Manitoulin Island - Tracey Cleland trägt ein orangefarbenes Kleid mit bunten Karos, kunstvollen Flicken und aufgenähten Ornamenten. Auf das Revers und den Stoff hat die Tänzerin hunderte silberne Glöckchen genäht, sie klingeln bei jedem Schritt. Anfangs ist das rhythmische Klingeln leise, doch schon bald wird es lauter.
Cleland bewegt sich immer schneller. Ihre Mokassins pressen auf das grüne Gras, ein paar Trommler wirbeln und singen rhythmische Töne. Das Klingeln der Glöckchen ist mittlerweile so laut wie ein Wasserfall. Mit ihrem rauschenden Klingeltanz will sie das Wasser und seine heilende Wirkung imitieren.
Tracey Cleland ist vom Volk der Anishinabe und lebt auf Manitoulin Island, der größten Süßwasserinsel der Welt. Das kanadische Eiland ist etwa so groß wie das Saarland und liegt im Huronsee, einem der Great Lakes von Nordamerika. Etwa die Hälfte der Bewohner hat indigene Wurzeln. Insel der Geister heißt Manitoulin Island aus ihrer Sprache übersetzt.
Für Besucher gehören Begegnungen mit den Anishinabe zu den Höhepunkten einer Reise. Bei geführten Wanderungen, Tanzveranstaltungen, kulinarischen Erlebnissen oder Besuchen in einem Kulturzentrum können sie der Lebensweise der indigenen Bewohner Kanadas nahekommen und über ihre Gebräuche lernen.
Eine Kultur verteidigt sich tanzend
Die Anishinabe sehen in ihrer Insel einen spirituellen Ort, an dem sie ihre kulturelle Identität pflegen – und gegen die Einflüsse der Moderne verteidigen. So auch an diesem sonnigen Morgen auf der sattgrünen Rasenfläche in Wikwemikong, einem Dorf im Nordosten der Insel. Neben Cleland haben sich Dutzende weitere Tänzerinnen versammelt.
Die Frauen tanzen vor den Ruinen einer Schule, die viele Bewohner einst besuchen mussten. Sogenannte westliche Werte sollten ihnen dort vermittelt werden, um sie in Kanada zu assimilieren. Für viele Natives war das schmerzhaft, nicht wenige verloren ihre Sprache, Kultur und Identität.

Mit ihrem Klingeltanz halten die Tänzerinnen dagegen. Wie in Trance hören sie auf die Glöckchen und damit auf die reinigende Kraft des Wassers. Sie gedenken der Opfer solcher Schulen und setzen sich für Aussöhnung ein. "Every Child Matters" - es kommt auf jedes Kind an - steht auf einer orangefarbenen Fahne, die an der Ruine flattert.
Orange gilt in Kanada als Farbe der Versöhnung. Auch viele Besucher tragen an diesem Tag orange T-Shirts, Halstücher oder Baseballkappen. Bei Veranstaltungen der Anishinabe sind sie ausdrücklich willkommen - beispielsweise auch am nationalen Tag der indigenen Völker, der in Kanada am 21. Juni begangen wird. Der Monat ist in Kanada zudem der "National Indigenous History Month".
Pappelrinde wird zu Sonnencreme
"Der Tourismus ist eine Chance, der Welt unsere Geschichten zu erzählen", sagt Tourguide Jack Rivers von Wikwemikong Tourism, einem Reiseanbieter, der sich auf indigene Erlebnisse spezialisiert hat. Rivers führt eine Besuchergruppe über den Bebamikawe Memorial Trail, eine 14 Kilometer lange Rundwanderung im Norden der Insel.
Auf der Route erleben Wanderer Kanada im Kleinformat: Es geht durch Espenwälder, so weit das Auge reicht. Immer wieder stoppt Rivers und pflückt Kräuter und Blätter. "Jede Pflanze hat einen Nutzen", erklärt er. Aus der Rinde von Pappeln stellen die Ureinwohner Sonnencreme her, Zedernnadeln dienen ihnen als Erkältungsmittel.
"Dieser Wald bietet uns fast alles, was wir brauchen", sagt Rivers und macht auf einer Anhöhe halt. Von dort hat man einen fantastischen Blick auf die Naturlandschaften von Manitoulin Island: die dichten Mischwälder, die über hundert Seen, die Wasserfälle und - in der Ferne - die Klippen, Buchten und Strände der Georgian Bay.
Mittagspause: An einem Picknickplatz wartet der Koch Vince Manitowabi. In der Luft liegt Rauch und der Duft von frisch gehacktem Holz. Manitowabi wirft ein paar Rehschnitzel auf erhitzte Steine - Grillen auf indigene Art. Zur Vorspeise gibt es geräucherte Forelle, dann die Steaks mit Süßkartoffeln, Wildreis und gegrilltem Kürbis. Frische Beeren komplettieren das Menü.

Hüter des alten Wissens
"Wir holen uns nur so viel aus dem Wald, wie zum Überleben nötig", berichtet anderntags der Stammesälteste Craig Fox. Der achtfache Vater gilt als Bewahrer von traditionellem Wissen und bringt Besucher in das Kulturzentrum der Insel. Dort werden allerlei Kunstgegenstände gezeigt: Schmuckkästchen aus Stachelschweinnadeln, Körbe aus Süßgras, Schnitzwerke aus Geweihen.
Ein runder Versammlungsraum mit prächtigen Wandbehängen dient den Anishinabe als Ort zur Heilung. "Hier feiern wir unsere Spiritualität", erklärt Fox. Auch Recht wird in dem Raum gesprochen. Statt Straftäter ins Gefängnis zu stecken, versuchen die Häuptlinge, die Schuldigen mit Hilfe von Gesprächen und traditionellen Zeremonien wieder auf den rechten Weg zu bringen.
Derweil ertönen in einem Freilichttheater vor dem Kulturzentrum wieder Trommeln. Auch die Tänzerin Tracey Cleland ist da. Heute trägt sie ein Klingelkleid in gelber Farbe, mit prächtigen Sonnenblumen darauf. Sie tanzt bis zur Erschöpfung. Es ist ihre Art, allen zu danken, die nach Manitoulin Island gekommen sind.
Links, Tipps, Praktisches:
Reiseziel: Manitoulin Island gehört zur kanadischen Provinz Ontario und liegt im Huronsee, sechs bis sieben Autostunden nördlich von Toronto im Osten Kanadas. Auf der Insel leben etwa 15.000 Menschen, etwa die Hälfte davon haben indigene Wurzeln. Hauptort ist Little Current.
Reisezeit: Das Klima auf der Insel gilt als gemäßigt. Die Sommer reichen von Juni bis August und sind angenehm mit Tagestemperaturen zwischen 18 und 25 Grad.

Anreise: Nonstop-Verbindungen mit dem Flugzeug nach Toronto, danach Weiterreise mit Mietwagen oder Wohnmobil. Im Sommer bringt eine Autofähre Besucher vom Hafenort Tobermory auf die Insel. Im Nordosten verbindet eine Autobrücke die Insel ganzjährig mit dem Festland.
Einreise: Neben einem gültigen Reisepass benötigt man eine elektronische Reisegenehmigung (eTA), die umgerechnet circa 4,50 Euro kostet.
Unterkunft: Das Angebot ist eher spärlich. In der Hauptsaison ist es daher ratsam, frühzeitig zu reservieren.
Touren/Aktivitäten: Indigen-geführte Touren und kulinarische Erlebnisse auf Manitoulin Island in den Sommermonaten kosten bei Wikwemikong Tourism zwischen 100 und 225 Kanadische Dollar für Erwachsene. Der Eintritt das indigenes Kulturzentrum Ojibwe Cultural Foundation ist frei. Währung: 1 Euro entspricht 1,57 Kanadischen Dollar (CAD; Stand: 11.06.2025).
Weiterführende Informationen: destinationontario.com; exploremanitoulin.com © Deutsche Presse-Agentur