Früher war Georg Milbradt Ministerpräsident von Sachsen. Seit 2017 berät der CDU-Politiker als Sonderbeauftragter der deutschen Bundesregierung die Ukraine bei der Modernisierung ihrer Verwaltung. Im Interview mit unserer Redaktion spricht Milbradt über die Rolle der Gemeinden im Krieg – und erste Fortschritte im Kampf gegen die Korruption.

Ein Interview

Herr Milbradt, warum beschäftigt sich der deutsche Staat überhaupt mit den Gemeinden in der Ukraine?

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Georg Milbradt: Beim Gipfel der sieben führenden Industrienationen wurde 2017 über mangelnde Reformfortschritte in der Ukraine diskutiert. Der damalige ukrainische Präsident Poroschenko sagte dort, dass er zur Durchsetzung von Reformen mehr Unterstützung von erfahrenen Politikern brauche. Jedes G7-Land sollte sich dann einen Bereich aussuchen, in dem es Hilfe leisten will. Deutschland macht das seitdem im Bereich Dezentralisierung, öffentlicher Dienst und gute Regierungsführung. Die damalige Bundesregierung hat mich 2017 zum Sonderbeauftragten ernannt, und die neue Bundesregierung hat mich 2022 gebeten, weiterzumachen.

Warum sind die Kommunen so wichtig?

Für die Reformen in der Ukraine ist es wichtig, dass das Land nicht nur von oben nach unten regiert wird, sondern von unten nach oben. Die Bürger müssen in der Lage sein, die Verwaltung zu kontrollieren, Einfluss zu nehmen und Demokratie einzuüben. Das geht auf der lokalen Ebene besonders gut. Die Gemeinden müssen zu dieser Selbstverwaltung aber in der Lage sein.

Und wie?

Die Ukraine hat eine freiwillige Gemeindegebietsreform angestoßen und den neuen fusionierten Kommunen Kompetenzen und eigene Finanzmittel übertragen. 2021 wurde die Neuordnung per Gesetz für die restlichen Gemeinden abgeschlossen Von 11.000 Gemeinden ist man auf rund 1.400 heruntergegangen. Auch die Zahl der Kreise ist gesunken.

Ende 2021 wurden auf dieser Basis selbstbewusste und einflussreiche Bürgermeister gewählt. Diese Reform war in der Ukraine erfolgreich und nach Meinungsumfragen sehr populär. Insbesondere in kleineren Orten sind wieder Straßen repariert worden oder Schulen haben neue Fenster bekommen, weil die Bürgermeister und Gemeinderäte vor Ort darüber entscheiden konnten.

Das war allerdings vor Russlands Invasion im Februar vergangenen Jahres.

Die weitere Reform einschließlich einer Verfassungsänderung zur Absicherung der lokalen Selbstverwaltung ist durch den Krieg ins Stocken geraten. Seitdem gilt das Kriegsrecht, zudem gibt es andere Prioritäten: Auch bei den Gemeinden wird gespart, um die Armee zu finanzieren. Die Militärbehörden spielen jetzt eine große Rolle, dadurch gibt es eine faktische Zentralisierung. Das ist während eines Krieges sicherlich vertretbar und sinnvoll.

Wichtig ist aber, dass die Regierung die Zentralisierung nach dem Krieg wieder rückgängig macht und die noch fehlenden Reformteile auf den Weg bringt. Insbesondere der Wiederaufbau der kommunalen Infrastruktur muss zusammen mit den Gemeinden stattfinden. Die meisten ukrainischen Flüchtlinge in der Europäischen Union werden nur in ihre Heimat zurückkehren wollen, wenn es dort Chancen für einen wirtschaftlichen Neuanfang gibt.

Im Fokus stehen gerade die ukrainische Zentralregierung in Kiew und die ukrainische Armee. Welche Rolle spielen Städte und Dörfer in diesem Krieg?

Insbesondere in umkämpften Gebieten und in Städten, die unter Raketen- und Artilleriebeschuss stehen, spielen die Bürgermeister eine wichtige Rolle. Sie werden zu Zentren des zivilen Widerstands, organisieren schnelle Hilfe für die Einwohner und lindern humanitäre Notlagen. Kurz nach Kriegsbeginn wurden zum Beispiel EU-Mittel neu priorisiert, so dass schon im späten Frühjahr Generatoren gekauft wurden. Als die russische Armee dann im Herbst zu Angriffen auf die ukrainische Energieinfrastruktur übergegangen ist, konnten auch die kleineren Orte darauf zurückgreifen.

Georg Milbradt: Kampf gegen Korruption ist wichtig für den Wiederaufbau

In der Ukraine gibt es allerdings ein ernstes Problem mit Korruption. Dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International zufolge ist die Ukraine nach Russland das zweitkorrupteste Land Europas. Warum ist das Land da so anfällig?

Korruption ist in allen postsowjetischen Ländern ein großes Problem. Die alte kommunistische Elite hat sich dort oft das frühere Volkseigentum unter die Nägel gerissen. Dadurch sind auch in der Ukraine Oligarchen-Strukturen entstanden: Oligarchen haben nicht nur wirtschaftliche und mediale Macht, sie nehmen damit auch Einfluss auf Politik und die Gerichte. Die Ukraine braucht deshalb eine Entoligarchisierung, also eine Trennung von wirtschaftlicher, politischer und medialer Macht.

Kann das wirklich gelingen?

Fortschritte sind gerade in den letzten Jahren erkennbar. Die Ukraine hat besondere Antikorruptionsgerichte, spezialisierte Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften eingeführt. Mittlerweile greift das System mehr und mehr. Dort werden nicht nur kleine Fälle angeklagt und verurteilt, sondern auch die großen Fälle. Es werden harte Strafen verhängt. Korruption ist immer dort, wo Geld und Macht ist. Deswegen muss sie auch in den Gemeinden bekämpft werden. Es gibt dort bereits vielversprechende Ansätze.

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Welche zum Beispiel?

Sehr korruptionsanfällig ist immer die Vergabe von öffentlichen Aufträgen an private Firmen. Die Ukraine hat eine digitale Plattform eingerichtet, um hier totale Transparenz zu schaffen. Jeder Bürger kann dort einsehen, welche Aufträge ausgeschrieben wurden und welches Unternehmen welchen Auftrag zu welchem Preis bekommen hat. Wegen der Corona-Krise und des Krieges hat man leider zu viele Ausnahmen gemacht Aber zuvor hat dieses System die Korruption stark reduziert. Diese Transparenz ist übrigens so groß, dass sie in der Europäischen Union gar nicht mit dem jetzt geltenden Datenschutzrecht vereinbar wäre.

Korruption auch ein Thema beim Wiederaufbau der Ukraine

Ist das Thema Korruption für die Ukraine damit abgehakt?

Nein, im Gegenteil. Erste entscheidende Schritte sind gemacht, aber sie müssen konsequent weiterverfolgt worden. Die Antikorruptionsgerichte und -behörden müssen verstärkt ihre Arbeit fortsetzen. Das ist gerade für den Wiederaufbau wichtig. Die internationalen Geldgeber wie Deutschland sind nicht daran interessiert, dass sie erst Mittel zur Verfügung stellen – und dann mit dem Geld neue Korruptionsmöglichkeiten geschaffen werden.

Worauf müssen die westlichen Geldgeber aus Ihrer Sicht bestehen?

Es geht beim Wiederaufbau nicht nur um Geld, es geht auch um Strukturreformen. Dass der Marschall-Plan zum Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland so erfolgreich war, lag auch nicht nur an der reinen Geldsumme – Frankreich und Großbritannien haben da sogar mehr bekommen. In Deutschland ging der Geldsegen von außen einher mit einer Entflechtung der Industrie und der Einführung einer funktionierenden Marktwirtschaft. Das würde man aus heutiger Sicht vielleicht auch als Entoligarchisierung bezeichnen.

Zur Person: Prof. Dr. Georg Milbradt wurde im Sauerland geboren und wuchs in Dortmund auf. Er studierte in Münster Volkswirtschaft, Jura und Mathematik. Nach Promotion und Habilitation war er unter anderem Kämmerer in Münster. 1990 wurde der CDU-Politiker Finanzminister in Sachsen. 2002 bis 2008 regierte er den Freistaat als Ministerpräsident. 2017 wurde Milbradt für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Sonderbeauftragter für die Verwaltungsmodernisierung in der Ukraine. Zudem engagierte er sich als Schlichter in Tarifkonflikten, zuletzt in diesem Jahr im öffentlichen Dienst.
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