"Kinder im Gazastreifen verhungern" – so drastisch sagt es Edouard Beigbeder, UNICEF-Regionaldirektor für den Nahen Osten und Afrika, in einem Statement. Die Lage vor Ort ist dramatisch. Nun dringen erste Hilfslieferungen wieder durch.
Die Menschen in Gaza hungern seit Monaten. Seit Februar ist die Zahl mangelernährter Kinder um 180 Prozent gestiegen. "Schwere Mangelernährung bei Kindern breitet sich schneller aus, als Hilfe sie erreichen kann. Und die Welt sieht tatenlos zu", betont Beigbeder. Viele Kinder berichten von Schwindel, sie brechen zusammen, sind zu schwach, sich zu bewegen.
Bereits im Juni wurden 6.500 Kinder wegen Mangelernährung behandelt. Vor allem für kleine Kinder ist diese gefährlich. Denn besonders in den ersten fünf Jahren ist es entscheidend für die Entwicklung der Kinder, ausreichend ausgewogene Nahrung und Nährstoffe zu sich zu nehmen.
Kleine Kinder, die mangelernährt sind, können in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung gestört sein. Dies kann Auswirkungen auf den Rest ihres Lebens haben. Gleichzeitig sind sie anfälliger für Infektionskrankheiten. Dies ist an einem Ort wie Gaza, wo die hygienischen Bedingungen schlecht sind und es kaum sauberes Wasser gibt, fatal.
Die Zerstörung des Gazastreifens ist immens
Sonia Silva, Leiterin des UNICEF-Büros in Gaza, berichtet aus erster Hand von dem, was sie im Gazastreifen sieht: "Wenn man von Süden nach Norden durch den Gazastreifen fährt, sieht es aus, als hätte es gerade eine große Naturkatastrophe gegeben. Das Ausmaß der Zerstörung hat ein beispielloses Level erreicht und die zivile Infrastruktur sowie ganze Stadtteile verwüstet", so Silva. "Die Gebäude stehen nicht mehr. Die Menschen leben in zerstörten Häusern, Zelten und auf der Straße."
Sauberes Wasser ist ebenfalls Mangelware
Im Gazastreifen spielen viele Faktoren ineinander und verschlimmern die Lage der Menschen weiter. So sorgt der Mangel an Treibstoff dafür, dass Wasserpumpen und Wasseraufbereitungsanlagen nicht funktionieren. Die Menschen müssen auf verunreinigtes Wasser zurückgreifen, wodurch sie sich einer erhöhten Gefahr von Krankheiten aussetzen. Es ist ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint.
Catherine Russell, Exekutivdirektorin von UNICEF, zieht ein bedrückendes Fazit: "Kinder sind keine politischen Akteure. Sie starten keine Konflikte und sind machtlos, sie zu beenden. Aber sie leiden enorm und fragen sich, warum die Welt sie im Stich lässt. Und machen wir uns nichts vor: Wir haben sie im Stich gelassen."
Verzweifelte Suche nach Nahrung endet tödlich
Die verzweifelte Suche nach Nahrung hat sich zu einer weiteren Gefahr im Gazastreifen entwickelt. Immer wieder gibt es Berichte über Schüsse und Angriffe bei der Verteilung von Essen und Hilfsgütern. So erging es auch der Mutter Reem Zidan, die mit ihren Kindern zu einem Verteilungspunkt in Rafah wollte und nie wieder von dort zurückkam.
Ihr Sohn Ahmad erzählt UNICEF, dass er gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester Mervat die ganze Nacht zum Verteilungszentrum lief. Tausende Menschen seien dort gewesen. Mervat erinnert sich, dass auf einmal Schüsse fielen. "Ich hörte ein Mädchen schreien. Ich drehte mich um und sah meine Mutter fallen. Sie war voller Blut."
Die Geschwister fanden sich in dem entstandenen Chaos wieder und suchten einen Weg, die Leiche ihrer Mutter zurück nach Hause zu bringen. Ohne ihre Mutter ist das Leben der Familie noch härter geworden. Der 15-jährige Ahmad schließt seine Geschichte mit den Worten: "Sie ging los, um uns Essen zu bringen. Sie kam in einem Leichentuch zurück."

Psychologische Belastung für Kinder dramatisch
Durch den andauernden Krieg, die dramatischen humanitären Bedingungen, den Hunger, die Toten und Verletzten haben Kinder ihre Kindheit verloren. Das, was sie erlebt haben, so Russell, wird sie ein Leben lang prägen. "Bereits vor Beginn des Konflikts war jedes zweite Kind in Gaza auf psychosoziale und psychologische Hilfe angewiesen. Heute ist es jedes Kind."
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Erste Hilfsgüter kommen nach Gaza
Nach monatelangen Blockaden erreichen derzeit erste Hilfsgüter wieder den Gazastreifen. Gestern konnten etwa 100 Lastwagen den Grenzübergang Kerem Schalom überqueren. Dies berichteten Quellen der dpa vor Ort. Die Wagen enthalten Babynahrung, Medikamente und Lebensmittel. Zudem soll laut Angaben des Militärs auch eine Wasseraufbereitungsstation wieder an das Stromnetz angeschlossen worden sein.
Um den mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen nachhaltig zu helfen, ist dies jedoch nicht ausreichend.
Verwendete Quellen
- Bericht von Sonia Silva
- unicef.org: Statement Catherine Russell
- unicef.de: Statement Edouard Beigbeder
- Bericht der Geschwister Ahmad und Mervat: UNICEF Datenbank
- tagesschau.de: Größere Mengen an Lebensmitteln erreichen Gaza