1986 sticht ein junger Polizist auf eine Blumenhändlerin ein. Sein Motiv: die Rettung der Menschheit. Der Fall des "Katzenkönigs" gilt als einer der bizarrsten der deutschen Rechtsgeschichte – und als juristisches Lehrstück, an dem Jura-Studierende nicht vorbeikommen.

Am späten Abend des 30. Juli 1986 klingelt es an der Tür von Annemarie N. Davor steht ein flüchtiger Bekannter, der 28-jährige Polizist Michael R. Er bittet sie um einen Strauß Rosen – er habe bei seiner Freundin etwas wiedergutzumachen. Eigentlich hat Annemarie N. ihren Blumenladen längst geschlossen, doch sie will dem jungen Mann helfen. So wird die Szene im Podcast "Bayern 3 True Crime – Schuld und Unschuld" beschrieben.

Die beiden gehen gemeinsam zu ihrem Laden. Als sich Annemarie N. zu den Rosen beugt, zieht Michael R. ein Messer. Er sticht laut "t-online" zwölf Mal zu – in ihren Hals, ihr Gesicht, ihren Körper. Erst als Nachbarn durch ihre Schreie alarmiert werden, lässt er von der schwer verletzten Frau ab und flieht.

Trotz massiver Verletzungen und enormen Blutverlusts überlebt Annemarie N. den Angriff. Sie kann den Täter identifizieren und so dauert es nicht lange, bis die Polizei ihren Kollegen Michael R. festnimmt. Als die Beamten ihn in seiner Wohnung stellen, klebt noch Blut an seiner Kleidung. Zweifel an seiner Schuld gibt es nicht. Doch warum griff der junge Polizist die Frau so brutal an?

Ein Menschenopfer für den "Katzenkönig"

Die Erklärung, die Michael R. später vor Gericht zu Protokoll gibt, lässt die Anwesenden im Saal fassungslos zurück. Annemarie N. habe sterben müssen, sagt Michael R. Er habe ein Menschenopfer bringen müssen, um den "Katzenkönig" zu besänftigen – ein Wesen, das angeblich im Möhnesee im Sauerland lebt. Nur so habe er die Menschheit vor dem Untergang retten können.

Auch wenn die Geschichte danach klingt: Michael R. ist nicht verrückt – er ist das Opfer einer perfiden Manipulation, die Monate zuvor ihren Anfang nahm.

Angehörige der Opfer wenden sich direkt an Vierfach-Mörder aus Idaho

Der 30-jährige Bryan Kohberger muss für den Mord an vier Studenten im US-Staat Idaho bis zu seinem Lebensende ins Gefängnis. Ein Richter verhängte die Strafe verbunden mit Entschädigungen in Höhe von insgesamt rund 200.000 Dollar (etwa 170.000 Euro) an die Opferfamilien. Kohbergers Fall wurde zu einer True-Crime-Doku und kann im Netz gestreamt werden.

Ein "neurotisches Beziehungsgeflecht"

Ein Jahr vor der Tat trifft Michael R. zufällig seine frühere Freundin Barbara H. wieder. Der junge Polizist, laut einem WDR-Bericht seit Kindheit an ein Außenseiter, hat immer noch Gefühle für sie. Barbara zieht wieder bei ihm ein – zusammen mit Peter P., einem weiteren Verehrer der jungen Frau.

Was nun folgt, bezeichnet der Bundesgerichtshof später als ein von "Mystizismus, Scheinerkenntnis und Irrglauben" geprägtes "neurotisches Beziehungsgeflecht".

Die beiden tischen Michael R. unglaubliche Geschichten auf: Barbara H. sei eine Hohepriesterin, mehrfach wiedergeboren. Immer wieder fällt sie scheinbar in Trance und übermittelt Botschaften des sagenumwobenen Volkes von Atlantis. Sie erzählen ihm vom Katzenkönig, der seit Jahrtausenden das Böse auf der Welt verkörpere und in dessen Auftrag Michael R. Mutproben bestehen müsse. Von alledem lässt sich der gutgläubige R. überzeugen – nicht zuletzt aus Liebe zu seiner Ex-Freundin.

Was für Barbara H. und Peter P. als unterhaltsames Spiel beginnt, wird bald jedoch tödlicher Ernst. Sie entwickeln einen perfiden Plan und nutzen Michael R.s Gutgläubigkeit aus. Der "Katzenkönig" fordere ein Menschenopfer von ihm, sagen sie – nur so könne die Welt vor dem Untergang bewahrt werden.

R. zögert, bietet sich laut "Bayern 3 True Crime" sogar selbst als Menschenopfer an – doch das lässt Barbara H. nicht gelten. Michael R. steht nun vor einem moralischen Dilemma: eine Unschuldige töten – oder den Untergang der Menschheit riskieren. Aus seiner Sicht bleibt ihm keine Wahl: Er entscheidet sich für die Tat.

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Annemarie N. sollte aus Eifersucht sterben

Dass die Blumenhändlerin Annemarie N. als Opfer auserkoren wird, ist kein Zufall. Gegen sie hegt Barbara H. einen persönlichen Groll: Kurz zuvor hatte sie erfahren, dass die Blumenhändlerin ihren Ex-Freund Udo N. geheiratet hat – aus Hass und Eifersucht soll Annemarie N. nun sterben. Ihr wahres Motiv verrät die manipulative Strippenzieherin Michael R. jedoch nicht.

Peter P. spielt bei dem Ganzen mit: Er gibt Michael R. sein Fahrtenmesser, die Tatwaffe, und erteilt ihm sogar Ratschläge zur Ausführung der Tat. Für ihn ist der Mord eine willkommene Gelegenheit, seinen Nebenbuhler aus dem Weg zu schaffen.

Landgericht betritt im "Katzenkönig"-Fall juristisches Neuland

Der Angriff auf Annemarie H. entpuppt sich vor Gericht schnell als komplexer juristischer Fall. Drei Menschen sind am versuchten Mord beteiligt – aber kann jemand Täter sein, wenn ein anderer die Tat ausführt und dabei weiß, was er tut? In der Regel gilt eine solche Person nur als Anstifter. Im Fall des "Katzenkönigs" geht das Landgericht Bochum einen anderen Weg – und betritt damit juristisches Neuland.

Michael R. wird am 15. September 1988 wegen versuchten Mordes zunächst zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. An einer seelischen Störung leidet Michael R. aus Sicht des Gerichts nicht – wohl handele es sich bei ihm aber um eine "hoch abnorme Persönlichkeit". Er glaubte, das Richtige zu tun – doch als Polizist hätte er den Unrechtsgehalt seiner Tat erkennen können, urteilte das Landgericht. Dennoch erkennt die Strafkammer eine durch Indoktrination seiner Mittäter erheblich verminderte Schuldfähigkeit zu seinen Gunsten an.

Barbara H. und Peter P. trifft es härter: Das Gericht sieht in ihnen nicht nur Anstifter, sondern mittelbare Täter. Sie hätten Michael R. Kraft überlegenen Wissens als "Werkzeug" benutzt. Das Gericht legt ihnen zudem das Mordmerkmal "niedrige Beweggründe" zur Last. Beide erhalten lebenslange Haftstrafen.

Bundesgerichtshof sieht Fehler

In einem Revisionsverfahren beanstandet der Bundesgerichtshof später Fehler bei der Strafzumessung: Das Landgericht Bochum habe die Rollen und Persönlichkeitsstrukturen der Angeklagten sowie ihr Beziehungsgeflecht nicht ausreichend berücksichtigt. Barbara H. war die treibende Kraft hinter der Tat, Peter P. ordnete sich ihr unter, wenn auch im eigenen Interesse.

Am 18. Januar 1989 ergeht daher ein neues Urteil: Barbara H. erhält 14 Jahre, Peter P. elf Jahre, Michael R. acht. Nur das Strafmaß ändert sich – die Schuldsprüche bleiben bestehen.

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Urteil bis heute umstritten

Mit diesem Urteil schreibt der "Katzenkönig"-Fall Rechtsgeschichte. Nie zuvor wurden Personen im Hintergrund als eigentliche Täter zur Verantwortung gezogen und zu höheren Strafen verurteilt als der ausführende Täter selbst. Der Deutsche Anwaltsverein benennt später sogar sein monatlich erscheinendes Anwaltsblatt nach diesem spektakulären Fall. Doch das Urteil bleibt bis heute umstritten.

Die Frage, ob jemand als mittelbarer Täter gelten kann, wenn der unmittelbar Handelnde selbst schuldfähig ist, spaltet die Rechtswissenschaft. Diese anhaltende Kontroverse wird weiter in juristischen Hörsälen diskutiert – wer Jura studiert, kommt am "Katzenkönig" nicht vorbei. Damit ist der bizarre Kriminalfall aus dem Jahr 1986 zu einem der berühmtesten Lehrstücke der deutschen Rechtsgeschichte geworden.

Verwendete Quellen: