Minderwertigkeitskomplexe können einen großen Leidensdruck auslösen. So kannst du lernen, mit der Angst nicht genug zu sein, umzugehen.
Es liegt in der Natur des Menschen, sich ständig mit anderen zu vergleichen. Aus diesen Vergleichen entsteht jedoch meist das Gefühl, nicht gut genug, also minderwertig zu sein. Minderwertigkeitskomplexe hat wahrscheinlich jeder einmal.
Doch bei manchen werden die Komplexe so stark, dass sie ihren Alltag beeinträchtigen. Aus den Unsicherheiten, die Minderwertigkeitskomplexe verursachen, entstehen meist Ängste. Und Ängste können lähmend wirken. Das kann so weit gehen, dass wir uns gar nicht mehr trauen, etwas Neues auszuprobieren, unsere Meinung zu sagen, unseren Körper zu zeigen oder im schlimmsten Falle sogar das Haus zu verlassen.
Was ein Minderwertigkeitskomplex ist
"Minderwertigkeitskomplex ist kein wissenschaftlicher, sondern ein alltagsnaher Begriff", sagt Gregor Müller, Psychologischer Psychotherapeut in Bochum. Im Kern gehe es um "ein grundlegendes Gefühl der Selbstunsicherheit". Man traut sich nichts zu, sieht sich selbst andauernd als Versager:in und meint, immer alles falsch zu machen.
Auch die Freiburger Psychologische Psychotherapeutin Eva Maria Klein spricht eher von "Selbstwertproblematik" als von "Minderwertigkeitskomplex". Bei Betroffenen gebe es eine Diskrepanz zwischen dem "idealen Selbst und der Realität". Diese Diskrepanz entstehe, wenn die Person hohe Erwartungen oder Ansprüche an sich selbst habe. Ursache hierfür seien oft etwa hohe Leistungserwartungen in der Kindheit seitens der Eltern. Passt die Wirklichkeit nun nicht mit den Erwartungen und Ansprüche zusammen, leiden Betroffene.
Eine Rolle spiele auch, dass Menschen mit hohen Erwartungen und Ansprüchen gegenüber dem eigenen Ich sich andauernd mit anderen Menschen vergleichen. Dieses Vergleichen an sich sei nicht ungewöhnlich. "Aber wenn man es ständig macht und sich dabei immer unterlegen fühlt, kann das sehr belastend sein", so Klein.
Wie entstehen Minderwertigkeitskomplexe?
Dieses Gefühl beginnt schon im Kindesalter: Wir lernen früh, welches Verhalten uns Anerkennung und Liebe bei unseren Eltern einbringt und welches Enttäuschung und Ablehnung verursacht. Manche Eltern zeigen ihrem Kind nur dann Zuwendung, wenn es eine bestimmte Leistung erbracht hat. So lernt das Kind nicht, dass wir als Menschen von Grund auf wertvoll sind.
Dieser Prozess muss nicht immer bewusst ablaufen. Manchmal passiert es auch, dass Eltern einem Kind selbst bei erbrachter Leistung keine Akzeptanz schenken. Dadurch entsteht das Gefühl, niemals gut genug zu sein.
Selbst wenn wir aus einem liebevollen Haushalt kommen, kann unsere erste Sozialisation außerhalb der Familie uns dahingehend beeinträchtigen. Im Kindergarten lernen wir schnell, welches Verhalten uns bei den anderen Kindern beliebt macht und welches uns aus der Gruppe ausschließt. Niemand wird gerne ausgeschlossen, nicht einmal der selbstbewussteste Charakter. Bei manchen kann dies zur Folge haben, sich aus Angst vor dem Verstoßenwerden bis zur Selbstaufgabe anzupassen.
Selbstverwirklichung: Wie du dein Leben in die Hand nimmst
Vor allem in der Pubertät sind die meisten Jugendlichen von solchen Minderwertigkeitsgefühlen geplagt. Jeder ist gerade dabei herauszufinden, wer er wirklich ist. Und wer jetzt nicht zur Peer-Group gehört, wer negativ auffällt, wer nicht beliebt ist, hat es schwerer auf dem Schulhof. Wir versuchen uns durch Anpassung auch vor potentiellem Mobbing zu schützen. Diese Angst kann dazu führen, dass man sich nicht mehr traut, Kleidung zu tragen die "uncool" ist, oder seine Meinung zu sagen.
Bei vielen löst sich diese Art der Komplexe nach der Schulzeit jedoch nicht. Denn mit steigendem Alter und veränderter Umgebungen steigen die Erwartungen: Brauche ich zu lang für mein Studium? Bin ich immer noch zu "uncool" für meine Kommiliton:innen? Mein:e Partner:in hat sich von mir abgewendet, bin ich gar nicht liebenswert? 30 und immer noch nicht verheiratet oder kinderlos? Immer noch keine Beförderung im Job? Oder einfach immer noch nicht den richtigen Job gefunden?
Minderwertigkeitskomplexe und der Einfluss von sozialen Medien
Vor allem in Zeiten von Social Media kann ein noch größerer Leidensdruck entstehen, da wir uns tagtäglich mit Menschen aus aller Welt vergleichen können: Egal ob im Beruf, bei der Familiengründung oder beim "perfekten" Körper – irgendjemand scheint uns immer einen Schritt voraus zu sein. Wenn wir uns jeden Tag anschauen, was andere haben – und was wir nicht haben – fühlen wir uns miserabel. Uns wird suggeriert, dass nur diese Dinge glücklich machen, da nur sie zeigenswert sind.
Was wir dabei jedoch vergessen: Diese Bilder werden auch nur genau deshalb gezeigt. Jeder will nur die guten und schönen Seiten sehen, weshalb nur wenige Influencer Bilder mit Pickeln oder Cellulite posten. Kaum jemand fotografiert die hässlichen Gegenden eines Reiseziels oder spricht über Flauten in der Karriere oder Beziehung. Online wollen wir uns ausschließlich von unserer besten Seite zeigen.
Insbesondere in schlechten Zeiten haben wir die Angewohnheit, ständig durch Instagram und Co. zu scrollen. Wir wollen uns immer wieder vor Augen führen, was wir alles haben könnten und doch nicht haben. Wir steigern uns weiter in unsere Minderwertigkeit rein, suhlen uns förmlich in unserer "Opferrolle" mit der darauf folgenden Handlungsunfähigkeit.
Welche Folgen ein Minderwertigkeitskomplex haben kann
Mit dem "zu wenig"-Gefühl gehen oft weitere negative Empfindungen einher. "Möglich sind durch das geringe Selbstwertgefühl auch Ängste, sich bestimmten Situationen zu stellen", sagt Klein. Mitunter auch ein Gefühl der Scham, was für Betroffene zusätzlich belastend sein kann. Auch könne sich daraus beispielsweise eine Depression entwickeln.
Leide ich unter Minderwertigkeitskomplexen?
Um herauszufinden, ob man einen Minderwertigkeitskomplex hat, bietet es sich an, einfach mal den Fokus auf den eigenen Selbstwert zu richten. Also: Welche Pluspunkte habe ich optisch, welche Kenntnisse und Fähigkeiten besitze ich, was sind meine Stärken? Wer bei dieser Selbstanalyse wenig Gutes findet, sich nur auf Schwächen und Fehler fokussiert, könnte ein Problem mit der Selbstwahrnehmung haben: "Je negativer man sich selbst sieht und je mehr man davon ausgeht, dass auch andere einen negativ bewerten, desto wahrscheinlicher ist ein Minderwertigkeitskomplex", sagt Gregor Müller.
Wir haben ein paar Situationen gesammelt, anhand derer du dich selbst einschätzen und herausfinden kannst, ob du möglicherweise unter Minderwertigkeitskomplexen leidest:
- Wenn andere mir ein Kompliment machen, kann ich es nicht annehmen und verweise sofort auf meine Schwächen.
- Wenn jemand mir sagt, dass er oder sie mich mag, fällt es mir sehr schwer dies zu glauben.
- Ich sabotiere meine Beziehungen, bevor sich jemand von mir trennen kann, nachdem er oder sie "mein wahres Ich" kennengelernt hat.
- Ich setze mir unerreichbare Ziele, sodass ich mich in meinen Ängsten bestätigt fühle, wenn ich diese nicht erreiche.
- Ich mache alles entweder "perfekt" oder gar nicht.
- Ich traue mich nicht, Neues auszuprobieren aus Angst vor dem Versagen oder dem Urteil der Anderen.
- Wenn jemand etwas erreicht, das auch ich erreichen möchte, werde ich schnell neidisch und versuche seinen oder ihren Erfolg herunterzuspielen.
Wenn du mindestens zwei dieser Aussagen nachempfinden kannst, dann ist es möglich, dass du unter Minderwertigkeitskomplexen leidest. Wir zeigen dir, was du tun kannst, um damit umzugehen und Schritte in Richtung einer erfüllenden Zukunft zu gehen.
Wie überwinde ich meine Minderwertigkeitskomplexe?
Minderwertigkeitsgefühle und die negativen Gedanken, die denen zugrunde liegen, lassen sich oft durchbrechen. "In leichteren Fällen kann schon ein positiver Zuspruch von Freunden oder eine positive Rückmeldung im Job zielführend sein", so Müller. Unabhängig davon kann und sollte man auch selbst etwas dafür tun, die negativen Selbstwertgefühle umzukehren. Wichtig ist zu lernen, mit ihnen umzugehen. Sie sollten dich nicht davon abhalten, dein Leben voll auszukosten. "Zwar kann dieser Prozess eine Weile dauern, aber er kann gelingen", sagt Klein.
Welches Umdenken kann dir dabei helfen, mit deinen Minderwertigkeitskomplexen klarzukommen?
- Wofür schätzt du deine Idole? Dafür, dass sie "perfekt" sind oder dafür, dass sie einzigartig sind? Lerne, dich selbst so zu betrachten und gelassener mit deinen Schwächen umzugehen.
- Spiele deine Stärken nicht herunter, denn wie jeder Mensch hast auch du welche. Du musst sie nur als solche erkennen und schätzen lernen.
- Vergleiche dich nicht mit anderen, vergleiche dich mit deinem vergangenen Ich. Versuche immer nur besser als du selbst zu werden und dich weiterzuentwickeln.
- Jeder geht seinen Weg zu seiner Zeit. Erwarte nicht, dich auf dieselbe Weise zu entwickeln wie andere. Jeder hat mit seinen eigenen, ganz persönlichen Hürden zu kämpfen.
- Du kannst die Vergangenheit nicht ändern. Verschwende deine Zeit nicht mit Reue, schaue lieber in die Zukunft.
- "Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten." Wenn du also immer vermeidest, Neues auszuprobieren, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen, wird sich dein Leben auch nicht weiterentwickeln.
Konkrete Tipps für mehr Selbstwertgefühl
Es gibt verschiedene Strategien, das Selbstwertgefühl zu steigern, dazu gehören zum Beispiel:
Sich selbst akzeptieren: "Ein erster Schritt kann sein, sich selbst so anzunehmen wie man ist", sagt Diplom-Psychologe Müller. Dies sei zunächst einmal keine Bewertung, ob man sich selbst positiv oder negativ empfindet.
Im nächsten Schritt lotet man dann für sich aus, was einem an der eigenen Person missfällt. "Beispielsweise, man findet sich ungepflegt oder zu dick", so Müller. Dann fasst man einen Plan zur Problemlösung: Etwa, sich öfter die Haare zu waschen und auf saubere Kleidung zu achten oder sich zum Ziel setzen, in einem bestimmten Zeitraum fünf bis zehn Kilos abzunehmen.
"Schon allein das Bewusstseinschärfen für ein Problem und den Plan zur Problemlösung können der Anfang sein, das Selbstwertgefühl zu steigern", so Müller. Denn so verlasse man die Ohnmacht-Position heraus und handele.
Weitere konkrete Handlungsmöglichkeiten, um deinem Minderwertigkeitsgefühl entgegenzuwirken:
- Lege ein "Katastrophen-Szenario"-Tagebuch an. Immer, wenn du Angst hast, zu versagen, notiere das Schlimmste, das passieren könnte. So visualisierst und konkretisierst du deine Ängste. Du wirst schnell merken, dass viele Sorgen auf Papier lächerlich erscheinen und selbst das Schlimmste nie so dramatisch ist, wie du denkst.
- Finde eine Sportart, die dir Spaß macht. Vor allem Menschen, die wegen ihres Körpers unter Komplexen leiden, betrachten ihn nur unter dem Aspekt seines Aussehens. Wenn du jedoch eine Sportart betreibst, die dir gefällt, lernst du deinen Körper auf eine neue Weise zu schätzen.
- Entfolge Accounts auf Instagram, YouTube oder ähnlichen Plattformen, die dir ein Gefühl von Minderwertigkeit vermitteln. Folge lieber Leuten, die inspirierend sind und mit ihrem Social Media-Account Gutes tun wollen, wie zum Beispiel Poeten, Künstler:innen, Umweltschutz- und Menschenrechtsaktivisten.
- Mache Dinge unperfekt. Wenn du Angst davor hast, etwas zu tun, stelle dir immer die folgende Frage: Wen bewunderst du mehr? Den, der einen Marathon mit vielen Pausen läuft, ihn aber trotzdem durchzieht? Oder den, der aus Angst davor, lauter Pausen machen zu müssen, den Marathon erst gar nicht mitläuft?
Führe doch mal eine Liste mit Stärken
Ein genauerer Blick auf sich selbst hilft: Jede:r hat Stärken. "Hilfreich kann sein, sich die eigenen Stärken und Erfolge bewusst machen", sagt Klein. Wer in Ruhe überlegt, dem fallen sicher einige Dinge ein, die andere positiv an einem wahrnehmen. Diese Punkte kann man sich notieren und diese Liste regelmäßig ergänzen. Und in Phasen, in denen man von Selbstzweifel geplagt ist, sich in Ruhe zu Gemüte führen, um dadurch das Selbstwertgefühl zu steigern.

Den eigenen Wert erkennen: Minderwertig? Wertlos? Das sind Menschen niemals – das sollte man sich klarmachen. Jede:r hat Stärken wie Schwächen. Natürlich kann man sich mit anderen vergleichen und feststellen, dass man zum Beispiel etwas Bestimmtes nicht so gut kann. "Das heißt aber nicht, dass man deswegen weniger wert ist", so Müller. Und womöglich kann man womöglich etwas, das andere nicht können.
Professionelle Hilfe suchen: In manchen Fällen kann es schwer sein, in Eigenregie eine Selbstwertproblematik zu überwinden, gerade wenn sie mit anderen Symptomen verbunden sind und den Alltag belasten. "Eine Psychotherapie kann dann oft zielführend sein", so Eva Maria Klein.
Mit Material der dpa.
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