Sechs von zehn Männern erfahren in ihrem Leben Gewalt. Nur wenige sprechen darüber. Das Männerhilfetelefon ist für viele Betroffene die erste Anlaufstelle. Psychologe Björn Süfke spricht mit Betroffenen am Telefon. Er erzählt Geschichten, die ihn bis heute nicht loslassen.
Triggerwarnung: Dieser Beitrag enthält Schilderungen von Gewalt.
Er hat gewartet. Jahrzehntelang. Hat verdrängt und geschwiegen. Dann, im Frühjahr 2020, sah der rund 70-jährige Mann einen kurzen Fernsehbeitrag über ein neues Hilfetelefon für Männer, die Gewalt erleben. Wenige Minuten später wählte er die Nummer. Zum ersten Mal in seinem Leben sprach er darüber, wie ihn seine Eltern in seiner Kindheit im Keller eingesperrt und misshandelt hatten.
"Ich würde das Folter nennen", erzählt der Psychologe Björn Süfke, der den Anruf entgegennahm. Es war der allererste Anruf, den er annahm – und er beschäftigt ihn bis heute. Der Anrufer hatte in seinem gesamten Leben aufgrund der traumatischen Erfahrung keine Bindung, keine Freundschaft und keine romantische Beziehung eingehen können. "Er hatte nie über seine Kindheit gesprochen. Nie. Und plötzlich tat er es. Eineinhalb Stunden lang. Mit mir, einem Fremden."
Solche Geschichten prägen Süfkes Arbeit. Seit 25 Jahren berät der Psychologe Männer, seit fünf Jahren leitet er das Hilfetelefon mit.
Anonym und niedrigschwellig: Hilfetelefon berät bei Gewalt an Männern
Grundsätzlich sind Frauen häufiger Opfer von Gewalt: 70,5 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt etwa sind weiblich. Doch Studien und Analysen zeigen, dass auch Gewalt gegen Männer verbreitet ist: Sechs von zehn Männern werden in ihrem Leben Opfer von Gewaltkriminalität. Rund 54 Prozent der Männer erleben mindestens einmal in ihrem Leben Partnerschaftsgewalt. Einer von 20 erlebt innerhalb einer Partnerschaft sexualisierte Gewalt.
Das Männerhilfetelefon ist seit April 2020 Anlaufstelle für Männer, die Gewalt erleben. Es wird von mehreren Bundesländern finanziert und richtet sich an Betroffene ebenso wie an deren Angehörige. Erreichbar ist es telefonisch, per Mail oder im Chat – anonym, kostenlos und niedrigschwellig. Die Telefonisten hören zu, beraten, vermitteln.
"Wir sprechen mit Männern, die wir mit klassischen Beratungsstellen nie erreichen würden", sagt Süfke. "Oft leben sie in prekären Verhältnissen. Oft ist es ihre allererste Bitte um Hilfe."
Dass Männer sich Hilfe suchen, wenn sie Opfer von Gewalt geworden sind, sei keine Selbstverständlichkeit, betont Süfke. Denn: Sie schämen sich. Nur wenige sprechen darüber: Weniger als einer von zehn Männern meldet erlittene Partnerschaftsgewalt der Polizei. "Gewalt an Männern ist leider weiterhin ein Tabuthema", sagt Süfke.
"Männer haben oft keine Antwort auf die Frage, wie es ihnen geht."
Für Männer sei es ein Bruch mit ihrem Selbstbild, sich als Opfer zu erkennen. "Bei Gewalt an heterosexuellen Männern in Partnerschaften kommt noch dazu, dass sie Opfer einer Frau geworden sind", sagt Süfke. Viele könnten sich nichts Unmännlicheres vorstellen.
Hinzu kommt, dass Männern der Zugang zu ihren Gefühlen regelrecht ausgetrieben werde – durch die Gesellschaft, Erziehung, Film und Fernsehen. "Männer haben oft keine Antwort auf die Frage, wie es ihnen geht", erklärt Süfke. Deshalb unterscheide sich die Beratung von Männern fundamental von der von Frauen. Männerberatung müsse erst mal den Zugang zu den Gefühlen wiederherstellen, bevor sie überhaupt helfen kann.
Harte Fälle aufgrund niedriger Hemmschwelle
Laut dem Jahresbericht des Hilfetelefons 2024 stammen zehn Prozent der Anrufe bei der Hilfsstelle von Angehörigen und 16 Prozent von Fachkräften. Den größten Teil machen aber direkt von Gewalt betroffene Männer aus: Von ihnen stammen zwei Drittel der Anrufe.
Viele dieser Anrufe sind dramatisch: Ein Mann, der gerade von seiner Partnerin mit einem Messer bedroht wurde. Ein anderer, der ins Auto geflüchtet ist, um irgendwo sicher telefonieren zu können. Der nächste erzählt, er traue sich aufgrund von Stalking seit Monaten nicht mehr aus der Wohnung. "Mir wurden am Telefon Geschichten erzählt, die ich in 25 Jahren Präsenzberatung nie gehört habe", sagt Süfke. Die Fälle seien oft sehr hart, die Hemmschwelle sei niedriger als bei einer Beratung vor Ort.
Häufigste Gründe: Psychische, körperliche oder sexualisierte Gewalt
Häufig geht es um psychische, körperliche oder sexualisierte Gewalt, aber auch Stalking, Mobbing und Gewalt im öffentlichen Raum sind Thema. In fast der Hälfte der Fälle handelt es sich bei der mutmaßlichen Tatperson um die Partnerin oder den Partner des Betroffenen, gefolgt von Ex-Partnerinnen, Ex-Partnern und anderen Familienangehörigen.
Beim Hilfetelefon geht es in der Mehrzahl der Fälle um Gewalt im engsten sozialen Umfeld. Dabei erleben Männer laut Dunkelfeldstudien Gewalt eher im öffentlichen Raum – in Bars, auf der Straße, beim Sport. "Für Frauen ist der gefährlichste Ort in der Regel das eigene Zuhause und für Männer wird es besonders gefährlich, wenn sie dieses verlassen", erklärt Süfke. "Aber viele Männer, die in Partnerschaften Gewalt erleben, finden offenbar keine andere Anlaufstelle als das Hilfetelefon. Hier können wir eine Lücke schließen."
Der Bedarf ist da: 4.037 Kontakte verzeichnete das Telefon im Jahr 2024 – mehr als doppelt so viele wie 2020. Doch die Kapazitäten sind begrenzt: Es ist nur eine Leitung besetzt und diese nur tagsüber, nicht nachts, nicht am Wochenende. Gespräche dauern meist sechs bis 30 Minuten, manchmal auch länger als eine Stunde. "Viele kommen erst gar nicht durch, weil die Hotline belegt ist", sagt Süfke. "Die Zahl der Beratungsgespräche stagniert, nicht weil der Bedarf gedeckt ist, sondern weil wir an unsere Kapazitätsgrenzen stoßen."
Die Anrufe beantworten rund 15 erfahrene Fachkräfte mit psychologischem oder sozialpädagogischem Hintergrund. "Wir nehmen bewusst keine Berufsanfänger, weil die Arbeit sehr fordernd ist", erklärt Süfke. Zum einen, weil die Beratung am Telefon schwieriger ist als in Präsenz – ohne Körpersprache, nur mit Stimme. Zum anderen, weil man mit den schlimmsten Formen von Gewalt und Leid konfrontiert wird. "Das geht nicht spurlos an dir vorbei." Bei besonders belastenden Fällen tauschen sich die Telefonisten untereinander aus und bitten um Rat.
"Oft geht es einfach nur darum, die am wenigsten schlechte Lösung zu finden."
Bei den Anrufen gehe es meistens zunächst nur darum, zuzuhören. "Die Männer haben oft niemanden, der ihnen glaubt – weder das Umfeld noch die Polizei. Nur zuzuhören und zu sagen 'Ich glaube dir' kann oft schon viel bewirken", sagt Süfke. Ziel ist es dann, gemeinsam einen Plan zu entwickeln – oft mit einer Weitervermittlung an Psychologen oder an eine Männerschutzeinrichtung. Bundesweit gibt es allerdings nur 15 Schutzwohnungen für Männer mit insgesamt 49 Plätzen – deutlich zu wenig für den Bedarf. "Oft geht es einfach nur darum, die am wenigsten schlechte Lösung zu finden."
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Der Psychologe ist erschüttert, wie viel Leid Männer oft still ertragen. "Viele Männer erzählen vollkommen sachlich von den schlimmsten Formen jahrzehntelanger Gewalt." Wie sich das ändern kann? Die Scham müsse verschwinden, sagt Süfke. "Von Gewalt betroffene Männer müssen erkennen: Sie sind nicht allein und sie sind nicht schuld." Deshalb müsse Gewalt gegen Männer stärker thematisiert werden.
Die Sichtbarkeit des Problems würde auch denen helfen, die nie anrufen. "Jeder Mann, der öffentlich über Gefühle spricht, jedes Interview, jedes Beispiel schafft Gegengewichte zu alten Männlichkeitsbildern", erläutert Süfke. Nur wenn diese Normalität hergestellt wird, könne sich etwas ändern.
Hilfsangebote
- Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.
Über den Gesprächspartner
- Björn Süfke ist Psychologe, Männerberater und Autor. Er ist Geschäftsführer der Männerberatungsstelle "man-o-mann" in Bielefeld und Mitinitiator des Männerhilfetelefons. Er stammt gebürtig aus Lübeck und studierte in Bielefeld Psychologie. Dort absolvierte er auch seine Ausbildung in personzentrierter Psychotherapie.
Informationen über das Männerhilfetelefon
- Das Männerhilfetelefon wird von den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz finanziert. Es wurde im Jahr 2020 ins Leben gerufen.
- Sie erreichen die Beratung via Telefon unter 0800 1239900, im Sofort-Text-Chat oder via Mail.
Verwendete Quellen
- maennerhilfetelefon.de: Startseite
- maennerhilfetelefon.de: Jahresbericht 2024
- kfn.de: Männer in Deutschland sind in substanziellem Ausmaß von Partnerschaftsgewalt betroffen
- maennergewaltschutz.de: Aktuelle Lage und Bedarf
- bka.de: Bundeslagebilder: Häusliche Gewalt
- nomos-elibrary.de: Gewalt gegen Männer in Partnerschaften