Chronische Erschöpfung, unkontrollierte Gewichtszunahme, Diabetes: Das Cushing-Syndrom hat vielfältige Symptome. Die seltene, aber schwerwiegende Erkrankung wird durch einen Überschuss des Stresshormons Cortisol verursacht.
Laura Palm erinnert sich ganz genau an diesen Tag Ende August 2016. "Ich fuhr auf den Campus der Rutgers University in New Jersey, um meine Einstufungsprüfungen zu absolvieren. Das war der erste Tag, an dem ich mich krank fühlte."
Sie klagte damals über Bauchschmerzen, fühlte sich kraftlos und ständig müde. "Und ich konnte mir nicht vorstellen, auch nur einen Tag länger Geige zu spielen", sagt sie. Ein Gedanke, der für die professionelle Musikerin nicht nur absolut unbekannt, sondern zugleich unerträglich war. Schließlich war sie in die USA gekommen, um dort ihren Doctor of Musical Arts zu machen.
"Es fühlte sich an, als hätte ich Wolken im Kopf, ich konnte mich nicht konzentrieren, nicht richtig sehen."
In den nächsten Wochen kommen Schlafstörungen hinzu und etwas, das Palm als "Gehirnnebel" beschreibt. Eine Art Blackout, wie ihn gesunde Menschen am ehesten bei Prüfungen erleben. "Es fühlte sich an, als hätte ich Wolken im Kopf, ich konnte mich nicht konzentrieren, nicht richtig sehen", sagt sie.
Zur gleichen Zeit legt Laura Palm an Gewicht zu, am Bauch, den Brüsten und im Gesicht, das zudem merkwürdig gerötet ist. Ihr Gynäkologe verschreibt ihr das Diabetes- und Abnehmmedikament Metformin, sagt, sie solle versuchen, sich besser zu ernähren und mehr Sport zu machen. Alles hilft nichts. Und keiner der Ärzte weiß, wie all ihre Symptome zusammenpassen.
Über viele Monate folgen weitere Untersuchungen. Für den sogenannten Dexamethason-Test nimmt Palm abends ein Milligramm des gleichnamigen künstlichen Glucocortikoids. Rund zehn Stunden später bestimmt die Endokrinologin den Cortisol-Wert im Blut. Außerdem misst sie, wie viel Cortisol sich in einer 24-Stunden-Sammelurinprobe befindet. Die Werte beider Tests liegen jenseits von Gut und Böse. Im Oktober 2017 fällt das erste Mal der Begriff "Cushing-Syndrom". Palm ist zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt, 25 Kilogramm schwerer als noch vor einem halben Jahr und bezeichnet sich selbst als "absolutes körperliches und psychisches Wrack".
Es gibt verschiedene Cushing-Formen
Geschichten wie die von Laura Palm wiederholen sich täglich und weltweit. Nur jeder Zehnte sei ein lehrbuchmäßiger Patient, sagt Martin Fassnacht. Er leitet die Endokrinologie und Diabetologie des Klinikums Würzburg. "Die eine zeigt dieses Symptom stärker, der nächste weniger oder gänzlich andere", sagt der Mediziner.
Ebenso sei die Zeitachse unterschiedlich: "Es gibt Patienten, die entwickeln ein schweres Cushing-Syndrom innerhalb weniger Wochen, bei anderen zieht es sich über Jahre." Das macht die Erkrankung so tückisch.
Der Begriff "Cushing-Syndrom" vereint eine Gruppe von Symptomen. "Im Prinzip bedeutet es nur, dass es im Körper ein Zuviel des Hormons Cortisol gibt", sagt Fassnacht. Fachleute sprechen deshalb auch von Hypercortisolismus.
Man unterscheidet endogene und exogene Formen: Letztere können auftreten, wenn Menschen cortisonhaltige Medikamente einnehmen. Der Gedanke, die Hormongabe einfach wegzulassen, ist allerdings trügerisch. Der Experte erklärt: "Die Menschen nehmen das Hormonpräparat aus einem bestimmten Grund, in der Regel wegen einer schweren Erkrankung."
Man könne Cortison deshalb nicht einfach absetzen. Fassnacht ergänzt: "Und wenn längere Zeit von außen Cortison eingenommen wird, stellt der Körper die eigene Cortisol-Produktion ein und braucht gegebenenfalls einige Wochen bis Monate, bis das System sich wieder erholt."
Bei den endogenen Typen des Cushing-Syndroms stammt das Zuviel des Hormons aus dem Körper selbst. Mit etwa 70 Prozent ist Morbus Cushing die häufigste endogene Cushing-Form. Der Name geht auf den US-amerikanischen Neurochirurgen Harvey Cushing zurück, der bereits 1912 erkannte, dass bestimmte gutartige Hypophysen-Tumore für die Symptome des Morbus Cushing verantwortlich sind.
Die Tumore produzieren zu viel Adrenocorticotropin (ACTH). Das Steuerungshormon wiederum treibt die Nebennieren an, Cortisol auszuschütten. Andere endokrine Tumore – gut- oder bösartig – können in Lunge, Bauchspeicheldrüse und Schilddrüse liegen oder gar in den Nebennieren selbst. Dort schütten sie unkontrolliert ACTH oder direkt Cortisol aus.
Die Folge ist stets dieselbe: Der Körper ist dauerhaft einer viel zu hohen Konzentration des Stresshormons Cortisol ausgesetzt. Patientinnen und Patienten zeigen Symptome, wie Laura Palm sie beschreibt. Sie können außerdem Langzeitfolgen wie Bluthochdruck, Diabetes und Osteoporose entwickeln. Weil das Immunsystem gestört ist, sind sie anfällig für Infekte.
Unbehandelt steigert das Cushing-Syndrom das Risiko, an Kreislauferkrankungen zu sterben. Je nach Quelle liegt das Risiko zwei- bis viermal höher als bei gesunden Menschen. Und selbst nach erfolgreicher Behandlung bleibt das Risiko erhöht. Die Lebensqualität Betroffener ist massiv beeinträchtigt, rund die Hälfte der Patienten und Patientinnen bekommt schwere Depressionen und Angstzustände.
Die Diagnose von Morbus Cushing ist schwierig
Wie viele Menschen betroffen sind, ist unklar. Formen des endogenen Cushing-Syndroms gelten als seltene Erkrankung. Martin Fassnacht spricht von zwei bis sechs Personen pro einer Million Menschen und Jahr. In einer Stadt wie Würzburg wäre das alle paar Jahre mal ein Patient oder Patientin. Als Cushing-Zentrum sehe die Klinik aber deutlich mehr Fälle, sagt der Endokrinologe. Frauen sind etwa fünfmal häufiger betroffen als Männer.
Fachleute rechnen mit einer hohen Dunkelziffer. Denn die Symptome sind diffus und mitunter nicht so einschränkend, dass Menschen sie als Krankheit wahrnehmen. "Spannend ist allerdings, dass in Deutschland die geschätzten Fallzahlen niedriger sind als in anderen europäischen Ländern", sagt Fassnacht. Das liege aber nicht daran, dass es hier tatsächlich weniger Betroffene gebe, sondern es fehlten schlichtweg Endokrinologen. "Wenn keiner da ist, der das Cushing-Syndrom erkennt, fällt die Erkrankung weniger auf."
Und mitunter viel zu spät. Bis zu 38 Monate warten Betroffene auf eine Diagnose, berechneten Forschende im Jahr 2020. "Man würde erwarten, man misst den Cortisol-Gehalt im Blut und sieht, dass der viel zu hoch ist", sagt Fassnacht. Aber der Hormonspiegel schwankt über den Tag, ist morgens generell höher oder wenn wir Stress haben.
Einen einfachen Bluttest zur Abklärung gibt es deshalb nicht. Zum Standard-Prozedere gehören der Dexamethason-Test sowie die Bestimmung des Hormons in einer Urinprobe, die über einen Zeitraum von 24 Stunden gesammelt wird. "Aber auch dann fängt die Suche ja erst an", sagt der Endokrinologe, "denn die Frage lautet natürlich: Woher stammt das Zuviel an Cortisol?"
OP als erste Wahl
Mithilfe von Kathetern, die über Blutgefäße von der Leiste bis zur Hypophyse geschoben werden, messen Spezialisten den Gehalt von ACTH an der Hirnanhangsdrüse und setzen diesen Wert ins Verhältnis zum ACTH-Gehalt im peripheren Blut. Bei einem Wert über 3 produziert wahrscheinlich ein Hypophysen-Tumor zu viel ACTH.
Bildgebende Verfahren wie die Computertomografie (CT) oder Magnetresonanztomografie (MRT) können Tumore sichtbar machen. Die sind allerdings häufig nur wenige Millimeter klein. "Manchmal sieht die Hypophyse im MRT völlig normal aus", sagt Fassnacht. Erst bei einer Operation oder sogar noch später bei einem Pathologen oder einer Pathologin findet sich Tumorgewebe.
Bis heute ist bei ACTH-produzierenden Hypophysen-Tumoren eine OP das Mittel der Wahl. Spezialisierte Hypophysen-Chirurgen und -Chirurginnen entfernen auffälliges Gewebe durch die Nase. Bis zu acht von zehn Patientinnen und Patienten gelten danach als geheilt. Doch die Erkrankung kann wieder aufflammen. Wenn nötig, schließen sich Bestrahlungen und medikamentöse Therapien an.
Das Gen USP8 im Visier
Um die Erkrankung besser zu verstehen und behandeln zu können, forschen die Würzburger Cushing-Experten auch. Martin Fassnachts Kollege Silviu Sbiera leitet das endokrinologische Forschungslabor des Uniklinikums. "Wir haben herausgefunden, dass es mit USP8 ein Gen gibt, das in Hypophysen-Tumoren für eine vermehrte ACTH-Produktion sorgt", sagt der Biologe. Das sei überraschend gewesen, denn Ubiquitin Specific Peptidase 8 – so der vollständige Name – habe augenscheinlich nichts mit dem Hormonstoffwechsel zu tun.
Haben Proteine ihre Funktion erfüllt oder sind fehlerhaft, markieren spezielle Enzyme sie mit einem kleinen Molekül, dem Ubiquitin. Das ist für die "Müllabfuhr" der Zelle das Signal, aufzuräumen und die markierten Proteine zu entsorgen. Deubiquitinasen wiederum entfernen Ubiquitin-Marker. "Mit diesen Enzymen kann eine Zelle ihre eigentlich ausgemusterten Proteine rapide wieder aktivieren", sagt Sbiera.
In rund jedem zweiten ACTH-produzierenden Hypophysen-Tumor ist die eigentlich nur gelegentlich aktive USP8 wegen einer Genmutation im Dauereinsatz, deshalb spricht der Forscher von einer aktivierenden Mutation. "Wir sehen, dass Tumore mit der USP8-Mutation deutlich kleiner sind als andere Tumore der Hypophyse", sagt Sbiera. Warum das so ist, wissen die Forschenden bislang nicht. Eine Möglichkeit wäre, dass die Tumore früher entdeckt werden als andere, weil sie – auch wenn sie noch mikroskopisch klein sind – bereits Unmengen an ACTH produzieren.
Ein weiter Weg zur Therapie
Nun geht es darum, herauszufinden, welche Zellbestandteile USP8 fälschlicherweise reaktiviert. Im Fokus der Forschenden sind verschiedene Rezeptoren, etwa für den Wachstumsfaktor EGF. Mittlerweile haben sie zudem eine weitere beteiligte Deubiquitinase identifiziert, USP48. "Je mehr Zellkomponenten wir ausfindig machen, die etwas mit Morbus Cushing zu tun haben, umso mehr potenzielle Ziele haben wir", sagt Sbiera mit Blick auf zukünftige Therapeutika. Denkbar wären Hemmstoffe der "hyperaktiven" Deubiquitinasen, die lokal das Gleichgewicht zwischen Markierung und Demarkierung wiederherstellen. Bis zum marktreifen Medikament ist es aber noch ein weiter Weg.
Empfehlungen der Redaktion
Medikamente, auf die Laura Palm wohl nicht warten kann. Sie ist einer der seltenen Fälle, bei denen die Entfernung von Hypophysen-Tumoren und selbst der Nebennieren keine Besserung bringt. Laura Palms Körper ist gezeichnet von den acht Jahren Kampf gegen eine Krankheit, die nicht greifbar scheint. Im Januar 2025 finden Mediziner bei ihr eine – wie sie es nennen – aktive Masse am Dünndarm, erneut ein Tumor. Laura Palm hat wieder Hoffnung. Was, wenn dieser Tumor all die Jahre dort saß und ACTH oder Cortisol produzierte? Es wäre die Hoffnung auf ein normales Leben.
Über den Gesprächspartner
- Univ.-Prof. Dr. med. Martin Fassnacht leitet die Endokrinologie und Diabetologie des Klinikums Würzburg. Er ist Facharzt für Innere Medizin sowie für Endokrinologie und Diabetologie. Seine Spezialgebiete umfassen unter anderem endokrine Onkologie mit Schwerpunkt Nebennieren und Schilddrüse, Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen sowie ausgeprägte Adipositas.
Verwendete Quellen
- Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF): S2k-Leitlinie: „Diagnostik und Therapie klinisch hormoninaktiver Hypophysentumoren" (PDF zum Download)
- PubMed Central: Predictors of Mortality and Long-term Outcomes in Treated Cushing's Disease: A Study of 346 Patients
- The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism: Multisystem Morbidity and Mortality in Cushing's Syndrome: A Cohort Study
- The Lancet Diabetes & Endocrinology: Mortality in patients with Cushing's disease more than 10 years after remission: a multicentre, multinational, retrospective cohort study
- PubMed Central: Psychiatric Symptoms in Cushing’s Syndrome: A Systematic Review
- Frontiers Neuroscience: Neuropsychiatric disorders in Cushing's syndrome
- Orphanet: Cushing disease
- The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism: Time to Diagnosis in Cushing’s Syndrome: A Meta-Analysis Based on 5367 Patients Free
- PubMed: How to manage Cushing's disease after failed primary pituitary surgery
- PubMed: Mutations in the deubiquitinase gene USP8 cause Cushing's disease
- PubMed: Driver mutations in USP8 wild-type Cushing's disease
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