Neandertaler mussten sich in einer harschen Umwelt behaupten - und sicherten ihr Überleben mit Knochenfett, wie eine Studie zeigt. Forscher sehen Parallelen zu Strategien nordamerikanischer Ureinwohner.

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Neandertaler haben einer Studie zufolge schon vor 125.000 Jahren in Mitteleuropa eine Art prähistorische Fettfabrik betrieben. Etwa zehn Kilometer südlich des heutigen Halle kochten sie Fett aus dem Mark zertrümmerter Knochen hunderter Großsäuger wie Hirschen und Pferden aus. Der bislang früheste klare Beleg für ein solches Vorgehen stammt vom Homo sapiens im heutigen Portugal und ist 28.000 Jahre alt - zu dieser Zeit waren die Neandertaler längst ausgestorben.

Das internationale Forschungsteam deutet die Funde an der Grabungsstätte Neumark-Nord im Fachjournal "Science Advances" als Beleg für die schon damals ausgeklügelten Fähigkeiten dieser Menschen.

Fett als überlebenswichtiger Nährstoff

"Die Neandertaler gingen äußerst planvoll vor – von der Jagd über den Transport der Kadaver bis hin zur Fettgewinnung an einem speziell dafür genutzten Ort", erklärt der leitende Archäologe Lutz Kindler vom Monrepos - Archäologisches Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution in Neuwied. "Sie wussten um den hohen Nährwert von Fett und verstanden, wie man es effizient zugänglich macht." Demnach brachten die nächsten Verwandten des Homo sapiens einzelne Körperteile ihrer Beute an geschützte Lagerstellen, um sie später gezielt zur Fettgewinnung zu nutzen.

Gerade bei Jäger-und-Sammler-Gesellschaften in kühleren Regionen gilt Fett als wertvoller Nährstoff, der insbesondere dann überlebenswichtig ist, wenn sonstige Nahrung knapp wird - etwa im Frühjahr und Winter. Fett kann aus Knochenmark gewonnen werden, indem man die Knochen zerschlägt, in Wasser erhitzt und das an die Oberfläche aufsteigende Fett abschöpft.

Diese Technik wurde vom Homo sapiens seit Zehntausenden von Jahren genutzt - unter anderem auch von nordamerikanischen Ureinwohnern. Allerdings gelangte der moderne Mensch erst vor grob 50.000 Jahren nach Mitteleuropa, nach Amerika sogar erst vor rund 20.000 Jahren.

Verfahren war wohl schon den Neandertalern bekannt

Dass das Verfahren wahrscheinlich noch wesentlich älter ist und bereits bei Neandertalern bekannt war, schließt das Team um Kindler aus einer Reihe von Funden aus Neumark-Nord bei Halle. Dort erstreckte sich vor rund 125.000 Jahren eine Seenplatte, das Gebiet wird seit rund 40 Jahren archäologisch erforscht.

Grabungsstätte Neumark-Nord
Funde an der Grabungsstätte Neumark-Nord weisen auf eine "Fettfabrik" hin. © Roebroeks, Leiden Univ

Auf einem kleinen Areal, das damals vermutlich an einem See lag, barg das Team über 120.000 kleine Knochenfragmente sowie mehr als 16.000 Feuersteinwerkzeuge und andere Artefakte - das meiste davon auf einer Fläche von nur etwa 50 Quadratmetern. Die Knochen stammen der Studie zufolge von Großsäugern wie Hirschen, Pferden und Auerochsen.

Dass Neandertaler während der Eem-Warmzeit - mit einem ähnlichen Klima wie heute - regelmäßig in der Region Neumark-Nord jagten, war bereits bekannt. Wenn sie dabei mehr Tiere erlegten als sie sofort verzehren konnten, lagerten sie - so die Interpretation des Forschungsteams - die überschüssigen Teile, darunter besonders fetthaltige Knochen, in Depots, um ganzjährig eine stabile Nährstoffversorgung zu ermöglichen.

Nachweise für "Fettfabrik"

Zudem betrieben sie eine Art Fettfabrik. Das folgert das Team aus verschiedenen Indizien. Dazu zählt vor allem die hohe Dichte kleiner Knochenfragmente von mindestens 172 großen Säugetieren, die meisten davon unter drei Zentimeter lang. Das Fehlen von Raubtierverbiss spricht dafür, dass die Zerkleinerung der Knochen auf Menschen zurückgeht und nicht auf Tiere.

Gefunden wurden vor allem Knochen mit einem typischerweise hohen Fettgehalt wie Oberschenkel, Oberarm und Schädel. "Je fetthaltiger ein Knochen ist, desto häufiger kommt er an der Fundstelle vor", sagt Kindler. Zudem bargen die Forscher in dem Areal mehr als 16.500 Steinwerkzeuge verschiedener Größe. Hinzu kamen viele indirekte Hinweise auf Feuer, darunter Holzkohlereste sowie Steine und Knochen mit Hitzespuren.

"Die Produktion von Knochenfett ist die einzige Erklärung, die zu den Funden passt", meinte Kindler. Hinzu kommt: Die Knochen stammen aus einer dünnen Fundschicht. Sie sammelten sich also in einem kurzen Zeitraum an - nach Einschätzung Kindlers vermutlich in einem einzigen Jahr, höchstens binnen weniger Jahre.

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Zwar fehlt ein direkter Beleg für das Auskochen von Knochen, der sei aber auch kaum möglich, sagt Kindler. Denn über die lange Zeit konserviert wurden die Fragmente vermutlich durch einen plötzlichen Anstieg des Seespiegels.

Jäger und Sammler hatten Vorratshaltung

Die Erkenntnisse passten zu ethnohistorischen Berichten zur Herstellung von Knochenfett - etwa von nordamerikanischen Ureinwohnern, schreibt das Team, dem mit dem US-Anthropologen John Speth von der University of Michigan auch ein Experte für Jäger-und-Sammler-Gesellschaften angehört. Dort wurde Knochenfett auch zur Herstellung von Pemmikan genutzt, einer Mischung von zerstoßenem Fleisch und Fett, die sehr lange haltbar ist. "Ohne Vorratshaltung konnten Jäger und Sammler in höheren Breiten nicht überleben", erklärte Kindler.

"Wir sehen eine Jäger-und-Sammler-Population, die ihre Umgebung extrem gut genutzt hat und ihre Jagdbeute in mehreren Schritten systematisch verwertet hat."

Thomas Terberger von der Universität Göttingen

Thomas Terberger von der Universität Göttingen wertet die Interpretation der Funde als gut nachvollziehbar. Die Studie zeige, dass Neandertaler versierte Kenner ihrer Umwelt waren. "Wir sehen eine Jäger-und-Sammler-Population, die ihre Umgebung extrem gut genutzt hat und ihre Jagdbeute in mehreren Schritten systematisch verwertet hat", sagt der Archäologe, der nicht an der Studie beteiligt war. "Dieses strategische Vorgehen zeichnet ein Bild, das dem des frühen modernen Menschen in nichts nachsteht. Das war das komplette Programm."

Studien zu Neumark-Nord haben in der Vergangenheit wiederholt für Aufsehen gesorgt - etwa durch den Nachweis, dass Neandertaler hier Waldelefanten und Nashörner jagten. Zudem berichtete das Forschungsteam 2021 ebenfalls in "Science Advances", dass die Menschen hier vermutlich schon vor 125.000 Jahren gezielt ihre Umwelt umgestalteten. Demnach soll ihre Anwesenheit damals dafür gesorgt haben, dass für Jahrtausende eine offene Landschaft entstand - im Gegensatz zu den umliegenden dichten Waldgebieten.

"Neumark-Nord ist ein ungewöhnlicher Fundort, der von der Erhaltung her und der Vielfalt der Funde aus der letzten Warmzeit vor 125.000 Jahren seinesgleichen sucht", sagt Terberger. (Walter Willems, dpa/bearbeitet von sbi)