Noch nie vor ihr hatte eine Frau den höchsten Berg der Welt erklommen: Die Japanerin Junko Tabei war am 16. Mai 1975 die erste Frau, die allen Widerständen getrotzt und mit einem Team aus Frauen den Mount Everest bestiegen hat. Auch ein Lawinenunglück konnte die lebensfrohe und umweltbewusste Frau nicht aufhalten.
Später erzählte Junko Tabei, wie sie ihre dreijährige Tochter Noriko noch vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte. Noriko habe auf der Beerdigung ihrer Mutter geweint. Vor Tabeis Augen tanzten lilafarbene Punkte, die sich schwarz färbten. In dem Moment dachte sie: "Jetzt ist es aus. Jetzt musst du sterben."
Dann fiel sie in Ohnmacht. Sechs Minuten lang war die damals 35-jährige Tabei bewusstlos, bis ein Sherpa sie aus den Schneemassen zog. Eine Lawine hatte sie begraben, als sie auf der größten Tour ihres Lebens unterwegs war.
Junko Tabei schaffte es: Sie kam als erste Frau am Gipfel des Mount Everest, des höchsten Berges der Welt, an. Ein Vorhaben, das vor genau fünfzig Jahren, am 16. Mai 1975, noch mit erheblich mehr Risiken verbunden war als heutzutage. Die 2016 verstorbene Japanerin ist bis heute ein Vorbild: als Bergsteigerin, Umweltaktivistin – und selbstbewusste Frau.
Junko Tabei gründet Bergsteiger-Club mit ausschließlich weiblichen Mitgliedern
Als Kind war Junko Ishibashi, so lautete ihr Mädchenname, klein, zierlich, gebrechlich. Sie war die jüngste von sieben Geschwistern in einem fortschrittlichen Elternhaus, aber alles andere als sportlich. Das sollte sich ändern, als sie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Schulklasse den Gipfel des Vulkans Nasu-dake bestieg. "Beim Hinaufgehen merkte ich: Hier kann jeder sein Tempo selbst wählen, hier gibt es keine Konkurrenz", erzählte sie vor einigen Jahren dem "Spiegel". "Der Blick, den ich von da oben hatte, veränderte alles. Ich entdeckte eine völlig neue Welt."
Das Bergsteigen ließ sie ab da nicht mehr los. Während ihres Studiums der englischen und amerikanischen Literatur an der Showa Women's University in Tokio wollte sie einer Bergsteigergruppe beitreten, sie bestand jedoch ausschließlich aus Männern. Die Mitglieder hatten Vorbehalte, die zierliche Studentin aufzunehmen und mit ihr klettern zu gehen. Das hatte auch religiöse Gründe, denn im Volksglauben Japans galten Frauen lange Zeit als unrein, Berge allerdings als heilig – beides ließ sich also für viele Menschen nicht so einfach vereinbaren.
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Im Jahr 1969 gründete die 1,52 Meter kleine Frau mit 30 Jahren schließlich den "Ladies Climbing Club Japan", der ausschließlich aus weiblichen Mitgliedern bestand. Das Ziel der Frauen war das Himalaya-Gebirge.
Lange Wartezeit für den höchsten Berg der Welt
Der Leitspruch der selbstbewussten Frauen: "Let's go on an overseas expedition by ourselves (dt. Lasst uns alleine auf eine Übersee-Expedition gehen)." Tabei war Selbständigkeit von jeher sehr wichtig. Bereits ein Jahr später, im Jahr 1970, bezwang sie mit ihrer Gruppe den Annapurna III., einen schwierigen Gipfel im Himalaya mit einer Höhe von 7.555 Metern. Schnell war ihr nächstes Ziel klar: der Mount Everest. Dafür musste die Gruppe eine Bewerbung einreichen, denn damals war pro Jahr nur eine bestimmte Anzahl an Menschen auf dem Mount Everest erlaubt.
Im Jahr 1972, sie war gerade im vierten Monat mit ihrer Tochter schwanger, erhielt sie den Zuschlag für 1975. Ihr Mann Masunobu, mit dem sie die Leidenschaft fürs Bergklettern teilte, unterstützte sie bei ihrem Vorhaben. Doch er hatte sich ein Kind gewünscht, bevor sie die Expedition antrat.
Tabei hatte nur knapp drei Jahre Zeit, um ihre reine Frauenexpedition vorzubereiten – und es fehlte an allem. "Die meisten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Selbst Bergsteiger waren sich sicher, dass wir es nicht schaffen würden", sagte Tabei dem Spiegel.
Das Budget für das Wagnis war knapp: Erst im letzten Moment gaben ein TV-Sender und eine Zeitung etwas Geld dazu. Es war das Jahr der Frauenbewegung und die Medien wollten die Gleichberechtigung von Frau und Mann mehr in den Fokus rücken. Doch das war nicht genug: Sauerstoffmasken sollten schließlich erst ab etwa 7.500 Metern eingesetzt werden, Steigklemmen hatten die Frauen kaum.
Eine beinahe tödliche Mission
15 Frauen, neun Sherpas und ein Kamerateam machten sich im März 1975 auf den Weg. Die Gruppe nahm dieselbe Route wie Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay, die vor 22 Jahren als erste Bergsteiger den Mount Everest bezwungen hatten. Auf dem Weg zum Basecamp begegneten sie einer Gruppe um den Südtiroler Bergsteiger Reinhold Messner. Er berichtete später, die Frauen haben ihre Anführerin als "ausdauernd wie ein Mann" beschrieben, die "arbeite wie ein Tier".
Vielleicht war es ihre Ausdauer, vor allem aber war es der Einsatz der Sherpa, der Tabei Anfang Mai das Leben rettete, als sie von einer Lawine verschüttet wurde. Sie verbrachte mehrere Tage im Sauerstoffzelt und stieg ein Stück ab, um sich zu erholen. Sie hatte Prellungen am ganzen Körper, ihr Rücken schmerzte, aber Tabei wollte nicht aufgeben.
Das letzte Stück beschrieb sie später so: "Es war schrecklich anstrengend, ich schleppte mich wie in Trance voran, Hand in Hand mit Sherpa Ang Tshering." Kurz vor dem Gipfel tat sich ein eisiger Grat auf, bei dem jeder Schritt sitzen musste. Zwölf Tage nach dem Lawinenunglück erreichte sie den Gipfel. "Ich wollte keinen einzigen Schritt mehr tun. Nie mehr", sagte sie. Nie verschwieg sie – im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen – dass sie die Expedition nur mit Hilfe der Sherpas geschafft hatte.

Die Umwelt lag Junko Tabei am Herzen
Zeit ihres Lebens setzte sich Tabei für den Erhalt der Natur ein. Sie gründete 1990 den "Himalayan Adventure Trust of Japan", einen Verein, der sich für den Umweltschutz in der Region stark machte. 2011 half sie nach dem Erdbeben in ihrer Heimat Fukushima beim Aufbau, später bei einem Unglück in Nepal.
2016 starb Tabei im Alter von 77 Jahren an Bauchfellkrebs. Bis ins hohe Alter kletterte sie selbst, war die erste Frau, die die höchsten Gipfel aller sieben Kontinente erklomm. Satt gesehen hatte sie sich nie: "Da oben fühle ich mich gelassen, frei von Sorge. Da oben merke ich: Es ist ganz egal, was die Menschen denken."
Korrektur: In einer früheren Version bezeichneten wir Reinhold Messner als deutschen Bergsteiger. Er ist aber natürlich Südtiroler. Wir haben das korrigiert.
Verwendete Quellen
- Spiegel.de: Erste Frau auf dem Mount Everest: "Der Wille zählt"
- Tagesspiegel.de: Auf dem Mount Everest 1975: Junko Tabei: Die erste Frau an der Spitze
- Deutsche Welle: Everest-Pionierin Tabei ist tot
- ARD Alpha: Junko Tabei besteigt als erste Frau den Mount Everest
- BR: Junko Tabei erreicht als erste Frau den Mount Everest
- Welt.de: Die Frau, die erst ein Kind bekam und dann den Everest bestieg