Mehrfach wurde der polnische Luftraum in der Nacht verletzt, nun zieht Warschau Konsequenzen. Regierungschef Tusk fordert Unterstützung von der Nato.
Nach dem Eindringen von mehreren Drohnen in den polnischen Luftraum hat die Regierung in Warschau Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags mit den Verbündeten beantragt. Das sagte Regierungschef Donald Tusk im Parlament in Warschau.
"Wir erwarten deutlich mehr Unterstützung bei der Verteidigung des polnischen Luftraums", betonte Tusk. Diese Provokation überschreite die bisherigen Grenzen.
Tusk: "Das ist nicht unser Krieg"
"Dies ist der erste Fall, in dem russische Drohnen über dem Gebiet eines Nato-Staates abgeschossen wurden, weshalb alle unsere Verbündeten die Situation sehr ernst nehmen", sagte Tusk nach einer Krisensitzung der Regierung. Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz sprach von einer sehr schweren Provokation.
Der Vorfall lasse sich nicht mit vorangegangenen Drohnen im polnischen Luftraum vergleichen: "Dies ist das erste Mal in diesem Krieg, dass sie nicht aufgrund von Fehlern oder kleineren russischen Provokationen aus der Ukraine kamen. Zum ersten Mal kam ein erheblicher Teil der Drohnen direkt aus Belarus", sagte Tusk.
"Dies ist nicht unser Krieg. Dies ist kein Krieg allein für die Ukrainer. Dies ist eine Konfrontation, die Russland der gesamten freien Welt erklärt hat", betonte er.
Beratungen, wenn sich Nato-Staat von außen bedroht sieht
Der Artikel 4 des Nato-Vertrags sieht Beratungen vor, wenn sich ein Nato-Staat von außen gefährdet sieht. Konkret heißt es darin: "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist." Konkrete Konsequenzen müssen die Konsultation der Artikel-4-Beratungen nicht haben. Theoretisch könnte aber etwa in Folge die Luftraumüberwachung über die Nato verstärkt werden.
Der Artikel wurde seit Gründung des Bündnisses 1949 siebenmal in Anspruch genommen – zuletzt am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Beantragt wurde das damals von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Tschechien und der Slowakei.
Dass Polen nach dem Vorfall um militärische Unterstützung der Allianz nach Artikel 5 bittet, galt als sehr unwahrscheinlich - auch weil dies ein erhebliches Eskalationsrisiko bergen würden. Artikel 5 des Nato-Vertrags regelt die Beistandsverpflichtung in der Allianz und besagt, dass ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere Alliierte als ein Angriff gegen alle angesehen wird.
Kallas: Hinweise auf gezielte Luftraumverletzung in Polen
Laut EU-Angaben gibt Anzeichen für ein planmäßiges Vorgehen Moskaus. "Vergangene Nacht haben wir in Polen die schwerwiegendste Verletzung des europäischen Luftraums durch Russland seit Beginn des Krieges erlebt, und Hinweise deuten darauf hin, dass sie absichtlich erfolgte und nicht versehentlich", teilte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas mit. Sie sei in Kontakt mit Nato-Generalsekretär Mark Rutte und dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski. Die EU stehe in voller Solidarität hinter Polen.
Als Konsequenz aus den jüngsten Entwicklungen mahnte Kallas an, die Kriegskosten für Moskau weiter zu erhöhen, die Unterstützung für die Ukraine zu verstärken und in Europas Verteidigung zu investieren. "Russlands Krieg eskaliert, er endet nicht", sagte die frühere Regierungschefin Estlands.
Russischer Diplomat weist Vorwurf zurück
Ein russischer Diplomat warf den Vorwurf einer Luftraumverletzung Polens durch Drohnen seines Landes zurück. "Wir halten die Vorwürfe für haltlos. Es wurden keine Beweise vorgelegt, dass diese Drohnen russischen Ursprungs sind", sagte Andrej Ordasch, der Geschäftsträger der Botschaft Russlands in Warschau, der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti zufolge.
Er verwies darauf, dass ein ähnlicher Vorwurf in der Vergangenheit sich am Ende als falsch herausgestellt habe.
Mindestens drei Drohnen wurden abgeschossen
In der Nacht auf Mittwoch waren während eines massiven russischen Angriffs auf die Ukraine mehrere Drohnen in den polnischen Luftraum eingedrungen. Nach Angaben von Tusk handelte es sich um russische Drohnen. Nach EU-Angaben handelt es sich um den iranischen Bautyp Shahed. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach in einer Rede vor dem Europäischen Parlament von mehr als zehn solcher Drohnen.
Aus Nato-Militärkreisen hieß es, dass es in der Zeit zwischen 23:30 Uhr und 6:30 Uhr mindestens 19 Luftraumverletzungen gegeben habe und vermutlich nicht nur Shahed-Drohnen, sondern auch andere Flugobjekte verantwortlich gewesen seien.
Drei Drohnen seien abgeschossen worden, möglicherweise auch eine vierte. Viele der unbemannten Flugobjekte seien direkt aus dem Nachbarland Belarus gekommen. Belarus ist ein enger Verbündeter Russlands im Ukraine-Krieg.
Bisher gibt es keine Berichte über Verletzte. Im ostpolnischen Dorf Wyriki wurde das Dach eines Wohnhauses von Trümmern einer abgeschossenen Drohne getroffen. Weitere Trümmerteile wurden in der Nähe des ostpolnischen Biala Podlaska gefunden.
Polizei und Militär sind weiterhin auf der Suche nach Drohnen oder Drohnenteilen. Der Generalstab rief die Bevölkerung auf, sich gefundenen Trümmerteilen nicht zu nähern, sondern den Notruf zu wählen und die Polizei über den Fund zu informieren.
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Die polnische Luftwaffe wurde von niederländischen Piloten in Tarnkappenjets vom Typ F-35 unterstützt. Kräfte mehrerer Nato-Staaten in Polen wurden nach Nato-Angaben in höhere Bereitschaft versetzt, darunter auch Bundeswehrsoldaten Soldaten mit ihren Patriot-Luftverteidigungssystemen. Deutschland hält derzeit auch Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter in Polen vor, die sich am Schutz der Ostflanke beteiligen.
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