Ein seit 1865 bekanntes Fossil ist mehrfach falsch bezeichnet worden. Jetzt entpuppt es sich als wichtige Entdeckung für die Evolutionsforschung. Palaeocampa anthrax, ursprünglich als Raupe beschrieben, ist tatsächlich der jüngste bekannte Vertreter einer Tiergruppe, die als Brücke zwischen primitiven Würmern und modernen Gliedertieren gilt.
Manchmal liegen die größten wissenschaftlichen Entdeckungen direkt vor unserer Nase – oder, in diesem Fall, in einer Museumsschublade. Ein unscheinbares, etwa vier Zentimeter langes Fossil, das seit über 130 Jahren in verschiedenen Sammlungen aufbewahrt wurde, hat sich als Schlüsselentdeckung für das Verständnis der frühen Tierevolution entpuppt.
Eine neue Studie, veröffentlicht im Fachjournal "Communications Biology", klassifiziert das Fossil Palaeocampa anthrax neu und zeigt, dass es sich um einen bisher unbekannten Vertreter einer ausgestorbenen Tiergruppe handelt, den sogenannten Lobopoden. Diese gilt als evolutionäres Bindeglied zwischen primitiven wurmartigen Tieren und modernen Gliedertieren wie Insekten und Krebstieren.
Lange Irrfahrt bis zur korrekten Klassifizierung
1865 wurde das Fossil zunächst als Schmetterlingsraupe klassifiziert - daher auch der Name, der "antike Raupe" bedeutet. In den folgenden Jahrzehnten wurde es abwechselnd als Wurm, Tausendfüßer und zuletzt als Borstenwurm eingeordnet.
Die Neubewertung begann, als Richard Knecht, damals Doktorand an der Harvard-Universität, im Museum of Comparative Zoology (MCZ) auf das Exemplar stieß. Ihm fiel auf, dass das Tier an jedem Körpersegment Beine hatte – was eine Einordnung als Raupe oder Wurm ausschloss.
"Manchmal sind die größten Entdeckungen diejenigen, die nur darauf warten, noch einmal neu betrachtet zu werden."
Ironischerweise befand sich das Fossil jahrzehntelang in einer Schublade. "Es war buchstäblich direkt vor unseren Augen versteckt", wird Knecht, der Hauptautor der Studie, in einer Mitteilung der Harvard Universität zitiert. "Manchmal sind die größten Entdeckungen diejenigen, die nur darauf warten, noch einmal neu betrachtet zu werden."
Forschungsteam stellt fest: Fossil ist der erste bekannte nicht-marine Lobopodier

Das Forschungsteam untersuchte daraufhin insgesamt 43 Exemplare aus zwei verschiedenen Fossillagerstätten und klassifizierte das Fossil schließlich als Lobopodier. Diese ausgestorbene Tiergruppe zeichnet sich durch wurmförmige Körper mit paarigen, ungegliederten Beinen - sogenannten Lobopoden - aus. Sie gelten als wichtige evolutionäre Zwischenstufe, die Aufschluss darüber gibt, wie sich moderne Gliedertiere entwickelt haben.
Bislang ging man davon aus, dass Lobopoden ausschließlich in marinen Umgebungen lebten und nach dem Kambrium vor etwa 485 Millionen Jahren weitgehend ausgestorben waren – mit Ausnahme ihrer heutigen Nachfahren, den mikroskopisch kleinen Bärtierchen und den landlebenden Stummelfüßern.
"Lobopoden waren wahrscheinlich ein häufiger Anblick auf den Meeresböden des Paläozoikums", sagt Knecht, "aber abgesehen von mikroskopisch kleinen Tardigraden und terrestrischen Samtwürmern dachten wir, dass sie auf den Ozean beschränkt waren."
Palaeocampa lebte wohl in Süßwasserumgebung
Die neue Untersuchung widerlegt diese bisherige Annahme allerdings. Palaeocampa lebte höchstwahrscheinlich in einer Süßwasserumgebung – im Gegensatz zu allen bisher bekannten fossilen Lobopoden, die ausschließlich aus marinen Ablagerungen bekannt waren.
Diese Entdeckung löst auch ein langjähriges Rätsel um die Fossillagerstätte Montceau-les-Mines in Frankreich. "Mazon Creek ist eine Mischung aus Land-, Süßwasser- und Meerestieren", erklärt Knecht. "Montceau-les-Mines, wo die Hälfte der Exemplare gefunden wurde, lag jedoch Hunderte von Kilometern landeinwärts, ohne Zugang zum Meer." Die Neubewertung von Palaeocampa bestätigt, dass diese Lagerstätte tatsächlich eine Süßwasserumgebung hatte, was einen seltenen Einblick in antike Süßwasserökosysteme ermöglicht.
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Die Entdeckung erweitere das Verständnis der Vielfalt der Lobopoden und werfe neue Fragen zur Evolution auf, heißt es in der Mitteilung zur Studie: "Wie viele andere haben den Sprung vom Meer ins Süßwasser geschafft und könnten noch in Museumsarchiven versteckt oder falsch identifiziert sein?" (bearbeitet von sbi)
Verwendete Quellen
- nature.com, Studie in "Communications Biology": Palaeocampa anthrax, an armored freshwater lobopodian with chemical defenses from the Carboniferous - Communications Biology
- Pressemitteilung der Harvard University: Hidden in plain sight: A century-old museum specimen turns out to be a landmark in evolution