Aus der Not heraus hat sich die Ukraine zu einem Vorreiter für militärische Innovationen entwickelt. Sie setzt Russland mit selbst produzierten Drohnen, Raketen und elektronischen Abwehrsystemen zu – und mit Kreativität.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es ist der 1. Juni 2025. Die Drohne bewegt sich präzise über das Zielgebiet. Die Kamera liefert ein klares Bild. Jedes Manöver – sei es ein scharfes Abtauchen oder eine schnelle Drehung – erfolgt reibungslos. Niemand steuert die unbemannten Flugobjekte. Sie fliegen auf eigene Faust los, das Zielobjekt im Fokus: russische Kampfflugzeuge. 40 zerstört oder beschädigt die Ukraine eigenen Angaben zufolge an diesem Tag.

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Expertin: Einzelner Schlag verändert den Krieg nicht

Die "Operation Spinnennetz" reiht sich ein in eine Liste von Erfolgen der Ukraine im Krieg gegen Russland, die auf Innovativität und Kreativität des Landes zurückzuführen sind. Inmitten des Krieges hat sich die Ukraine zu einem Zentrum für Verteidigungstechnologien entwickelt. Was als unmittelbare Notwendigkeit begann, um die Front zu versorgen, ist eine florierende Industrie geworden, die weltweit Anerkennung findet.

Jade McGlynn forscht am Londoner King's College in der Abteilung für Kriegsstudien. Auch sie sieht in der "Operation Spinnennetz" einen erneuten Beweis für die ukrainische Kreativität, wenngleich sie sagt: Ein einzelner Schlag verändere den Krieg nicht. "Aber Operationen wie 'Spinnennetz', die unvorhersehbar und mit hoher Präzision durchgeführt werden, sind strategisch wertvoll."

Ukraine: Zwei Tote und 54 Verletzte nach Drohnenangriff auf Charkiw

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Die intensiven Angriffe mit mehr als einem Dutzend Drohnen lösten Brände in 15 Wohnungen eines fünfstöckigen Wohnhauses aus. Einige Bewohner erlitten schwere Brandverletzungen.

Laut McGlynn stärken derartige Schläge die Moral der Ukrainer und untergraben den Mythos der Unverwundbarkeit Russlands."Während die meisten Russen sich bemühen, den Krieg zu ignorieren, und die Propaganda ihnen erzählt, dass alles in Ordnung ist, hat 'Spinnennetz' den Krieg für kurze Zeit ins eigene Land gebracht und ihnen einen Bruchteil der Unsicherheit vor Augen geführt, die die Ukrainer jeden Tag spüren."

Der Unterschiede: Die Ukraine greife militärische Ziele an, während Russland Zivilisten ins Visier nehme. Die Ukraine brauche keine ständige Eskalation, derartige Schocks müsse sie allerdings in unregelmäßigen Abständen weiter auslösen, um die Initiative und ihre internationale Relevanz zu behalten.

"Spinnennetz war spektakulär – und hatte somit sicher auch eine psychologische Wirkung. Aber operativ dürfte sich die Aktion – leider – nicht nachhaltig auswirken."

Frank Sauer

Aus Sicht des deutschen Militärexperten Frank Sauer von der Münchener Bundeswehr-Universität war die "Operation Spinnennetz" ein logistischer und operativer Geniestreich. "Der Ukraine ist es gelungen, gezielt die Verteidigung Russlands zu unterlaufen", sagt er auf Anfrage unserer Redaktion. Die Bomber seien in die strategische Tiefe verlegt worden, um sie vor Angriffen durch Langenstreckendrohnen zu schützen. "Also hat die Ukraine eben Kurzstreckendrohnen 4.000 Kilometer tief in Russland geparkt und neben den Flugplätzen aufsteigen lassen."

Sein Urteil: "Clever." Dennoch sei klar, dass das nur einmal so funktioniert. Russland werde sich darauf einstellen und versuchen, seine Flugzeuge anders und besser zu schützen. Der Bau von Hangars soll bereits im Gange sein.

Mit Blick nach vorn kommt Sauer zu einem ähnlichen Schluss wie McGlynn: "Spinnennetz war spektakulär und hatte somit sicher auch eine psychologische Wirkung. Aber operativ dürfte sich die Aktion leider nicht nachhaltig auswirken." Dazu seien zu wenige Flugzeuge zerstört worden. Jedes einzelne zerstörte Flugzeug sei zwar eine gute Nachricht, denn Russland könne diese nur schwer bis gar nicht nachproduzieren. "Aber die nächtlichen Marschflugkörper-Angriffe auf die ukrainischen Städte gehen trotz der 'Operation Spinnennetz' weiter."

Kriegsführung mit ferngesteuerten Dächern und KI

Wie russische Medien berichten, war ein Ukrainer mit russischer Staatsbürgerschaft, der ursprünglich aus Kiew stammt und früher als DJ tätig war, maßgeblich an der Operation beteiligt. Der Mann war 2018 nach Russland gezogen und hatte dort im Oktober 2024 eine Spedition gegründet. Kurz darauf erwarb er mehrere Lkw, die als Transportmittel für die Drohnen dienten. Auf den Lkw befanden sich Tiny Houses mit doppeltem Dachboden, in denen die Drohnen mit Sprengstoff verborgen waren. Am 1. Juni öffneten sich die Dächer ferngesteuert und die Drohnen flogen autonom, KI-gesteuert, zu ihren Zielen.

Eine unkonventionelle Aktion, die zeigt, wie die Ukraine mit begrenzten Mitteln ihren mächtigen Gegner herausfordert. McGlynn und Sauer nennen auf Anfrage außerdem eine Reihe von ukrainischen Innovationen, die sie beeindruckt haben:

  • FPV-Drohnen, die für Präzisionsangriffe modifiziert wurden: Diese Drohnen ermöglichen es, gezielte Angriffe mit hoher Präzision durchzuführen.
  • GIS Arta und "uberisierte” Artillerie-Zielerfassung: Die Software hilft dabei, Zieldaten zu berechnen. Dank dieser ist es den ukrainischen Einheiten möglich, mit Artilleriewaffen vom Boden aus Ziele in weiter Entfernung zu treffen. Der Begriff "Uberisierung" leitet sich von dem Taxi-Unternehmen Uber ab. Der Gedanke: Moderne Technologie hat die Lieferung von Lebensmitteln, Taxis und nun auch Bomben verändert. So wie andere einen Pin setzen, um eine Fahrt zu bestellen, setzen Soldaten einen Pin, um Bomben fallen zu lassen.
  • Naval-Drohnen: Wasserdrohnen, die von der Ukraine eingesetzt werden, um russische Schiffe und militärische Einrichtungen, insbesondere auf der Krim, anzugreifen. Einige der Drohnen kommunizieren KI-basiert untereinander.
  • Selbst entwickelte Systeme zur Aufklärung und Ermittlung von Zielkoordinaten für die Artillerie mittels kommerzieller Hobbydrohnen, Starlink und frei verfügbarer Software.
  • eVorog und Telegram-basierte Aufklärungsbots für kollektive Intelligenz: Diese Bots nutzen die Bevölkerung und Quellen aus verschiedenen Regionen, um Echtzeitinformationen zu sammeln.
  • Operationen im Informationsbereich: Auch der Bereich der Informationsoperationen ist reichhaltig und kombiniert KI, Narrativ-Tests und psychologische Zielerfassung, wobei vieles davon weiterhin geheim ist oder bewusst verschleiert wird.

Besonders im Bereich der Drohnentechnologie hat das Land bemerkenswerte Fortschritte erzielt. 2024 produzierte die Ukraine über 1,5 Millionen FPV-Drohnen, die eine Schlüsselrolle in der Kriegsführung spielen. Diese Drohnen, die von dezentralen Teams teils in umfunktionierten Garagen und Industrieparks gebaut werden, ermöglichen präzise Angriffe und spielen eine zentrale Rolle in der ukrainischen Verteidigungsstrategie.

Parallel dazu wird die Entwicklung autonomer Kriegsführung weiter vorangetrieben. Ein Beispiel dafür ist das neue KI-gesteuerte "Mutterdrohnen"-System, das in der Lage ist, GPS-unabhängige Angriffsdrohnen zu starten.

Ukraine immer stärker auf sich und ihre Kreativität angewiesen

Aufgrund der zunehmend fraglichen westlichen Unterstützung wird die Ukraine noch stärker auf günstige und kreative Mittel angewiesen sein. Auch Expertin McGlynn glaubt, das Land werde in Zukunft stärker auf unvorhersehbare Angriffe setzen, vor allem, weil es in vielen Bereichen zunehmend autark geworden sei. Während eines Großteils des Krieges hätten amerikanische und deutsche Politiker versucht, eine mögliche Eskalation zu verhindern, indem sie der Ukraine Beschränkungen für den Einsatz der gespendeten Waffen auferlegten, erklärt McGlynn. Das galt insbesondere für Angriffe innerhalb Russlands. "Aber die Ukraine ist nicht mehr so abhängig."

Laut der Expertin produziert Kiew mittlerweile einen erheblichen Teil seiner Drohnen, Raketen und elektronischen Abwehrsysteme selbst und wird diese nach eigenem Ermessen einsetzen. "Wenn die Verbündeten weniger bieten, können sie auch weniger Einfluss nehmen, und die Ukraine wird nicht passiv darauf warten, zerstört zu werden, weil der Westen das Interesse verloren hat."

Das Streben nach innovativen Lösungen in der Kriegsführung ist eine Konstante im ukrainischen Vorgehen. McGlynn beschreibt, dass die Geschwindigkeit der ukrainischen Innovation bemerkenswert sei. Drohnen- und Angriffseinheiten passen sich schnell an neue russische Störmanöver an und ändern teils innerhalb weniger Tage ihre Konstruktionen. "Dieses unerbittliche Tempo der Innovationen auf dem Schlachtfeld ist von zentraler Bedeutung für die Widerstandsfähigkeit der Ukraine", sagt McGlynn.

Über die Gesprächspartner

  • Dr. Jade McGlynn ist Forscherin in der Abteilung für Kriegsstudien am King's College London. Sie schreibt regelmäßig Beiträge für internationale Medien, darunter BBC, CNN und Deutsche Welle. Jade forscht zu den derzeit von Russland besetzten Gebieten der Ukraine und untersucht soziopolitische Trends sowie direkte und indirekte Einstellungen zum Krieg in beiden Ländern.
  • PD Dr. Frank Sauer ist Experte für internationale Politik. Er hat Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Rechtswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt studiert. Nach seiner Promotion in Frankfurt habilitierte er an der Universität der Bundeswehr München. Dort ist er seit 2023 Privatdozent. Sauer tritt regelmäßig als Experte im Fernsehen auf und ist Co-Host des Podcasts "Sicherheitshalber".

Verwendete Quellen: