Die Gäste von Anne Will diskutieren über den Fall Deniz Yücel und seine Folgen. Obwohl er Journalist jetzt frei ist, überwiegen in der Runde Sorge und Türkei-Kritik.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Fabian Busch dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

In der vergangenen Woche war die Talkshow von Anne Will noch ausgefallen, weil angeblich niemand über den Koalitionsvertrag sprechen wollte. Mit der Gästesuche hatte die Redaktion dieses Mal offenbar weniger Probleme. Schließlich ist der Anlass nach den zähen GroKo-Verhandlungen und Personalquerelen mal ein positiver:

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Am Freitag wurde der deutsche Journalist Deniz Yücel aus der türkischen Haft entlassen. Zum Feiern ist im Studio allerdings trotzdem niemandem zumute, und das nicht nur, weil die Anklage gegen Yücel aufrecht erhalten bleibt.

Ulf Poschardt, der Chefredakteur der Tageszeitung "Die Welt", deren Türkei-Korrespondent Deniz Yücel ist, kündigt an: "Wir werden weiterkämpfen." Schließlich sitzen noch immer mehr als 150 Journalisten in der Türkei in Haft.

Dass ihn das Schicksal seines Mitarbeiters tief bewegt hat, ist Poschardt ohne weiteres abzunehmen. Etwas unpassend wirken da die Versuche, Werbung für seine Zeitung zu machen: Vom nächsten Morgen an werde die "Welt" regelmäßig auf die anderen inhaftierten Journalisten hinweisen, kündigt Poschardt an.

Außerdem preist er ein Interview von "Deniz" an, das diesen in den Augen der türkischen Regierung zur unerwünschten Person gemacht hat: "Das können Sie auf unserer Homepage nachlesen."

Sevim Dagdelen rudert zurück

Die zentrale Frage im Zusammenhangs mit Yücels Freilassung lautet: Gab es einen Deal? Hat die deutsche Regierung einen Preis bezahlt, der Regierung von Staatschef Erdogan eine Gegenleistung versprochen?

Ulf Poschardt sagt, er müsse sich darauf verlassen, was Außenminister Sigmar Gabriel ihm versichert habe – nämlich dass es keinen Deal gab. "Das wäre für Deniz schrecklich."

Anders sieht das Sevim Dagdelen. Die Bundestagsabgeordnete der Linken wiederholt, was sie schon am Freitag in die Fernsehkameras gesagt hat: Dass sie sich nicht vorstellen kann, dass der türkische Staatspräsident diesen Schritt gegangen ist, ohne eine Gegenleistung dafür bekommen zu haben.

Ob sie dann glaube, dass Außenminister Gabriel lüge, fragt der Welt-Chefredakteur – und bringt die talkshowerfahrene Politikerin kurz aus dem Konzept.

Nach ein paar Sekunden Stille rudert sie ein kleines Stück zurück: "Ich will nicht sagen, er hat gelogen" so Dagdelen. Es sei aber nicht das erste Mal, dass deutsche Politiker nicht glaubhaft wirken.

Bewerbung als Außenminister?

Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, beharrt darauf, dass es keine Absprachen gegeben habe.

Aus Karrieregründen dürfte der Talkshow-Auftritt dem in Deutschland nicht besonders bekannten Politiker sehr recht kommen. Schließlich ist noch immer nicht klar, ob Sigmar Gabriel im Amt bleiben darf oder sich die SPD einen neuen Außenminister suchen muss. Und der SPD-Politiker Roth hätte zweifellos große Expertise.

An seinen Talkshowauftritten müsste er aber noch feilen. Seine Antworten auf die Fragen von Anne Will wirken eher hölzern und ausweichend.

Ab und an bezieht der Staatsminister dann doch Stellung. Auf die Frage, ob die Freilassung Yücels wirklich ein Akt der Justiz und nicht der Regierung war, antwortet Roth: "Die türkische Regierung hat immer auf die Unabhängigkeit der Justiz hingewiesen."

Zusammen mit seinem leichten Schmunzeln ließe sich das aus der Diplomatensprache ins Deutsche so übersetzen: Die sagen es, aber das muss nichts heißen.

EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei "politisch tot"

Mit Kritik an der Türkei sparen die Gäste nicht. Vor allem CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, findet deutliche Worte.

Die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei seien eine Farce, sagt er: "Sie sind rechtlich existent, aber politisch tot." Und wer möchte, kann aus seinen Worten sogar den Aufruf an die Türken herauslesen, Präsident Erdogan beim nächsten Urnengang abzuwählen: "Wir müssen unseren Teil dazu beitragen, den Türken klar zu machen: Wenn ihr diesen Kurs Erdogans unterstützt, verbaut ihr euch die europäische Perspektive. "

Ein Gast kommt leider etwas zu kurz: Peter Steudtner saß selbst im vergangenen Jahr in der Türkei mehrere Monate im Gefängnis. Er fühle sich in seiner Freiheit weiterhin beschränkt, sagt der ernste und nachdenkliche Menschenrechtsaktivist: "Ich wurde freigelassen, aber nicht freigesprochen, das erlaubt keine innere Freiheit."

Steudtner kommt nur zwei Mal zu Wort. Immerhin bekommt er die Gelegenheit zum Schlusswort – und formuliert darin sogar so etwas wie vage Hoffnung:

Die Zeit in der Türkei sei auch bereichernd gewesen, sagt er. Denn er habe viele Menschen kennengelernt, denen er viel verdanke. "Mein großer Wunsch wäre, möglichst bald in die Türkei reisen zu können und mit denen feiern zu können – aber dann bitte auch mit den Zigtausenden, die noch freigelassen werden müssen."

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