TikTok-Trend mit Folgen: Unter dem Hashtag "SkinnyTok" verharmlosen und verherrlichen Influencer problematisches Essverhalten – mit möglicherweise drastischen Auswirkungen. Pädagogin Sabine Dohme sucht als digitale Streetworkerin auf Social Media gezielt nach Jugendlichen mit Essstörungen und bietet ihnen Unterstützung an. Im Interview warnt sie vor dem "SkinnyTok"-Trend und erklärt, warum wir als Gesellschaft dringend handeln müssen.
Die Zahl der Essstörungen ist in Deutschland laut Daten der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) deutlich gestiegen, besonders betroffen sind dabei Mädchen im Alter von 12 bis 17 Jahren. Zwischen 2019 und 2023 nahm die Zahl der Diagnosen in dieser Gruppe um nahezu 50 Prozent zu: von 101 auf 150 Fälle pro 10.000 Versicherte. Ein wesentlicher Auslöser ist der Trend zur Selbstoptimierung in den sozialen Medien.
Der neueste Trend dazu nennt sich "SkinnyTok" (Wortschöpfung aus "skinny" (dünn) und TikTok): Unter diesem Hashtag kursieren zahlreiche Videos, die ungesundes Essverhalten glorifizieren, etwa mit Aussagen wie "Dein Magen knurrt nicht, er applaudiert dir" oder "Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt".
Junge, dünne, meist weibliche Influencer teilen dabei Diättipps, andere nehmen sich abgemagerte Körper zum Vorbild, sichtbare Knochen unter der Haut gelten dann als Schönheitsideal. Im Extremfall werden Essstörungen wie Magersucht und Bulimie verharmlost oder gar gefeiert – ein gefährlicher Trend, warnt Sabine Dohme.
Sie ist pädagogische Fachkraft beim Versorgungszentrum ANAD, einer Anlaufstelle für Essstörungen in München, und als digitale Streetworkerin im Rahmen des Projekts "DigiStreet" tätig, um junge Betroffene direkt im Internet zu erreichen.
Wie bewerten Sie den "SkinnyTok"-Trend aus fachlicher Sicht?
Sabine Dohme: Der Trend ist sehr problematisch, toxisch und kann gesundheitliche und psychische Problematiken fördern – bei allen Altersgruppen und Geschlechtern. Eine große Gefahr sehe ich besonders für junge Frauen und Mädchen, wobei sich auch viele Frauen mittleren Alters und in der Menopause stark davon beeinflussen lassen.
Welche konkreten Gefahren gehen von dem Trend aus?
Vor allem kann er Essstörungen auslösen oder verstärken. Zwar ist Social Media selten der alleinige Auslöser dafür, doch problematische Videos und Inhalte können bestehende Krisen, etwa durch Schulstress, familiäre Probleme oder Trennungen, verschärfen. Dann ist der Weg in eine Essstörung nicht mehr weit. Viele Jugendliche klammern sich an die Kontrolle über ihren Körper, wenn ihnen sonst alles entgleitet.
"Der Trend etabliert unrealistische Schönheitsideale und kann den Druck erhöhen, möglichst schnell, stark und ungesund abzunehmen."
Gibt es noch weitere Gefahren?
Ja, etwa Körperbildstörungen und die Verbreitung falscher Gesundheitsinformationen: Unter dem Hashtag "SkinnyTok" kursieren oft Inhalte, denen es an jeglicher medizinischen Grundlage fehlt. Der Trend etabliert unrealistische Schönheitsideale und kann den Druck erhöhen, möglichst schnell, stark und ungesund abzunehmen. Viele Betroffene eifern einer Idealvorstellung eines Körpers nach, den sie online gesehen haben, und denken: Nur ein Körper, der dünn und schlank ist, ist ein schöner und erfolgreicher Körper. Die Jugendlichen vergleichen sich mit retuschierten oder operierten Körpern und geraten in einen gefährlichen Gruppenzwang, der einem Wettkampf gleicht: Wer ist dünner und wie kann ich selbst noch dünner werden?
Studien: Social Media und Essstörungen
- Je intensiver junge Menschen soziale Medien nutzen, desto höher ist ihr Risiko, ein gestörtes Essverhalten zu entwickeln. Das legen Studien nahe.
- Eine experimentelle Studie mit Studierenden zeigte darüber hinaus: Essstörungssymptome reduzieren sich signifikant, wenn junge Erwachsene eine Woche lang auf die Nutzung von sozialen Medien verzichten. Im Umkehrschluss kommt die Studie zu dem Schluss, dass der Konsum von sozialen Medien möglicherweise ursächlich für Essstörungssymptome bei jungen Studierenden ist.
Sie stellen mit Ihrem Projekt "DigiStreet" Beratungs- und Unterstützungsangebote für betroffene junge Menschen bereit. Wie sieht Ihre Arbeit genau aus?
Ich kann meine Arbeit vergleichen mit der einer herkömmlichen Streetworkerin: Ich gehe auf Jugendliche zu und spreche sie an. Der Unterschied ist nur, dass ich es nicht auf der Straße, sondern digital mache. Ich bewege mich in Foren und auf Social Media und suche nach Jugendlichen, bei denen ich eine Essstörung vermute. Ihnen biete ich mich als Gesprächspartnerin an.
Wie treten Sie mit den Betroffenen in Kontakt?
Ich bin auf Plattformen wie gutefrage.net, Reddit, Instagram und TikTok aktiv, suche und kommentiere Beiträge von Betroffenen, gebe ihnen Ratschläge, Informationen und Tipps und biete Gespräche an. Dabei oute ich mich immer als pädagogische Fachkraft und als Expertin zum Thema Essstörungen. Bei Bedarf verweise ich an unsere anonyme Online-Beratung.
Wie reagieren die jungen Menschen in der Regel auf das Angebot?
Überraschend offen. Die Jugendlichen nehmen es erstaunlich gut und gern an. Sie haben das Bedürfnis, über ihre Probleme zu sprechen und sind extrem offen. Das führe ich auf die Anonymität des Internets zurück. Unser Angebot ist extrem niederschwellig und anonym und wir urteilen nicht, sondern beraten. Es hilft auch, dass die Betroffenen mit mir Kontakt halten können, ohne dass ihre Eltern davon erfahren müssen.
Haben Sie Strategien entwickelt, wie Sie das Vertrauen der Jugendlichen gewinnen können?
Ich spreche sie wertschätzend, sensibel und ehrlich an und beschönige nichts – oft bin ich die Erste, die ihr Problem erkennt, anspricht und ihnen zuhört. Ich sage ihnen ganz klar, dass ich die Gefahr sehe, dass sie in eine Essstörung rutschen oder sich bereits tief in einer befinden. Ob und wie es dann weitergeht, liegt an der Reaktion der Jugendlichen: Je nach Bedarf führe ich Einzelchats mit ihnen, vermittle sie an unsere Online- oder Ernährungsberatung, rate ihnen in besonders schlimmen Fällen zu einem Klinikaufenthalt oder unterstütze bei schwierigen Gesprächen mit Eltern.
Ich habe etwa letztens ein Mädchen begleitet, das Sorge hatte, mit ihren Eltern über ihre Essstörung zu sprechen. Ich habe mit ihr via Text eine Strategie entwickelt, wie sie ihnen davon erzählen kann, wie sie sich darauf vorbereiten kann, um dann gemeinsam mit ihren Eltern Hilfe zu suchen. Ich begleite die Betroffenen also in dem Prozess, sich ihrer Essstörung zu stellen und biete frühzeitig Hilfe an. Die Möglichkeiten dabei sind vielfältig.
Ist das für Sie persönlich nicht auch belastend, sich den ganzen Tag mit diesen Themen auseinanderzusetzen?
Doch, die tägliche Konfrontation mit "SkinnyTok"-Beiträgen geht oft nicht spurlos an mir vorbei. Auch ich beginne manchmal, meinen Körper zu hinterfragen – kann das aber schnell wieder reflektieren, komme zur Vernunft. Aber ich kann nachvollziehen, dass das vielen jungen Menschen eben nicht gelingt.
"Wir haben es in den letzten Jahren komplett versäumt, dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben."
Auch deshalb wächst meine Wut auf Influencerinnen, die gesundheitsgefährdende Tipps teilen und damit auch noch Geld verdienen, ohne jegliche Verantwortung gegenüber ihren jugendlichen Followern wahrzunehmen. Aber es geht mir nicht nur um Influencer, auch um die gesamte Medienlandschaft: Aussehen und Gewicht sind in den Medien permanent präsent, egal, welche App man öffnet oder welche Show man anschaut. Warum müssen diese Themen allbeherrschend sein? Das ist meiner Ansicht nach ganz, ganz schädlich. Wir haben es in den letzten Jahren komplett versäumt, dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben und das auf die richtige, korrekte Ebene zu bringen. Das, was wir im Moment machen, kratzt ganz oben am Eisberg, aber was darunterliegt, ist schon nicht mehr zu beherrschen.
Auch die Politik beschäftigt sich inzwischen mit dem Thema: Die belgische Digitalministerin Vanessa Matz warf TikTok vor, nicht genug gegen den "SkinnyTok"-Trend vorzugehen, eine einfache Warnung unter den Videos reiche nicht aus. Damit schloss sie sich Forderungen aus Frankreich und weiteren europäischen Ländern an. TikTok verweist hingegen auf Altersbeschränkungen und bestehende Zensierungen ...
Einige Plattformen machen das schon ganz gut und verweisen bei den kleinsten Hinweisen auf ungesundes Verhalten direkt an Beratungsstellen. Aber: Social Media ist ein Dschungel und ständig im Wandel: Vor ein paar Monaten waren es noch die "Legging Legs", heute ist es "SkinnyTok", morgen ein neuer Trend. Es wird immer wieder neue Pseudonyme für das gleiche Thema geben. Deshalb denke ich: Es ist aussichtslos, die sozialen Medien komplett beherrschen und kontrollieren zu wollen.
"Junge Menschen denken, wer nicht auf Instagram oder TikTok ist, existiert nicht."
Was kann stattdessen helfen?
Wir müssen unsere Jugendlichen stärken – vor allem mit Medienkompetenz: Ich bin der Meinung, dass Medienkompetenz als Fach verpflichtend an jede Schule gehört. Medien sind bei Jugendlichen omnipräsent: Junge Menschen denken, wer nicht auf Instagram oder TikTok ist, existiert nicht. Sie müssen lernen, kritisch mit Inhalten umzugehen. Ein Verbot wie in Australien, wo unter 16-Jährige keinen Zugang zu sozialen Netzwerken haben, ist zwar grundsätzlich nicht schlecht, aber es gibt immer auch Möglichkeiten, eine solche Sperre zu umgehen. Deswegen würde ich immer am Verbraucher ansetzen und ihn zu einem kritischen Medienverhalten erziehen. Nur dann kann sich das regeln.
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Auch Eltern sollten als Vorbilder agieren und früh andere Themen als Aussehen, Schönheit und Körper in den Fokus rücken. Es gibt so viele tolle Themen, mit denen sich Jugendliche beschäftigen können, sei es Politik, Umwelt, Kreativität – es müssen doch nicht immer der Körper und das Schönheitsideal sein.
Was können Freunde oder Angehörige tun, die bemerken, dass sich eine nahestehende Person von "SkinnyTok"-Videos beeinflussen lässt oder in eine problematische Richtung abrutscht?
Wichtig ist immer eine sensible Ansprache: Man sollte der Person keine Vorwürfe machen, sondern sich anbieten und entgegenkommend mit ihr sprechen. Man kann etwa fragen, ob und wie man ihr helfen kann, kann sagen, dass man sich Sorgen um sie macht, dass man merkt, sie verändert sich. Außerdem können sich Angehörige ebenso an uns wenden wie Betroffene: Jeder darf sich bei uns in der Online-Beratung Hilfe holen. Wenn ich mir Sorgen um jemanden mache, der mir nahesteht, ist das wirklich schon mal ganz toll. Wenn ich mir dann Hilfe hole, ist es noch besser. Und wenn man dann für die Person den Kontakt zu uns herstellt, ist es hervorragend.
Hilfsangebote
- Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.
Über die Gesprächspartnerin
- Sabine Dohme ist pädagogische Fachkraft beim Versorgungszentrum ANAD und Projektleiterin der "DigiStreet".
Über das Projekt "DigiStreet"
- "DigiStreet" ist ein internetbasiertes Beratungs- und Unterstützungsangebot für junge konsumierende Menschen. Streetworkerinnen und Streetworker suchen aktiv auf den sozialen Medien und in Foren den Kontakt zu Betroffenen, um mit ihnen über Themen wie Essstörungen, Sucht und Konsum oder psychische Probleme zu sprechen.
- Das Projekt ist ein Kooperationsprojekt, das von ANAD Versorgungszentrum Essstörungen des AWO-Bezirksverbands Oberbayern e.V. gemeinsam mit Condrobs e.V., der Drogenhilfe Schwaben gGmBH, mudra e.V., mindzone und der Landesstelle für Glückspielsucht umgesetzt wird.
Verwendete Quellen
- Material der AFP
- bundestag.de: Zum Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und Essstörungen
- jeatdisord.biomedcentral.com: A scoping literature review of the associations between highly visual social media use and eating disorders and disordered eating: a changing landscape
- sciencedirect.com: A preliminary investigation of the causal role of social media use in eating disorder symptoms
- kkh.de: Im Netz der Beauty-Polizei? Starker Anstieg bei Essstörungen
- aerzteblatt.de: "Soziale Medien werden dafür genutzt 'Thinspiration' und 'Fitspiration' zu verbreiten"
- dgpm.de: Der Wunsch nach "Likes" triggert Körperunzufriedenheit und Diätverhalten
- natuerlich.thieme.de: Hungern für mehr Likes?
- instagram.com: ANAD Versorgungszentrum Essstörungen