Wenn Frauen für Feminismus einstehen und auf faktische Ungerechtigkeiten hinweisen, wird häufig mit Sätzen wie "Wir sind doch längst gleichberechtigt" reagiert. Was aber, wenn Männer feministische Aufklärungsarbeit leisten? Darüber haben wir mit dem Autor Vincent-Immanuel Herr gesprochen.
Welche Sorge haben Männer, wenn es um Gleichberechtigung – etwa im beruflichen Kontext – geht? Und warum werden Fakten, wie der Gender Pay Gap, in der Debatte häufig negiert? Zusammen mit Martin Speer hat Autor und Berater Vincent-Immanuel Herr sich diesen Fragen gewidmet. In ihrem Buch "Wenn die letzte Frau den Raum verlässt – Was Männer wirklich über Frauen denken" liefern die beiden Männer einen Lösungsanatz.
Im Interview mit unserer Redaktion spricht Vincent-Immanuel Herr über Männertypen und erklärt, warum Männer sich und Sexismus kritisch hinterfragen sollten.
Welche typischen Argumente nennen Männer, vorzugsweise in Männerrunden, wenn es darum geht, sich gegen Gleichstellung auszusprechen?
Vincent-Immanuel Herr: Das häufigste Argument, das wir beobachten, ist ein Anzweifeln des Problems. Es fallen also Sätze wie "Frauen sind doch schon gleichberechtigt". In diesem Zusammenhang wird beispielsweise auf Politikerinnen in hohen Positionen, die Frauenquote oder das Grundgesetz verwiesen. Viele Männer zweifeln daran, dass das Problem der Gleichberechtigung tatsächlich so groß ist, wie von Frauen beschrieben und angeprangert. Damit einher geht ein Gefühl von Ungerechtigkeit durch Gleichstellungsmaßnahmen. Bedeutet: Viele Männer haben das Gefühl, Frauen würden übervorteilt und Männer benachteiligt werden. Das stimmt in den meisten Fällen nicht, die Angst und damit einhergehenden Komplexe begegnen uns dennoch immer wieder.
Die größte Angst von Männern bezieht sich also auf ihre berufliche Karriere?
So ist es. Die größte männliche Sorge, die wir beobachten, ist die Angst vor einem Karrierestop und damit einhergehenden Statusverlust. Das Gefühl, alles würde sich nur um Frauen drehen, spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Begleitet wird diese Sorge von einzelnen Anekdoten, die beispielsweise von einem Mann erzählen, der trotz hoher Qualifikation nicht befördert worden sei. Dabei handelt es sich bei diesen Geschichten in aller Regel um Einzelfälle. Insofern haben Männer häufig Sorge, trotz hoher Qualifikation nicht befördert oder gesehen zu werden. Ein Blick auf die Zahlen zeigt aber: Männer werden durchaus sehr oft befördert, vielfach sogar häufiger als Frauen.
"Männer müssen verstehen, dass struktureller Alltagssexismus nicht nur einige wenige Frauen betrifft, sondern fast alle"
Mit Aussagen wie "Frauen sind doch schon gleichberechtigt" wird das eigentliche Problem negiert, obwohl die Fakten dagegensprechen. Ich denke da etwa an den Gender Pay Gap. Wie erklären Sie sich das?
Das ist eine gute Frage. Männer erklären Zahlen und Fakten, wie etwa den Gender Pay Gap, gerne weg. Es folgen dann vermeintliche Argumente wie "Ist ja nicht meine Schuld, wenn Frauen nicht Ingenieurswissenschaften studieren" oder "Frauen wollen keine Führungsposition". Insofern wird die Schuld, etwa für den Gender Pay Gap, häufig bei den Frauen gesucht und strukturelle Probleme werden komplett übersehen. Was wir beobachten, ist eine hohe Emotionalität unter Männern bei Gleichstellungsthemen. In dieser Situation ist es für Männer entsprechend schwer, das Thema logisch zu betrachten. Eine Argumentation mit Zahlen und Fakten ist demnach häufig unerfolgreicher als ein emotionaler Zugang zu dem Thema. Dabei müssen Männer verstehen, dass struktureller Alltagssexismus nicht nur einige wenige Frauen betrifft, sondern fast alle. Verstehen sie also, dass eben auch ihre Partnerin, Schwester, Tochter oder Freundin betroffen ist, wird die persönliche Verbindung zu dem Problem hergestellt und Männer zeigen eine größere Bereitschaft, das Problem als solches anzuerkennen. Das setzt aber voraus, Männer mit sehr konkreten Alltagserfahrungen bezüglich Alltagssexismus oder Übergriffen zu konfrontieren.
In Ihrem Buch "Wenn die letzte Frau den Raum verlässt – Was Männer wirklich über Frauen denken" stellen Sie zehn verschiedene Männertypen und ihre Befindlichkeiten vor – einer von ihnen ist der Alphamann. Wer oder was ist der Alphamann?
Die Typen, die wir in unserem Buch skizzieren, sind keine wissenschaftlich fundierten Typen. Vielmehr haben wir sie als Denkhilfe für die Leserinnen und Leser eingeführt. So auch den Alphamann, der vorrangig im Business-Kontext auftaucht. Bei diesem Typ handelt es sich häufig um Workaholics, die das Wohl des Unternehmens über alles stellen und dasselbe auch von anderen erwarten. Häufig stehen sie für das sehr westdeutsche Alleinernährer-Modell: Der Mann arbeitet, die Frau bleibt zu Hause und kümmert sich um die Kinder. Der Alphamann ist nicht zwangsläufig ein schwerer Sexist. Dennoch hält er wenig von Gleichstellungsmaßnahmen und sieht vor allem Quoten sehr kritisch. Dabei übersieht er, dass der berufliche Aufstieg für Frauen oftmals deutlich herausfordernder ist. Aktiviert man jedoch einen Alphamann als Verbündeten rund um Gleichstellung, kann der Effekt immens sein. Spricht ein Alphamann also plötzlich über eine zwölfmonatige Elternzeit für Männer oder Job-Sharing-Modelle kann viel bewirkt werden.
Was hat es mit dem skizzierten Typen des Durchschnittsmannes auf sich?
Der von uns skizzierte Durchschnittsmann stellt, wie der Name schon vermuten lasst, den wohl häufigsten Männertypen dar. Er ist kein beinharter Sexist, versteht das Problem rund um Gleichstellung und strukturellen Sexismus aber nicht oder nur unzureichend. Vielmehr trägt er durch Vorurteile, Sprüche und vermeintliche Witze, die er unkommentiert stehen lässt, unwissend oder unbewusst zum Problem bei. Umfragen zeigen, dass rund die Hälfte der deutschen Männer gerne mehr Zeit mit den eigenen Kindern verbringen möchte. In der Praxis sieht es aber anders aus. Die Mehrzahl der Sorgearbeit wird weiterhin von Frauen gestemmt und Väter nehmen mit etwa 2,8 Monaten nur einen Bruchteil der Elternzeit. Für eben dieses Verhalten steht der typische Durchschnittsmann.
Wenn viele Männer in der Theorie also verstanden haben, dass wir von einem strukturellen Problem sprechen – warum handeln sie in der Praxis dann aber doch häufig anders?
Weil Männer nicht die strukturelle Dimension, sondern lediglich die Einzeldimension verstehen. Sie verstehen, dass Frauen Übergriffe und physische Gewalt erleben. Sie verstehen, dass Gewalt an Frauen falsch ist und oft auch, dass sexistische Sprüche nicht in Ordnung sind. Was sie nicht verstehen, ist die systemische Dimension, von der alle Frauen betroffen sind. Nicht nur die physische Gewalt ist ein Problem, sondern auch Verhaltensweisen, Kommentare, vermeintlich gut gemeinte Ratschläge, vermeintliche Komplimente. All diese kleinen Muster haben in der Fülle den Effekt, dass Frauen eingeschüchtert, zur Seite gedrängt oder unterbrochen werden. All das übersehen Männer. Und weil sie eben all diese Akte, die sich tagtäglich auf Frauen entladen, nicht erleben, ist es so schwer, ihnen die Problematik zu erklären.
Ich selbst bin ein weißer, deutscher Mann – ich erlebe defacto keine Diskriminierung. Wenn ich also über dieses Thema spreche, kann ich ansatzweise darüber sprechen, weil ich mich mit sehr vielen Frauen diesbezüglich ausgetauscht habe. Trotzdem spreche ich nicht aus eigener Erfahrung darüber – umso wichtiger ist es, aufzuklären. Denn wenn man so privilegiert ist wie ich als weißer Mann, ist es wirklich schwer sich vorzustellen, was Frauen erleben.
Wie sollten Männer sich also verhalten, wenn in einer Männerrunde beispielsweise sexistische Witze gemacht werden oder sie diskriminierende Strukturen erkennen?
Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass Männer aufzeigen, dass sexistische Sprüche nicht normal sind oder sein sollten. Der Fluss von Normalität in solch einer Situation sollte demnach unterbrochen werden. Häufig fallen in einer Runde sexistische Sprüche oder Witze, über die gelacht wird, ehe das Gespräch vollkommen normal fortgesetzt wird, als sei nichts gewesen. Diese Tatsache ist für mein Empfinden das viel größere Problem. Denn nicht nur sexistische Sprüche sind problematisch, sondern auch ihre Normalisierung. Ein Male Ally (männlicher Verbündeter; Anm. d. Red.) für Geschlechtergerechtigkeit, erkennt das und lässt solche Sprüche nicht unkommentiert stehen.
Was, wenn Männer sich in dieser Debatte angegriffen fühlen und mit Äußerungen wie "Ich bin doch selbst kein Sexist" reagieren?
Dann sind wir wieder bei der eingangs erwähnten Emotionalität. Denn viele Männer fühlen sich in faktenbasierten Diskussionen schnell in die Ecke gedrängt und von der sprichwörtlichen Sexismus-Keule angegriffen. Dabei übersehen Männer, dass eigentlich jeder Mann ein Sexist ist. Im Buch unterteilen wir die Männer in bewusste und unbewusste Sexisten. Bei den bewussten Sexisten handelt es sich um Sexisten oder Anti-Feministen, die keinen Hehl daraus machen, Frauen für weniger kompetent zu halten. Hier sprechen wir von der Minderheit der Männer. Der Großteil hingegen sind unbewusste Sexisten: Denn jeder Mann hat in seinem Leben schon sexistische Witze gemacht, Frauen unterschätzt, unterbrochen oder möglicherweise unbeabsichtigt verbal verletzt. Auch mein Kollege Martin und ich zählen uns dazu. Wir Männer müssen diesbezüglich einfach ehrlich sein und die Debatte um unsere männliche Verantwortung sollte auch von Männern maßgeblich geführt werden.
Viele der erwähnten Akte des Sexismus sind inzwischen so normalisiert, dass Männer sie nicht als sexistisch wahrnehmen. Umso weniger verstehen Sie also, dass Sexismus bereits im Kleinen beginnt und nicht erst bei physischer Gewalt. Die Lösung muss also sein, dass in einem wortwörtlich neuen Ton von und über Frauen gesprochen wird. Meiner Meinung nach kann dieser Wandel nur begrenzt von Frauen angestoßen werden – hier sind ganz klar die Männer gefragt.
Was wünschen Sie sich also?
Dass wir Männer uns und unser Verhalten mehr reflektieren. Das beginnt damit, ehrlich auszusprechen, selbst auch mal sexistisch agiert zu haben. Dabei geht es uns nicht darum, Männern ausschließlich Vorwürfe zu machen. Wir Männer wachsen in einem System auf, in dem Sexismus gegenüber Frauen völlig normal ist und akzeptiert wird. Insofern haben Männer kaum eine Chance, etwas anderes zu lernen. Umso schmerzhafter ist die Bereitschaft anzuerkennen, dass wir Männer Teil des Problems sind. Im besten Fall gelingt es uns aber in der Folge, Teil der Lösung zu werden.
Über den Gesprächspartner
- Vincent-Immanuel Herr ist ein deutscher Autor. Feminismus ist für ihn notwendige Grundlage für eine bessere Welt. Zusammen mit seinem Co-Autor Martin Speer ist er Teil des Berater- und Autoren-Duos "Herr & Speer". Sie schreiben Artikel und Bücher, halten Keynotes und Workshops. Gemeinsam sind sie HeForShe-Botschafter für UN WOMEN Deutschland und wurden im Jahr 2022 in den Gender Equality Advisory Council der G7-Staaten (GEAC) berufen. Ihr Engagement wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Jean Monnet Prize for European Integration, dem Innovation in Politics Award, dem Bayreuther Vorbildpreis und dem Blauen Bären der Stadt Berlin. Im Februar ist ihr Buch "Wenn die letzte Frau den Raum verlässt" erschienen.