Dienen die Maßnahmen der türkischen Regierung zur Terrorismus-Bekämpfung nur als Vorwand für eine Aushebelung der Demokratie? "Erdogans Durchmarsch - Wer stoppt den Boss vom Bosporus?", fragt Anne Will in ihrer Berliner Runde. Nur ein Gast ist der Überzeugung, dass Erdogans Kurs richtig ist.

Ein Kommentar
von Andreas Kuhlmann

"In Deutschland wird versucht, einen neuen Ahmadinedschad aus Erdogan zu machen, das geben die Fakten nicht her", erregt sich in der Talkrunde von Anne Will Mustafa Yeneroğlu. Der in Deutschland lebende AKP-Abgeordnete der Großen Nationalversammlung der Türkei ist sauer. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan werde seit Wochen zu Unrecht in die Nähe eines kriminellen Diktators gerückt.

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Ist Erdogan ein "lupenreiner Demokrat"?

"Es gibt eine Doppelmoral, mit der ich nicht einverstanden bin", sagt Yeneroğlu. Und: Natürlich sei der türkische Präsident ein "lupenreiner Demokrat". Dass Anne Will ihm mit dieser Formulierung eine Falle gestellt hat, bemerkt der Abgeordnete offenbar nicht. Es war der Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der einst den russischen Präsidenten Wladimir Putin als "lupenreinen Demokraten" bezeichnete - und diese Formulierung später noch manches Mal bereut haben dürfte.

"Das wäre ein Staatsputsch"

Es ist eine erregte Diskussion an diesem Sonntagabend, die sich im Kern um die Frage dreht, welches Ziel der türkische Präsident mit seinen jüngsten Handlungen verfolgt. Nach der Aufhebung der Immunität für die Abgeordneten der pro-kurdischen HDP-Partei ist die Sorge vor einem bevorstehenden Staatsstreich groß. Am deutlichsten spricht die internationalen Befürchtungen der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags Norbert Röttgen aus.

"Entscheidend ist: Kommen jetzt die Abgeordneten statt ins Parlament ins Gefängnis?", fragt Röttgen. "Findet die Veränderung der Türkei hin zu einem autokratischen System statt?" Und: "Wird mit manipulierten Verhältnissen jetzt die Verfassung verändert?" Sollten die schlimmsten Befürchtungen vieler Beobachter wahr werden, wäre die Türkei keine Demokratie mehr. "Das wäre ein Staatsputsch", sagt Röttgen.

Wie naheliegend derartige Befürchtungen aus ihrer Sicht sind, macht die "Spiegel"-Journalistin Christiane Hoffmann mit einem Bezug auf die Vergangenheit deutlich. "Wir haben in der deutschen Geschichte gesehen, wie es funktionieren kann, eine Demokratie auszuhebeln", betont die stellvertretende Leiterin des "Spiegel"-Hauptstadt-Büros. "Dass man hier Abgeordnete diskriminiert, nur weil sie einer bestimmten Partei angehören, kann nicht demokratisch sein."

"In den 70er-Jahren lief der deutsche Staat wegen vierzig Opfern Amok"

"Einfach nur scheinheilig", findet der AKP-Abgeordnete Yeneroğlu derlei Vorwürfe und kontert selbst mit einem Rückgriff auf die deutsche Geschichte: "Wir hatten hier in Deutschland in den 70er-Jahren eine Situation, wo der Staat wegen vielleicht vierzig Opfern Amok gelaufen ist." Yeneroğlu spielt auf den Kampf der Regierung Schmidt gegen die RAF-Terroristen an. Auch damals seien Grundrechte ausgehebelt und Menschen schon bei sehr geringen Vergehen unter Terror-Verdacht gestellt worden, betont Yeneroğlu.

"Was wäre in Deutschland los, wenn es hier jedes Jahr Terror-Opfer gäbe?", fragt der AKP-Mann. Die Deutschen hätten in ihrem friedlichen, gemütlichen Land leicht reden, wenn es darum ginge, die Anti-Terror-Maßnahmen der Türkei zu diskreditieren.

"Bekämpft Erdogan wirklich nur Terroristen?"

"Stimmt das?", fragt an dieser Stelle die Moderatorin Anne Will ganz nüchtern. "Bekämpft Erdogan wirklich nur Terroristen?" Als weitgehend unstrittig gilt in der Runde, dass die PKK als eine terroristische Organisation für enormes Leid in der Türkei sorgt. Nur Sevim Dağdelen von der Linken ist anderer Meinung.

Die Einteilung, wer gerade ein Terrorist sei und wer nicht, "ist willkürlich", so die Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion. Durch solche Aussagen denunziere sie ihre eigene Position, geht Norbert Röttgen schnell dazwischen. "Die PKK übt terroristische Gewalt in der Türkei aus - und das ist leider ein Faktum." Und: "Es ist wirkliche, alltägliche Gewalt, die stattfindet."

"Das ist eine Partei, die der terroristischen PKK nahesteht"

Zwei Lesarten in der Runde gibt es dagegen über die Rolle der Abgeordneten der pro-kurdischen HDP-Partei. "Das ist eine Partei, die der terroristischen PKK nahesteht", so der AKP-Abgeordnete Yeneroğlu.

Ganz anders sehen das Norbert Röttgen und der Türkei-Experte Burak Çopur. "PKK und HDP sprechen dieselben Menschen in der Region an, aber die HDP ist eine legale Partei", betont Çopur. Gerade deshalb sei sie für einen Friedensprozess von enormer Bedeutung, mit irgendwem müsse man ja reden. "Die AKP macht die historische Chance kaputt, dass die HDP die PKK-Anhänger in eine legale Partei überführt", glaubt Çopur.

"Das sieht die Bundesregierung so, und das sieht sie so auch ganz richtig"

Dass in der HDP ausschließlich Terroristen sitzen, mag auch Norbert Röttgen nicht glauben. Er verweist auf die hohe 10-Prozent-Hürde, die die Partei bei den Wahlen genommen habe - "das schafft man mit Terroristen allein nicht".

Röttgen vermutet eher eine perfide Strategie hinter Erdogans vermeintlicher Terror-Bekämpfung. "Der Staat will unter dem Deckmantel der Terrorismus-Bekämpfung bürgerliche Freiheiten einschränken auf dem Weg zu einem autokratischen Staat", betont der Außenpolitik-Experte. So werde "versucht politische Opposition auszuschalten" und einzuschränken. "Das sieht die Bundesregierung so, und das sieht sie so auch ganz richtig."

Mit dieser Haltung repräsentiert der CDU-Mann die Mehrheitsmeinung in der Runde, der - wenig überraschend - nur der AKP-Abgeordnete nicht zustimmen mag. Doch obwohl die Veranstaltung relativ homogen ist, fällt den Gästen letzten Endes auch keine wirkliche Antwort darauf ein, wie der "Boss vom Bosporus" denn nun zu stoppen sei.

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