Der EU-und Nato-Staat Estland grenzt direkt an Russland. Sollte Putin wirklich einen Krieg gegen Europa anzetteln, könnte er dort beginnen. Im Gespräch mit unserer Redaktion berichtet Riho Terras, ehemaliger Militärchef Estlands, wie sein Land sich wappnet – und warum ganz Europa folgen sollte.
Für viele Deutsche ist die Angst vor einem möglichen Angriff Russlands neu. In Estland hingegen begleitet jene Sorge die Menschen schon seit Langem. Entsprechend gut sei sein Land vorbereitet, sagt Riho Terras, ehemaliger Oberbefehlshaber der estnischen Streitkräfte, im Gespräch mit unserer Redaktion. Und im Fall der Fälle werde jeder kämpfen: "Männer, Frauen, sogar die Jugend."
Heute vertritt Terras die konservative Partei Isamaa – zu Deutsch "Vaterland" – im Europäischen Parlament. Dort ist er stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung. Was er von den anderen EU-Staaten erwartet und wie er auf Deutschlands Rolle blickt, erklärt er im Interview.
Herr Terras, die spanische Zeitung "El Pais" schreibt, viele Esten hätten immer einen gepackten Koffer im Flur stehen und das Auto vollgetankt – für den Fall, dass Russland angreift. Handhaben Sie das auch so?
Riho Terras: Ich glaube eher, die Spanier kennen ihre Touristen nicht gut genug. Viele Esten haben ein Ferienhaus dort – einfach um dem langen Winter zu entkommen. Aber so dramatisch, wie dort anscheinend über uns berichtet wird, ist es wirklich nicht. Natürlich gibt es Esten, die sich Sorgen machen. Aber dieses Gefühl der Unsicherheit war schon immer mehr oder weniger präsent. Estland befindet sich in einer geopolitisch heiklen Lage. Ein russischer Angriff ist jederzeit möglich. Da sind wir nicht blauäugig. In den letzten tausend Jahren wurden wir 42-mal von Russland angegriffen – im Schnitt alle 25 Jahre.
Russland hat ungefähr 1,3 Millionen aktive Soldaten, Estland 4.500.
Wir haben eine wehrpflichtige Reservearmee. Heißt konkret: Estland kann innerhalb von 48 Stunden 50.000 ausgebildete Soldaten mit Waffen und Ausrüstung mobilisieren. Die 4.500 Berufssoldaten? Die sind dafür da, die anderen auszubilden. Wenn die Russen kommen, schießt in Estland jeder Baum. Männer, Frauen, sogar die Jugend. Wir werden kämpfen. Aufgeben ist keine Option.
Wie kommt die Armee zu so vielen Reservisten?
Alle Männer ab 18 Jahren müssen den Wehdienst absolvieren. Der dauert acht bis elf Monate. Danach ist man bis zum sechzigsten Lebensjahr in der Reservearmee. Seit 2016 führen wir immer wieder Übungen durch, auch ohne Vorwarnung. Das heißt alle – egal, ob Taxifahrer oder Lehrer – bekommen eine SMS, dass Sie in 14 Stunden in Uniform und mit Waffe in ihrer Einheit bereitstehen müssen.
Putin plant, in den kommenden Jahren mehr als 40.000 Soldaten an der Grenze zu den baltischen Staaten zu stationieren. Kann Estland da also gegenhalten?
Ich werde nicht darüber spekulieren, ob wir den Russen gewachsen sind. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Außerdem sind wir Mitglied der Nato und die Nato hat zusammen mit allen anderen Mitgliedstaaten entschieden, uns nicht von Russland überrennen zu lassen.
Sie verlassen sich also weiterhin darauf, dass die Nato-Staaten ihrer Beistandsverpflichtung nachkommen würden?
Niemand hat je gesagt, dass er aus der Nato raus will. Selbst Trump hat lediglich gesagt, dass er nicht bereit ist, diejenigen Länder zu verteidigen, die nicht selbst zahlen – das ist seine Art, Druck auszuüben. Wenn es ernst wird, ziehen alle Mitgliedstaaten an einem Strang – das weiß ich.
"Wenn es bei den Nachbarn brennt, müssen wir bereit sein, alles zu geben, um das Feuer zu löschen. Bevor das Feuer zu uns überspringt."
Bis 2027 soll Russland militärisch in der Lage sein, NATO-Länder herauszufordern. Glauben Sie, dass es so weit kommt?
Überraschen würde es uns jedenfalls nicht. Putins Wille ist da. Aber wir sind vorbereitet: In Estland haben wir Soldaten aus den drei Atomländern der Nato Großbritannien, Frankreich und den USA an den Ostgrenzen stehen. In Litauen stehen die Deutschen, in Polen die Amerikaner. Ob Putin die Nato angreift oder nicht, wird am Ende davon abhängen, ob er stark genug ist. Heute ist er es nicht.
Trotzdem müssen wir aufrüsten?
Ich vergleiche das immer mit einem Brand: Wenn es bei den Nachbarn brennt, müssen wir bereit sein, alles zu geben, um das Feuer zu löschen. Bevor das Feuer zu uns überspringt.
Können Sie trotzdem Verständnis dafür aufbringen, dass sich Deutschland vorerst gegen die Wehrpflicht und für einen freiwilligen Wehrdienst entschieden hat?
Die deutsche Bevölkerung befürwortet die Wehrpflicht nicht so sehr wie die estnische. Daher erscheint der freiwillige Dienst in Deutschland als die praktikablere Lösung. Aber generell ist die estnische Idee des "Staatbürgers in Uniform" ein Konzept, dass ich sehr unterstütze und das vielleicht auch in Deutschland nochmal wichtig werden wird.
Estland hat sein Verteidigungsbudget zuletzt auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht. Auch Deutschland hat sich dieses Ziel gesetzt. Wie optimistisch sind Sie, dass die anderen EU-Länder mitziehen werden?
Da bin ich nicht sehr optimistisch. Ich sehe leider, dass das Verständnis nicht überall ausreichend vorhanden ist. Länder wie Österreich oder Irland sind für mich Trittbrettfahrer: Sie sind in jedem Bündnis dabei, ignorieren aber ihre Verpflichtungen und verstecken sich hinter dem Feigenblatt der Neutralität. Das ist Blödsinn. Für mich ist klar: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.
"Ich sehe keinerlei Möglichkeit, mit einem Kriegsverbrecher zu verhandeln. Das wäre, als hätten wir 1943 gesagt, wir wollen mit Adolf Hitler einen Frieden aushandeln. Einfach unvorstellbar."
Nicht alle Länder sind wirtschaftlich gleich stark.
Und Estland soll diese Stärke haben? Unsere Wirtschaft ist seit drei Jahren im Sturzflug. Wieso glaubt man, dass die estnischen Mütter kein Kindergeld oder die estnischen Rentner nicht mehr Pension brauchen? Es ist wichtig, immer wieder darüber zu sprechen, was passiert, wenn die Ukraine verliert. Dann wird Putin denken, dass er weitermachen kann – und dann wird es für Europa richtig teuer. Am Ende werden die Nato-Länder gewinnen, davon bin ich überzeugt, aber es wird schwierig.
Aufrüsten, Soldaten ausbilden – ist das die einzige Sprache, die Putin versteht?
Wir haben im Fall der Ukraine ja gesehen, wie weit uns Diplomatie bei Putin bringt. Ich sehe keinerlei Möglichkeit, mit einem Kriegsverbrecher zu verhandeln. Das wäre, als hätten wir 1943 gesagt, wir wollen mit Adolf Hitler einen Frieden aushandeln. Einfach unvorstellbar. Aufrüstung ist wichtig, es reicht jedoch nicht, nur Waffen zu kaufen.
Sondern?
Man muss aufhören, Russlands Krieg gegen die Ukraine zu finanzieren. Jegliche Wirtschaftsbeziehungen zu Russland müssen wir stoppen. Im letzten Jahr haben alle europäischen Länder zusammen Russland 22 Milliarden Euro für Gas gezahlt. Die Ukraine haben sie dagegen nur mit 18 Milliarden Euro unterstützt. Das ist schizophren: Wir können den Russen nicht einerseits Geld geben, mit dem sie ihren Krieg finanzieren und den Ukrainern auf der anderen Seite weniger Geld geben, mit dem sie den Krieg gewinnen sollen.
Über den Gesprächspartner:
- Riho Terras war von 2011 bis 2018 Befehlshaber der estnischen Verteidigungsstreitkräfte. Seit 2020 sitzt er für die konservative estnische Partei Isamaa im Europaparlament. Dort ist er stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung. Terras studierte von 1994 bis 1998 an der Bundeswehr-Universität München, weshalb er fließend Deutsch spricht.