Urbania - Sechs Frauen mittleren Alters eiern in knallgelben Gummianzügen und Schwimmwesten die letzten zehn Meter zum Flussufer: Teils knöcheltief versinken die Füße im rostbraunen Schlick, ein jeder Schritt mit einem lauten, saugenden "Schlotz".
Alle wirken froh, als sie es zum Auftakt der Tour bis zum Schlauchboot geschafft haben. Aber keine der Frauen weiß, was jetzt passieren wird. Rafting in Kanada oder anderswo - dabei geht normalerweise paddelnd über Stromschnellen. Aber das angekündigte "Tidal Bore Rafting"?
Der Plan lautet, mit einem Guide in einem Festrumpfschlauchboot gegen die Gezeitenwelle - so lässt sich "Tidal Bore" übersetzen - im Flussbett anzusteuern. Diese Welle schaukelt sich mächtig auf, wenn in der Bay of Fundy die Flut kommt: Mit bis zu 21 Metern hat die kanadische Meeresbucht den höchsten Tidenhub der Welt. Ist es soweit, wird das Meerwasser über die Mündung in den Shubenacadie River gedrückt. Dass unsere Tour zehn Kilometer von der Flussmündung entfernt startet, spricht Bände.
Zwergwal auf der Sandbank
Noch plätschert der Shubenacadie friedlich vor sich hin. "Wer vorn sitzt, wird nass", warnt Lucas Gamp, Guide des Tidal Bore Rafting Resort, wirft den Motor an und legt ab. Gemächlich geht es stromabwärts, ein kurzer Stopp an einer Sandbank, die während der Ebbe aus der Flussmitte ragt.
Am Tag zuvor hat der Kanadier dort mit einer anderen Gästegruppe einen gestrandeten Zwergwal gefunden. "Es roch sehr fischig, und dann sahen wir alle plötzlich diesen Wal." Das Tier lag in einem nur 20 Zentimeter tiefen Gezeitenpool und lebte noch. Er und andere übergossen ihn mit Wasser, bis die Flut den Meeressäuger auslöste.
Wenige Minuten später rollt etwas heran, dass für uns nicht gerade nach Rettung aussieht: eine Art Mini-Tsunami, vielleicht einen halben Meter hoch. "Das ist die Gezeitenwelle", sagt Lucas. Die Welle wirkt harmlos, es fühlt sich aber seltsam an, auf etwas zuzusteuern, das sich gegen die eigentliche Strömung des Flusses voranarbeitet.

Sicherheitshalber klammern sich alle an die Leine des Schlauchboots, ein anderer Halt ist nicht zu finden. Als die Welle das Boot erreicht, schaukelt es. Erste spitze Schreie ertönen, noch sind alle trocken.
Vier Meter hohe Wellen
Aber das war nur der Anfang. Von nun an steuert Lucas immer wieder in großem Bogen auf die Flussmitte zu. Da, wo vorher die Sandbänke sichtbar waren, wiegt das Wasser deutlich unruhiger auf und ab.
Lucas lässt das Boot auf einem Wirrwarr aus sogenannten stehenden Wellen kreuzen - wie man sie von Stromschnellen kennt. "Sie entstehen durch große Wassermengen, die durch eine enge Stelle im Fluss fließen", sagt der 22-jährige Guide und kündigt für unseren Fall an: "Sie können bis zu vier Meter hoch werden."
Immer wieder hebt das Motorboot ab und platscht aufs Wasser. Eine fette Gischt peitscht von vorn ins Boot, alle kreischen, und die vorderen beiden Frauen sind geduscht. Dann noch eine Welle und noch eine.
Wohl der, die ihr Mobiltelefon nicht an Bord hat oder gut foliert um den Hals baumeln lässt. Tonnen von Wasser landen im Boot, so fühlt es sich zumindest an. "Don’t worry!" - ihr braucht keine Sorgen zu haben. Das sagt Lucas selbst dann noch, als das Boot gut aufgefüllt einer fahrenden Badewanne gleicht. Alles normal. Durch zwei Öffnungen hinten im Boot fließen die nassen Massen wieder ab.
Schlammrutschen als Abschluss
Nach einer zweistündigen Wildwasserfahrt im Schlauchboot, die ihresgleichen sucht und zum Heidenspaß gerät, auch wenn oder gerade weil die Wellen "nur" zwei Meter hoch waren, steuert Lucas zurück zum Ufer. Ein schmieriger Abschluss wartet, für den sich nicht alle begeistern können.
Aber Mudsliding, das Schlammrutschen an einem rostbraunen Hügel, gehört zum Programm des gebuchten Tidal Bore Raftings. Je weiter die Ebbe vorangeschritten ist, desto mehr schlammige Hänge im Uferbereich werden freigelegt.

Die Abwartenden schauen erst mal zu, wie die Draufgänger plötzlich hüfttief in Wasser und Schlick versinken, sich auf allen Vieren den glitschigen Hügel hochkämpfen und dann auf dem Popo den Hang wieder herunterrutschen. Eine besonders Tapfere macht eine Runde auf dem Bauch mit dem Gesicht voran.
Mittlerweile ist ohnehin alles wurscht, das Schlammwasser dringt in alle Poren, und die blauen T-Shirts sind jetzt braun. Das ändert sich auch beim anschließenden Bad im braunen Fluss nicht, der im Juni immerhin 20 Grad hat.
Noch nach dem späteren Waschen lässt sich immer noch bräunliches Wasser aus dem Shirt wringen. Tidal Bore Rafting - das ist ein nachhaltiges Erlebnis, das man wohl nicht vergessen wird. Das gilt für unsere Tour auch im Speziellen: Denn der gerettete Wal wurde tags darauf quicklebendig an der Flussmündung gesichtet.
Links, Tipps, Praktisches:
Das Reiseziel: Nova Scotia zählt zu den kleineren Ostprovinzen Kanadas und lässt sich gut in 14 Tagen bereisen. Die Zeitverschiebung beträgt fünf Stunden.
Beste Reisezeit: Mai bis Oktober
Anreise: Ab Frankfurt/Main gibt es Nonstop-Flüge nach Halifax, der Provinzhauptstadt. Urbania am Shubenacadie River liegt eine knappe Autostunde weiter nördlich.
Einreise: mit Reisepass. Zudem muss eine elektronische Reisegenehmigung (electronic Travel Authorization - eTA) beantragt werden, die umgerechnet 4,5 Euro kostet.
Unterkünfte: Das "Tidal Bore Rafting Resort" bietet einfache Cottages für zwei bis 16 Personen (ab etwa 140 Euro pro Nacht). Weitere Unterkünfte vom Campingplatz bis zum Ferienhaus mit Blick aufs Meer finden sich auf novascotia.com.

Tidal Bore Rafting: Das Mindestalter liegt bei sechs Jahren, man muss in der Lage sein, sich alleine festzuhalten. Neben den erwähnten Resort gibt es weitere Anbieter darunter Fundy Tidal Bore Adventures und Shubie River Wranglers, eine Liste auch unter novascotia.com.
Weitere Aktivitäten: Spannend ist auch eine geführte Wattwanderung im Burncoat Head Park. Wer die Provinz erkundet, sollte sich auch das Fischerdorf Peggy's Cove sowie die auf deutsche Siedler zurückgehende Hafenstadt Lunenburg nicht entgehen lassen, die mit ihren farbenprächtigen hölzernen Kapitänsvillen zum Unesco-Weltkulturerbe zählt. Allein die Fahrt entlang der Küstenstraße ist ein Erlebnis.
Geld: 1 Kanadischer Dollar entspricht 0,64 Euro (Stand: 21.05.2025), Kartenzahlung ist üblich.
Weiterführende Informationen: keepexploring.de © Deutsche Presse-Agentur