Der Wirkstoff Lenacapavir schützt als Medikament fast perfekt vor einer HIV-Ansteckung. Dennoch muss dringend weiter an einem HIV-Impfstoff geforscht werden, um die Ausbreitung von Aids einzudämmen, sagen Fachleute.
Das Fachmagazin "Science" feierte den Wirkstoff Lenacapavir wegen überragender Studienergebnisse als Durchbruch des Jahres 2024: In der PURPOSE-1-Studie schützte das antivirale Medikament junge Frauen in Uganda und Südafrika vollständig vor einer HIV-Ansteckung. In PURPOSE 2, einer Studie, die in Südamerika, Asien, Afrika und den USA lief, lag die Wirksamkeit bei Männern, die Sex mit Männern haben, bei 99,9 Prozent.
Das Besondere: Lenacapavir muss nicht wie andere antivirale Medikamente zur Präexpositionsprophylaxe (PrEP) täglich als Tablette eingenommen werden, sondern es reichen zwei Injektionen im Jahr.
Präexpositionsprophylaxe – was ist das?
- Die Präexpositionsprophylaxe, kurz PrEP, gibt es seit 2012. Personen, die HIV-negativ sind und ein erhöhtes Ansteckungsrisiko haben, nehmen einen antiviralen Wirkstoff, bislang als Tablette, zu sich, um sich vor einer Ansteckung zu schützen. Das Medikament verhindert, dass sich die HI-Viren vermehren, sollten sie in den Körper gelangen.
Lenacapavir werde die weltweiten Infektionsraten drastisch senken, zeigen sich manche Fachleute optimistisch. "Es hat das Potenzial dazu, wenn wir es richtig machen, was bedeutet, dass wir es im großen Stil einsetzen und verbreiten müssen", zitiert "Science" die Infektiologin Linda-Gail Bekker von der Universität Kapstadt, die an einer der beiden PURPOSE-Studien beteiligt war.
Damit könnte der Wirkstoff die Welt dem Ziel des gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen UNAIDS näherbringen, das die Neuinfektionsrate bis zum Jahr 2030 weltweit auf unter 200.000 absenken will. Im Jahr 2023 lag sie noch bei 1,3 Millionen pro Jahr. Weltweit leben knapp 40 Millionen Menschen mit dem HI-Virus (in Deutschland knapp 97.000), 77 Prozent von ihnen haben Zugang zu antiviralen Medikamenten (Deutschland: rund 99 Prozent). Unter einer antiviralen Therapie ist eine Weitergabe des Virus sehr unwahrscheinlich.
Die in den PURPOSE-Studien beobachtete Wirksamkeit sei mit derjenigen vieler herkömmlicher Impfstoffe (gegen andere Erreger) vergleichbar, schrieb eine Gruppe von Fachleuten aus Südafrika, Zimbabwe und den USA in der April-Ausgabe des "New England Journal of Medicine": "Das zweimal jährlich verabreichte Lenacapavir hat wichtige Eigenschaften mit einem idealen HIV-Impfstoff gemeinsam: Es ist sicher und hochwirksam in der HIV-Prävention", so die Expertinnen und Experten. Der Wirkstoff sei außerdem stabil und könne bei Raumtemperatur versandt und gelagert werden. Der offensichtlichste Vorteil einer PrEP mit Lenacapavir: Sie ist nicht hypothetisch, sondern "jetzt verfügbar".
Die Vorteile einer HIV-Impfung
Aber braucht es dann überhaupt noch eine Impfung? "Ich denke, es wäre ein Fehler, sich auf Lenacapavir als Präventionsmaßnahme zu beschränken", sagt Klaus Überla, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Erlangen. Überla forscht selbst seit 30 Jahren an einem HIV-Impfstoff und plädiert dafür, dranzubleiben: "Eine wirksame HIV-Impfung hätte deutliche Vorteile gegenüber Lenacapavir", sagt Überla. Sie wäre länger wirksam und halbjährliche Injektionen von Lenacapavir würden vermieden.
Eine Impfung würde auch deutlich niedrigere Kosten verursachen. Außerdem bestünde ein geringeres Risiko für das Auftreten resistenter Virusvarianten: Die genetische Barriere für Mutationen, die eine Resistenz gegenüber Lenacapavir vermitteln, scheint nicht besonders hoch zu sein.
Dazu passt die Beobachtung in der PURPOSE-2-Studie: Bei zwei Männern in der Lenacapavir-Gruppe traten HIV-Infektionen auf. In beiden Fällen fanden sich HI-Viren mit Mutationen genau da, wo das Medikament ansetzt, nämlich an einer Art Kapsel, dem Kapsid im Inneren des Virus, das die virale RNA als Schutzschild umhüllt.
Wie Lenacapavir wirkt
- Das Medikament Lenacapavir ist seit gut zwei Jahren zur Behandlung von HIV-Patientinnen und -Patienten auf dem Markt, bei denen andere HIV-Arzneistoffe wirkungslos geworden sind. Lenacapavir interagiert mit den Bausteinen des Virus-Kapsids: Ein aus mehreren Untereinheiten aufgebauter Schutzschild im Inneren des Virus, der die RNA des Virus umgibt.
- Für eine erfolgreiche Vermehrung muss das Kapsid die RNA im Zellkern der infizierten Zelle freigeben. Lenacapavir hemmt genau diesen Schritt. Außerdem blockiert der Wirkstoff den Zusammenbau neuer Kapside und verhindert so die Bildung und Freisetzung neuer Viruspartikel in einer infizierten Zelle. Der Vermehrungszyklus des Virus kommt zum Erliegen.
Auch Christina Karsten, Juniorprofessorin für Impfstoffentwicklung vom Institut für die Erforschung von HIV und AIDS-assoziierten Erkrankungen des Uniklinikums Essen, hält es für sinnvoll, weiterhin nach einem HIV-Impfstoff zu suchen. Lenacapavir habe beeindruckende Ergebnisse zur Prävention von HIV-Infektionen geliefert. "Aber es muss dazu alle sechs Monate von medizinischem Personal verabreicht werden", sagt Karsten. Die dauerhaften Kosten, um weltweit eine durchgängige HIV-Prävention mit Lenacapavir zu gewährleisten, dürften zukünftig schwer zu decken sein.
Weiterhin sei für viele Menschen der regelmäßige Besuch einer Arztpraxis oder Ambulanz eine große logistische Herausforderung: "In einigen Teilen der Welt sind lange Wege und Transportkosten mit dem Besuch einer medizinischen Einrichtung verbunden, in anderen Fällen lässt es die persönliche Lebenssituation nicht zu, dass dazu Zeit aufgebracht wird", so Karsten.
Dennoch wäre es sinnvoll, Lenacapavir als zusätzliche Option zur HIV-Prävention zur Verfügung zu haben: "Wir werden nicht jeden mit einem HIV-Impfstoff erreichen können, so wie heute auch nicht jeder ein Kondom zur Verhinderung einer HIV-Infektion nutzt", sagt die Virologin. Menschen hätten individuelle Gründe, warum für sie bestimmte Präventionsmaßnahmen akzeptabel seien und andere nicht: "So ist zum Beispiel die tägliche Einnahme von Tabletten zur Verhinderung von HIV-Infektionen in Ländern mit sehr hoher Stigmatisierung schwierig, da die Personen, sollten sie mit ihren Medikamenten erwischt werden, den Ausschluss aus der Gemeinschaft fürchten müssen."
Ein Impfstoff, der eine dauerhafte Immunreaktion auslöst, wäre hier deutlich im Vorteil. In Ost- und Südafrika etwa gehören rund 40 Prozent der Personen, die sich mit dem HI-Virus anstecken, nicht zur Hochrisikogruppe, für die eine PrEP in Frage kommt. Ansteckungen finden hier überwiegend durch heterosexuelle Übertragungen statt. Eine PrEP würde man nie der Gesamtbevölkerung anbieten, sagt Ulf Dittmer, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Essen, "aber sehr wohl eine Impfung, wenn wir einen lange schützenden, erschwinglichen Impfstoff hätten".
US-Präsident Trump gefährdet mit Kürzungen UNAIDS
Die Kürzungen der Entwicklungshilfe unter US-Präsident Donald Trump bringen eine völlig neue Dringlichkeit in die HIV-Impfstoffsuche. Ohne die Gelder der USA für UNAIDS (und andere Programme wie PEPFAR) könnte die Aids-Pandemie erneut aufflammen: Die Exekutivdirektorin von UNAIDS, Winnie Byanyima, rechnet ohne die US-Gelder in den kommenden vier Jahren mit 8,7 Millionen zusätzlichen Infektionen und über sechs Millionen zusätzlichen Todesfällen. Tausende bekämen wegen des US-Stopps keine wichtigen Medikamente mehr.
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Schon vor dem Stopp von UNAIDS und PEPFAR seien in weiten Teilen der Welt nicht genügend Medikamente verfügbar gewesen, um Menschen mit HIV zu behandeln, sagt Alexandra Trkola vom Institut für Medizinische Virologie an der Universität Zürich. "Wenn der Stopp nicht zurückgenommen oder eine Ersatzfinanzierung gefunden wird, sind noch weniger Medikamente verfügbar. Das gefährdet die Gesundheit derjenigen, die keine Medikamente mehr bekommen, und kann Millionen Übertragungen auslösen", sagt sie.
"Wir brauchen einen HIV-Impfstoff, notwendiger denn je."
Lenacapavir sei gut, aber teuer und in den Schwellenländern, in denen HIV-Infektionen besonders häufig seien, bisher nicht verfügbar. Das schließt eine Anwendung zur Prophylaxe, die noch weit mehr Personen erreichen müsste als zur Behandlung, derzeit aus. "Wir brauchen einen HIV-Impfstoff, notwendiger denn je", sagt die Virologin.
Selbst im Einsatz bei kleineren Risikogruppen in reichen Ländern wie der Schweiz oder Deutschland sei Lenacapavir nicht immer die Lösung für alle. Wie bei allen Medikamenten könne es zum Teil störende Nebeneffekte geben, die, wenn auch moderat, speziell bei langfristiger Anwendung zur Prophylaxe nicht für alle Personen tolerierbar seien, sagt Trkola.
HIV-Impfstoffforschung steckt im Dilemma
In den 40 Jahren HIV-Impfstoffforschung haben es bisher von mehreren hundert Kandidaten nur acht Präparate in die fortgeschrittene klinische Phase 2 oder gar Phase 3 geschafft – und auch die nicht mit durchschlagendem Erfolg. Aktuell gebe es rund 20 Phase-1-Studien zu HIV-Impfstoffen, sagte der Virologe Hendrik Streeck vom Universitätsklinikum Bonn in einem Interview, das das "Deutsche Ärzteblatt" im vergangenen Jahr mit ihm führte. Doch stecke die Impfstoffforschung in einem Dilemma.
Streeck hebt auf eine ethische Problematik ab. Darf man angesichts der fast perfekt funktionierenden PrEP mithilfe von etwa Lenacapavir überhaupt noch Impfstoff-Studien machen, mit einem Impfkandidaten, der womöglich wesentlich schlechter vor einer Ansteckung schützt als die PrEP?
Die Macher der Mosaico-Studie zum Test eines Impfstoffs, der Bestandteile verschiedener HIV-Subtypen enthält, fanden eine Strategie: In die 2019 gestartete Phase-3-Studie nahmen sie nur Teilnehmende auf, die eine PrEP ablehnen. Insgesamt waren das 3.800 Personen. Allerdings wurde die klinische Studie schließlich wegen mangelnder Wirksamkeit des Impfstoffkandidaten abgebrochen – obwohl er in Phase 1 gute Ergebnisse erzielt hatte.
Aktuell setzt die Forschung auf mRNA-Impfstoffe und die Aktivierung spezieller Immunzellen, die breit neutralisierende Antikörper herstellen, also solche, die auch dann noch wirken, wenn sich das wandlungsfreudige HI-Virus verändert hat. Letztlich sind die meisten Fachleute der Ansicht, dass nur eine Kombination aus PrEP und Impfung die HIV-Epidemie beenden werde. Lenacapavir-Hersteller Gilead arbeitet derzeit an einer Produktverbesserung. Das Ziel: Statt zwei soll durch leichte Modifikationen des Wirkstoffs nur noch eine PrEP-Spritze pro Jahr für einen zuverlässigen Schutz ausreichen.
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Verwendete Quellen
- science.org: 2024 Breakthrough of the Year
- National Library of Medicine: Twice-Yearly Lenacapavir or Daily F/TAF for HIV Prevention in Cisgender Women
- National Library of Medicine: Twice-Yearly Lenacapavir for HIV Prevention in Men and Gender-Diverse Persons
- unaids.org: Global HIV & AIDS statistics — Fact sheet
- rki.de: Epidemiologisches Bulletin 28/2024
- The New England Journal of Medicine: An HIV Vaccine in the Era of Twice-Yearly Lenacapavir for PrEP — Essential or Irrelevant?
- Uniklinikum Erlangen: Virologisches Institut
- Universität Duisburg Essen: Arbeitsgruppe Karsten
- Universität Duisburg Essen: AG Ulf Dittmer
- state.gov: The United States President’s Emergency Plan for AIDS Relief
- tagesschau.de: UN-Aidsprogramm befürchtet Millionen Tote
- Universität Zürich Institut für Medizinische Virologie: Alexandra Trkola, Prof. Dr. rer nat
- aerzteblatt.de: Interview mit Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn: "Die HIV-Impfstoffforschung steckt in einem Dilemma"
- National Institute of Health: Experimental HIV vaccine regimen safe but ineffective, study finds
- statnews.com: Gilead to test once-a-year HIV prevention shot
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