Es handelt sich um eine ganz besondere Verbindung: Der in Gießen entwickelte Hexastickstoff könnte einmal der weltweit effizienteste Energiespeicher werden. Doch nicht nur deswegen gilt er manchen als Nobelpreiskandidat.

Mehr zum Thema Wissenschaft

Es ist eine ungewöhnliche, extrem energiereiche Substanz: Drei Forscher aus Gießen haben Hexastickstoff produziert, der aus einer Kette von sechs Stickstoffatomen besteht. "Dies ist das energiereichste Molekül, das jemals hergestellt wurde", sagte Studienleiter Peter Schreiner von der Universität Gießen der Deutschen Presse-Agentur. Zudem sei es zuvor weltweit nicht gelungen, eine isolierbare, neutrale Verbindung aus reinem Stickstoff zu produzieren, die mehr als zwei Atome hat. Das Team präsentiert seine Arbeit im Journal "Nature".

"Diese Arbeit ist spektakulär und meiner Meinung nach nobelpreiswürdig."

Karl Christe, deutscher Chemiker

"Diese Arbeit ist spektakulär und meiner Meinung nach nobelpreiswürdig", sagte der gebürtige deutsche Chemiker Karl Christe (88), Emeritus der University of Southern California, dem Magazin "Chemistry World". Er hat etliche Fachartikel zu Stickstoffverbindungen geschrieben.

Im Vergleich zur Kohlenstoffchemie, wo es zwei Nobelpreise für die Entdeckung reiner Kohlenstoff-Verbindungen - Buckyballs und Graphen - gegeben habe, sei dies bei solchen Stickstoff-Verbindungen um Größenordnungen schwieriger.

Hürden für Einsatz in der Praxis

Die bei der Zersetzung von Hexastickstoff frei werdende Energie ist nach Studienangaben rund zweimal größer als die der Sprengstoffe TNT oder Oktogen. Doch die Forscher blicken auf einen anderen Einsatz. "In der Tat wäre Hexastickstoff damit der effizienteste Energiespeicher", sagte Schreiner. Zudem entstehe beim Zerfall von Hexastickstoff (N6) lediglich der ungiftige, zweiatomige Stickstoff (N2). Er ist kein Treibhausgas und macht ohnehin 78 Prozent unserer Luft aus.

Lesen Sie auch

Für einen Einsatz in der Praxis sind jedoch bedeutende Hürden zu überwinden: Bislang entsteht Hexastickstoff zwar bei Raumtemperatur, hat dort aber eine Halbwertzeit von nur etwa 35,7 tausendstel Sekunden – dann ist die Hälfte zerfallen. Das sei lange genug, um den produzierten Hexastickstoff bei sehr tiefen Temperaturen aufzufangen. Bei minus 196 Grad Celsius habe er eine berechnete Halbwertszeit von über 100 Jahren. Das entspricht der Temperatur von flüssigem Stickstoff, der in vielen Laboren als Kühlmittel genutzt wird.

Halbwertszeit

  • Die Halbwertszeit T 1/2 beschreibt, nach welcher Zeitspanne sich die Menge eines Stoffes halbiert hat.

Großes Potenzial als Energiespeicher

Als Sprengstoff eigne sich Hexastickstoff wegen der nötigen Kühlung wahrscheinlich nicht, sagte Mitautor Artur Mardyukov der Deutschen Presse-Agentur. "Unsere Wunschvorstellung ist es, N6 als Energiespeicher zu nutzen."

Das Rezept für N6 funktioniert im Groben so: Die Grundzutaten sind die Atome Silber (Ag), Chlor (Cl) und Stickstoff (N). Zunächst reagiert Chlorgas mit Silberazid – dies hat ein Silberatom mit drei aneinandergereihten Stickstoffatomen (AgN3). Das Chlorgas ersetzt dabei das Silber, so dass Chlorazid entsteht, also Chlor und drei Sticktoffatome (ClN3). Diese Substanz reagiert wiederum mit dem noch vorhandenen Silberazid zu Hexastickstoff (N6).

Nicht nachkochen!

  • Schreiner und seine beiden Mitautoren Mardyukov und Weiyu Qian warnen Chemiker, die das nachkochen möchten, ausdrücklich, dass schon allein Silberazid und Chlorazid äußerst gefährlich und explosiv seien.

Kein ungefährlicher Stoff

Auch von N6 könnten laut Schreiner Gefahren ausgehen. "Die Handhabung sehr energiereicher Verbindungen ist immer mit Risiken verbunden, wenn deren Zersetzung unkontrolliert passiert und alle Energie auf einmal freigesetzt wird", sagte er laut Mitteilung der Universität Gießen.

Künftig müsse daher noch an der sicheren Herstellung und Handhabung von N6 gearbeitet werden und an der kontrollierten Umwandlung in gewöhnlichen Stickstoff (N2). Zudem sei es nötig, die Reaktion in größere Maßstäbe zu übertragen.

Schreiner hat eine weitere Vision für N6: Er wäre der effektivste Raketentreibstoff auf dem Planeten. "N6 würde nicht mit einer Flamme verbrennen", sagte er dem Magazin "Chemisty World". Es gebe nur einen Energiestoß, der ein großes Volumen an Gas produziere – also viel Schub. Zudem erzeuge er im Gegensatz zu herkömmlichen Treibstoffen keine Korrosion. (Simone Humml, dpa/bearbeitet von sbi)