• Berichte von Gefechten mit Toten und Verletzten in der Grenzregion Brjansk machen die Runde.
  • Putin spricht von Terrorakten durch ukrainische Saboteure, die Ukraine weist die Vorwürfe zurück und wähnt eine Inszenierung des Kremls.
  • Dann gerät noch jemand ganz anderes in den Fokus: Denis Nikitin, ein amtsbekannter Neo-Nazi.
  • Militärexperte Gustav Gressel analysiert, was aktuell bekannt ist.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Nachrichten aus der Grenzregion Brjansk überschlagen sich: Auf Videos, aufgenommen angeblich im Dorf Ljubetschanje, sind Gefechte auf russischem Boden zu sehen. Laut Angaben von lokalen Behörden sollen dabei zwei Zivilisten getötet und ein Kind verletzt worden sein.

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Die Reaktion aus Moskau kam prompt: Es handele sich um einen ukrainischen "Terrorakt", Sabotage geplant von Kiew aus. Auch im etwa 20 Kilometer entfernten Dorf Suschany soll es zu Vorfällen gekommen sein. Vier Soldaten der Nationalgarde sollen über eine Landmine gefahren und dabei verletzt worden sein, zwischenzeitlich war auch von Geiselnahmen die Rede.

Diffuse Nachrichtenlage

Der Gouverneur der Region, Alexander Bogomaz, berichtete von "mehreren Dutzend" Saboteuren und schrieb auf seinem Telegram-Kanal: "Die Streitkräfte der Russischen Föderation ergreifen alle notwendigen Maßnahmen, um die Sabotagegruppe zu liquidieren." In Reaktion auf die Vorfälle berief Putin den nationalen Sicherheitsrat ein. Kiew wiederum sprach von einer "false flag"-Aktion, also einer Inszenierung unter falscher Flagge.

Die Nachrichtenlage ist insgesamt diffus, die Berichte voll von Widersprüchen. Inzwischen liegt nahe: Die Gruppe von Freiwilligen, die die Dörfer nahe der russischen Stadt Brjansk angegriffen hat, wird von Denis Kapustin, auch genannt Denis Nikitin, angeführt. Dabei handelt es sich um einen amtsbekannten Rechtsextremen, der bis 2018 in Deutschland gelebt hat.

Angeblich Gefechte auf russischem Gebiet: Putin beruft Sicherheitsrat ein

Kreml-Angaben zufolge soll es am Donnerstag in der russischen Grenzregion Brjansk nahe der Ukraine zu schweren Gefechten gekommen sein. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB machte "ukrainische Nationalisten" verantwortlich. Präsident Putin bezeichnete den Vorfall als Terrorakt und berief den nationalen Sicherheitsrat ein. © ProSiebenSat.1

Im Video: "Freunde, es ist passiert"

In einem Video, das in den sozialen Medien kursiert, ist Nikitin in Kampfanzug mit gelber Armbinde und der Flagge seiner Kampftruppe zu sehen. "Freunde, es ist passiert: Das russische Freiwilligenkorps hat die Grenze der Russischen Föderation überschritten", sagt er darin. Nikitin soll im Sommer vergangenen Jahres das "Russische Freiwilligenkorps" gegründet haben.

Dabei handelt es sich um eine pro-ukrainische Kampftruppe, bestehend aus russischen Staatsbürgern. Die ukrainische Armee erkennt das Korps nicht an. Nikitin galt in Deutschland als einflussreicher und gut vernetzter Neonazi, der vor allem für sein Modelabel "White Rex" bekannt ist. Die rechtsextreme Marke des Kampfsportlers erfreut sich vor allem bei Hooligans großer Beliebtheit.

Nikitin: Ihm ist Putin noch zu liberal

Nikitin lehnt Putin und den russischen Staat ab. Der Kampf an der Seite der Ukraine hat deshalb nichts damit zu tun, dass Nikitin für freiheitliche und demokratische Werte eintreten möchte. Im Gegenteil: Selbst der Kreml ist Nikitin noch zu liberal und weltoffen. Angetrieben wird Nikitin von der Idee der Weißen Vorherrschaft.

Das erklärt, warum er sich auch über nicht-weiße Ethnien in Russland erhebt und beispielsweise gesagt haben soll: "In meiner Heimat versuchen sie alles zu vermischen und es eine politische Nation von Russen zu nennen." Ob er mit seinen inoffiziellen Truppen hinter den Vorfällen steckt, ist noch nicht endgültig geklärt.

Inszenierung des Kremls denkbar

Es könnte sich Experten zufolge auch um eine Inszenierung des Kremls handeln. Auch Militärexperte Gustav Gressel will sich noch nicht festlegen. Dass die Aktionen vom ukrainischen Staat angeordnet wurden, hält er aber für relativ unwahrscheinlich. "Es gibt zwar Sabotageakte, vor allem Drohnenangriffe der Ukraine gegen Russland auf russischem Territorium – aber Markenzeichen der ganzen ukrainischen Geschichten ist, dass man nie ein Wort darüber verliert", sagt er.

Selbst wenn relativ offensichtlich sei, dass die Ukraine dahinterstecke, weil man zum Beispiel Wrack- und Bauteile gefunden habe, sage weder das ukrainische Militär noch sonst jemand 'Das waren wir', so Gressel. "Auch beim Anschlag auf die Krimbrücke gab es Schweigen im Walde", erinnert er.

Verdächtig sei auch, dass die Personen auf den Videos im Netz neue und saubere Uniformen trugen und sich gefilmt hätten. "Außerdem haben sich seit letztem Herbst in Vorbereitung auf die Mobilmachung Russlands die Gesetze zur inneren Sicherheit immens verstärkt", sagt Gressel. Es gebe erhöhte Sicherheitsmaßnahmen in den westlichen Oblasten und vor allem in der Grenzregion.

"Die Dichte an Polizeistreifen und FSB-Grenzsicherung ist enorm hoch. Dass man da in eine Ortschaft reingeht, bewaffnet und mit ukrainischen Abzeichen, sich filmt und es kommt zu keinen großen Schießereien oder Verhaftungen, das ist schon sehr unerwartet", sagt der Experte.

War es ein "PR-Coup"?

Es bleibe nun abzuwarten, inwieweit der Kreml die Vorfälle als Vorwand nutze. "Putin hat das Ganze natürlich sofort zu Propagandazwecken aufgegriffen. Es könnte zum Beispiel als Vorwand dienen für weitere Sicherheitsmaßnahmen und Schritte im Inneren bis hin zu einer zweiten Welle der Mobilisierung", spekuliert Gressel. Aus seiner Sicht "riecht es schon sehr verdächtig nach Inszenierung durch den Kreml". Man müsse aber genauere Analysen der Videos abwarten.

"Es kann aber auch durchaus sein, dass Nikitin die Aktionen einfach als eine Art Fundraising-Event gemacht hat. Er lebt entweder von organisierter Kriminalität oder durch Spenden von anderen rechtsextrem gesinnten Leuten, die ihn unterstützen", analysiert Gressel. Um spendenwürdig zu sein, müsse man auch etwas dafür tun. Die spektakulären Aktionen könnten somit auch ein "PR-Coup" gewesen sein.

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Zensur bei der Armee

"Diese rechtsextremen Gruppen schauen immer, dass sie ihre Aktionen dokumentieren und filmen und sich wichtig machen, weil sie damit natürlich Geldgeber anlocken", sagt Gressel. Die richtige Armee wolle das Gegenteil – überhaupt nicht gefilmt werden, damit Russland keine Rückschlüsse ziehen könne über Truppenbewegungen, Formationen, Positionen oder taktisches Verhalten.

"Bei der Armee gibt es deshalb ganz starke Zensur, die ganz wichtigen Dinge will man nicht auf Film bringen", erinnert Gressel. Welchen Hintergrund die Aktionen auch haben, feststeht: Dass nun auch auf russischem Boden gekämpft wird, ist sicher keine gute Nachricht.

Über den Experten:
Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.

Verwendete Quellen:

  • stern.de: Russischer Neonazi, Kämpfer für die Ukraine, Kampfsportler in Deutschland: Wer ist Denis Nikitin?
  • ZDF: Putin spricht von "Terror" :Russland: Angriff von ukrainischen Saboteuren
  • ZDF: Denis Nikitin: Russischer Rechtsradikaler kämpft für Ukraine
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