufnahmen von bis auf die Knochen abgemagerte Geiseln erinnerte der Oppositionspolitiker an seine Mutter Malka, eine Überlebende des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. "Meine Mutter hat mir beigebracht, dass das Leben etwas Heiliges ist". Israel stehe an einer Wegkreuzung, sagte Gantz.

Der ehemalige Verteidigungsminister hatte Netanjahus Regierung 2024 nach Meinungsverschiedenheiten verlassen. Nun forderte er andere Oppositionspolitiker auf, sich mit ihm für ein halbes Jahr einer "Regierung zur Freilassung der Geiseln" anzuschließen. Diese müsse mit einer Vereinbarung beginnen, die alle 50 Geiseln - darunter 20 Lebende - heimbringe. Im kommenden Frühjahr müsse es dann eine Neuwahl geben, sagte Gantz.

Was macht Netanjahu?

Die Chancen für ein solches Bündnis gelten allerdings als äußerst gering. "Wenn Netanjahu nicht zustimmt, dann wissen wir, dass wir alles getan haben", sagte Gantz. Es war zunächst unklar, wie Netanjahu auf dessen Schachzug reagieren wird. Der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich soll laut Medien Angehörigen der Geiseln gesagt haben, er werde aus der Regierung austreten, sollte Netanjahu einem Waffenruhe-Deal mit der Hamas zustimmen.

Laut der Nachrichtenseite "ynet" tritt das Sicherheitskabinett am Dienstag zusammen, um über die Einsatzpläne zur Einnahme der Stadt Gaza abschließend abzustimmen. Zudem werde es um den Stand der indirekten Verhandlungen über ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln gehen, bei denen die USA, Katar und Ägypten als Vermittler fungieren. Die Hamas hatte am Montag erklärt, sie habe einem neuen Vermittler-Vorschlag für eine Waffenruhe zugestimmt.

Dabei handelt es sich laut Medienberichten um eine angepasste Fassung eines zuvor bereits verhandelten Vorschlags des US-Sondergesandten Steve Witkoff. Dieser sieht eine 60-tägige Waffenruhe vor, während der zunächst zehn lebende Geiseln im Gegenzug für palästinensische Häftlinge freikommen.

Angehörige von Hamas-Geiseln fordern Waffenruhe

Netanjahu hat den Plan zur Einnahme Gazas bereits gebilligt, gleichzeitig aber neue Verhandlungen mit der Hamas in Aussicht gestellt. Er habe angeordnet, "unverzüglich Verhandlungen über die Freilassung aller unserer Geiseln und die Beendigung des Krieges zu Bedingungen aufzunehmen, die für Israel akzeptabel sind", sagte er kürzlich. Auf das Hamas-Angebot ging er nicht ein.

"Seit 687 Tagen werden unsere Kinder in der Hölle von Gaza festgehalten", sagte Einav Zangauker, deren Sohn Matan am 7. Oktober 2023 entführt worden war, vor dem Eingang des Militärhauptquartiers in Tel Aviv. "Ich wende mich an das Volk Israel: Netanjahu kann noch heute einen Deal unterzeichnen, der zehn lebende Geiseln zurückbringt und 18 Leichen", sagte Zangauker. Sollte der Premier dies tun, könnte er sofort Verhandlungen über die Rückführung der restlichen Geiseln im Gegenzug für ein Ende des Krieges aufnehmen, sagte sie.

Rettung der Geiseln "jetzt oder nie"

Die Frau warf dem Ministerpräsidenten vor, eine Vereinbarung mit der Hamas gezielt zu torpedieren: "Statt einem Deal zuzustimmen, galoppiert er in Richtung der Einnahme von Gaza." Netanjahu verurteile die Geiseln damit zum Tode und das Volk Israel zu einem ewigen, überflüssigen Krieg. "Uns bleiben nur noch wenige Tage, um dies zu stoppen", sagte Zangauker. "Wenn die Einnahme von Gaza beginnt, wird es keinen Deal geben. Es ist jetzt oder nie."

Israelische Soldaten waren bereits in Vororte der Küstenstadt vorgerückt. Nun berichteten palästinensische Augenzeugen, dass Soldaten auch im Stadtviertel Sabra gesichtet wurden, vor allem in der Nähe eines Schulgebäudes. In dem Viertel waren seit dem Beginn des Gaza-Kriegs vor fast zwei Jahren schon mal israelische Bodentruppen im Einsatz gewesen. Die israelische Armee teilte auf Anfrage mit, man äußere sich nicht zu den Positionen ihrer Soldaten.

Hilfsorganisationen warnen vor Folgen einer Offensive

Mit Beginn der eigentlichen Offensive wird nach israelischen Medienberichten frühestens im September gerechnet. Zuvor ist die Räumung der Stadt vorgesehen, in der sich nach Schätzungen rund eine Million Menschen aufhalten. Hilfsorganisationen warnen vor einer weiteren Verschlechterung der ohnehin schon katastrophalen humanitären Lage in dem abgeriegelten Küstenstreifen, in dem insgesamt rund zwei Millionen Palästinenser leben.

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Die weltweit als Autorität für Ernährungssicherheit anerkannte IPC-Initiative erklärte für die Stadt Gaza und einige Nachbarorte eine Hungersnot. Israels Premier Netanjahu bezeichnete den Bericht als "glatte Lüge". Nach israelischer Darstellung basiert die IPC-Einschätzung auf falschen Angaben der Hamas. (dpa/bearbeitet von vit)