Wie ordnet man die Gefühle und Bedürfnisse seines Hundes richtig ein? Und warum neigen Menschen dazu, einen Hund als "Seelentrostpflaster" zu betrachten? Diesen Fragen widmet sich Hundetrainerin Nicole Brinkmann in ihrem Buch "Nähe und Distanz in der Hundeerziehung".
Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt die Expertin, wie man mit seinem Hund "richtig" streitet, welche Rolle Grenzen in diesem Zusammenhang spielen und was sie Menschen rät, die erstmals einen Hund bei sich aufnehmen wollen.
Frau Brinkmann, obwohl Hundehalterinnen und -halter ihr Tier über alles lieben, kann es passierten, dass die Bedürfnisse des Hundes nicht richtig gesehen und beachtet werden. Wie kann das passieren?
Nicole Brinkmann: In der westlichen Welt, in der wir leben, ist uns über die Jahre das Bewusstsein für unsere menschlichen Gefühle und Bedürfnisse ein wenig verloren gegangen. Insofern ist es nur folgerichtig, dass wir dazu neigen, auch die Bedürfnisse und Gefühle unseres Hundes nicht immer richtig einordnen und wahrnehmen zu können. An diesem Punkt wird es spannend, denn für viele Menschen ist ihr Hund gewissermaßen ein Seelentrostpflaster. Ein Hund bringt nicht nur eine harmonische und niedliche Komponente in das Leben des Menschen, sondern löst auch Glücksgefühle in uns aus.
In Ihrem Buch "Nähe und Distanz in der Hundeerziehung" schreiben Sie, wie unsere Vierbeiner häufig mit Streicheleinheiten und Liebe "überschüttet" und an anderer Stelle zu oft allein gelassen werden. Was konkret meinen Sie damit?
Ehrlicherweise glaube ich nicht, dass wir den Hund mit Liebe überschütten, sondern uns Menschen. Das meine ich völlig wertfrei. Aber meiner Meinung nach lassen sich häufig egoistische Verhaltensmuster beobachten: Der Mensch möchte sich etwas Gutes tun, indem er im Gegenzug Liebe von seinem Hund bekommt.
Ein Beispiel: Stellen wir uns an dieser Stelle einen Welpen vor, der nach etwa acht bis zwölf Wochen die biologische Mutter verlässt und von einem Menschen aufgenommen wird. Diese kleinen Wesen haben bereits von ihrer Mutter Distanz gelehrt bekommen, indem sie beispielsweise nicht mehr gesäugt werden. Kommt ein Welpe dann zu einer Menschenfamilie, wird es betüddelt und umworben, weil ja schließlich alles niedlich und kuschelig ist mit so einem kleinen Fellknäuel.
Eine Mutterhündin würde in dieser Intensität von Interaktion und Nähe die sprichwörtliche Krise bekommen (lacht). Bedeutet: Die Balance, die die Mutterhündin ihrem Wurf beigebracht hat, geht gewissermaßen an dem Tag verloren, an dem ein Welpe bei einer Menschenfamilie einzieht. Denn uns Menschen fällt es so schwer, dieses kleine Wesen mit unangenehmen Gefühlen zu betrachten, dass wir es ausschließlich mit Zuneigung und Glücksgefühlen überhäufen. Dabei macht das Verhandeln über schlechte Gefühle einen Menschen wie ein Tier resilient. Genau das geht dem Tier schlussendlich aber verloren, weil wir Menschen ausschließlich gute Gefühle mit ihm in Verbindung bringen.
Wir nutzen einen Hund also unbewusst dazu, unsere Bedürfnisse zu stillen?
So ist es. Mir ist bewusst, dass diese Aussage ziemlich heikel ist, denn ich weiß, dass die meisten Hundebesitzer und -besitzerinnen wunderbare Menschen sind. Ich sage sogar, dass Hundebesitzer und -besitzerinnen die besseren Menschen sind. Dennoch denke ich, dass unsere Sehnsucht nach sozialer Verbundenheit so groß ist, dass ein Hund schnell in die Rolle des Seelenpflasters rutscht. Dabei sind jene Wunden, auf die dieses bildliche Pflaster geklebt wird, innerartlich und fern ab von dem Hund entstanden. Unsere Wunden finden ihren Ursprung in unserer Kindheit oder in der Gesellschaft, in der wir leben. Insofern denke ich, dass diesbezüglich auch die soziale Interaktion unter Menschen eine Wende erfahren sollte. Denn nur so kann der Mensch heilen.
Sie befassen sich also nicht nur mit der Psyche des Hundes, sondern auch mit der des Menschen?
Ganz genau. Die Kernarbeit mit Hund und Mensch ist sehr ähnlich. Ich habe über vier Jahre lang eine Ausbildung zur Hundepsychotherapeutin gemacht. Diese Ausbildung findet ihre Basis in der Humanpsychotherapie und somit zu einem großen Teil auf den Hund übertragbar. Natürlich ist der Mensch deutlich komplexer und damit auch gravierend komplizierter, nichtsdestotrotz basieren auch Probleme eines Hundes auf der ursprünglichen sozialen Verbundenheit. Zwischen uns Menschen und Hunden herrscht eine gewisse Machtstruktur.
Insofern absolviere ich zusätzlich eine Humanpsychotherapieausbildung, um mich besser mit meinen Klientinnen und Klienten austauschen und dem Machtgefälle entgegenwirken zu können. Ich möchte die Menschen ermutigen, sich damit zu befassen, woher unsere Bedürfnisse kommen und welche Türen es mit Blick auf diese Fragen zu öffnen gilt. Denn wer bereit ist, an den richtigen Stellen ganz tief in sich selbst hineinzuhorchen, kann über den Hund viel über sich selbst erfahren.
Ein weiteres Thema, dem Sie sich in dem Buch widmen, ist der Streit: Wie kann ich mit meinem Hund "richtig" streiten?
Wenn wir vom Streit mit einem Hund sprechen, meine ich nicht den streng erhobenen Zeigefinger, sondern den biologisch betrachteten Streit. Hierbei geht es also weniger um das Thema des Streits, sondern vielmehr um die entsprechende Auseinandersetzung und unseren Status in dieser Situation. Ich muss also in der Lage sein, mich gegenüber meinem Hund sowohl biologisch als auch energetisch so zu positionieren, dass das Tier meinen Staus wahrnimmt. Nur so kann die Auseinandersetzung stattfinden.
Nicht die intelligenteste Hunderasse dieser Welt lernt unsere Sprache. Das bedeutet, dass Hunde weder unsere Sprache sprechen noch die Gesetze unserer Gesellschaft verstehen können. Diesen Grundsatz dürfen wir nie vergessen und es ist ein mühevoller Prozess für uns Menschen, den entsprechenden Austausch mit unserem Hund zu erlernen. Da wir Menschen nämlich auch innerartlich verlernt haben, Grenzen zu setzen, ist der Streit mit dem Hund eine nicht zu unterschätzende Disziplin, zu der ich ermutigen möchte.
Das Setzen von Grenzen ist also gewissermaßen der Dreh- und Angelpunkt …
Ja. Grenzen setzen ist für das Gegenüber ausnahmslos wichtig. Denn beide Seiten einer Medaille ergeben nur Sinn, wenn sie in Balance zueinander stehen. Mit Blick auf die Mensch-Hund-Beziehung bedeutet das Folgendes: Auf der einen Seite wird die Grenze nach innen gezogen, die für den Status des Menschen steht, während auf der anderen Seite ganz klar kommuniziert wird, dass der Mensch dem Hund Sicherheit gibt. Wir Menschen machen dennoch oft den Fehler, unseren Hund ausschließlich über gute Gefühle zu definieren. Dabei bringt es nichts, ihn über gute Gefühle zum Sitzen zu bringen. Es gilt also, die höchste Form von Vertrauen zwischen Mensch und Tier zu erzeugen, um in Balance und allen Bedürfnissen miteinander leben zu können. Denn das ist Beziehung.
Was raten Sie Menschen, die einen Hund adoptieren möchten?
Das ist eine schwierige Frage, weil die Ansätze der Zucht inzwischen sehr weit auseinandergehen. Ohne also tief in die Zuchtauslese einzutauchen, kann ich nur empfehlen, sich ausreichend darüber zu informieren, mit welchen typischen Merkmalen eine Rasse ausgestattet ist: Für viele Familienhunde ist das intensive Jagen ein großes Problem. Hinzu kommt die Frage nach der Verträglichkeit mit anderen Hunden sowie nach der Empfindlichkeit gegenüber Menschen und Umweltsituationen. Last but not least sollte man sich auch selbst kritisch hinterfragen und sich fragen, was man sich als Hundehalter oder -halterin zutraut. Die Frage nach Kompetenzen und Ressourcen spielen demnach ebenso eine Rolle. Ich persönlich finde es beispielsweise großartig, wenn Menschen die Welpengruppe einer Hundeschule besuchen, noch ehe ein Welpe bei ihnen eingezogen ist. Auch der realistische Austausch im Freundeskreis über bestimmte Hunderassen ist total empfehlenswert.
Nichtsdestotrotz verlieben Menschen sich dennoch in eine bestimmte Rasse oder Optik eines Hundes …
Das stimmt. Trotzdem: Blicken wir auf Neulinge im Umgang mit Hunden, sollte die Entscheidung auf einen Hund fallen, der nicht intensiv jagt und der relativ gesellig gegenüber fremden Hunden ist. Ein Hütehund etwa wäre nicht die beste Wahl, weil er letztlich ein Jagdhund ist und in einer entsprechenden Umgebung leben sollte. Ich bin seit knapp 20 Jahren Hundetrainerin und bin weit davon entfernt, den Australian Shepherd als klassischen Familienhund zu betiteln. Natürlich gibt es Ausnahmen, in der diese Rasse ohne viel Kompetenz und Status in einer Familiensituation matcht – meiner Meinung nach sprechen wir hier aber nicht von der Regel, im Gegenteil. Auch ein hochspezialisierter Hund wie etwa der Border Collie gehört meiner Meinung nach nicht in eine Familie mit Kindern, sondern in die Haltung eines Schäfers.
Lassen Sie uns abschließend über das Motto "Adopt, don't shop" sprechen: Welche Rolle spielt der Tierschutz, wenn es darum geht, einen Hund in sein Leben zu holen?
Ich bin ein absoluter Fan von Tierschutzhunden. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich es erst geworden bin. Lange Zeit war ich im Rahmen meiner Arbeit mit Hunden vorrangig mit Zuchttieren in Kontakt. Insofern fehlten mir die Berührungspunkte mit Hunden aus dem Tierschutz. Tierschutzhunde zeigen sehr viel Kompetenz im sozialen Bereich und ich finde es ganz wunderbar, wenn Familien sich mit fast erwachsenen oder erwachsenen Hunden austauschen. Wenn diese Auseinandersetzung dann noch über eine seriöse Tierschutzorganisation stattfindet, kann ich nur meine absolute Empfehlung aussprechen.
Insofern rate ich dazu, die Zucht zu minimieren und runterzufahren und sich vielmehr im Tierschutz nach dem perfekten Hund umzusehen. Ehrlicherweise muss man hier auch auf die Schattenseite des Tierschutzes blicken, weil wir hier teils von extrem hohen Schutzgebühren für Tiere aus dem Ausland sprechen. Nichtsdestotrotz: Aus menschlicher Sicht empfehle ich den Tierschutzhund. Es gibt so tolle und herzerwärmende Hunde, die so sozial kompetent sind, dass man mit Blick auf den Status auch mal Fünfe gerade sein lassen kann (lacht). Diese Tiere sind auf genetischer und epigenetischer Ebene so toll generiert, dass da keine Rassezucht herankommt.
Über die Gesprächspartnerin
- Nicole Brinkmann ist seit über 18 Jahren Hundetrainerin. Zudem ist sie als Resilienztrainerin für Menschen, Hundepsychotherapeutin, Pferdewirtin und Schafzüchterin tätig. Sie liebt das Training mit ihren Aussies als Hütehund an Schafen, als Reitbegleithund an ihren Pferden und als Begleiter im Alltag. Unter anderem nimmt sie seit 2005 an internationalen Hüte-Wettkämpfen im ASCA® (Australian Shepherd Club of America) teil. Besonders Menschen mit Problemhunden finden bei ihr eine gute Hilfestellung. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Düsseldorf.