Berlin/Köln - Ob beim Bäcker, Friseur oder dem Kiosk um die Ecke: Wer mit Karte zahlt, bekommt auf dem Display des Kartenterminals inzwischen immer häufiger ein Auswahlmenü mit verschiedenen Trinkgeldoptionen angezeigt. Wählen lässt sich oft aus vier Möglichkeiten - etwa 10, 15 und 20 Prozent Trinkgeldaufschlag sowie jener, kein Trinkgeld zu geben.

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Wer das zum ersten Mal erlebt, ist womöglich etwas überrumpelt - zum einen, weil Trinkgeld in Deutschland für gewöhnlich nicht quasi vom Verkäufer gefordert, sondern vom Kunden aus eigenem Antrieb gegeben wird. Zum anderen, weil es die Optionen häufig dort gibt, wo man zuvor gar nicht ans Geben eines Trinkgelds gedacht hätte - also etwa überall dort, wo man nicht am Tisch bedient wird, sondern sich selbst bedient oder nur etwas am Tresen kauft.

Fachleute nennen das Nudging, wenn Menschen im Alltag kleine Schubser bekommen, die sie dazu bringen sollen, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen - "ganz ohne Ge- oder Verbote", sagt Wirtschaftspsychologin Prof. Julia Pitters von der IU Internationale Hochschule. "Man organisiert lieber das Umfeld der Menschen so, dass es einfacher für sie ist, sich zu entscheiden." Aber wer profitiert davon am Ende? Wir geben Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Thema.

Was macht es mit Verbraucherinnen und Verbrauchern, wenn am Kartenterminal plötzlich Trinkgeldoptionen auftauchen?

"Die Reaktion hängt stark von der Persönlichkeit ab", sagt Verhaltensökonom Prof. Dominik Enste vom Institut der deutschen Wirtschaft. Während einige das Angebot als Erleichterung wahrnähmen, weil sie bequem und ohne Rechnen Trinkgeld geben könnten, fühlten sich andere womöglich genötigt, Trinkgeld zu geben und könnten darauf mit Reaktanz reagieren - also aufgrund des Drucks erst recht kein Trinkgeld geben und die Örtlichkeit künftig meiden.

Trinkgeldoptionen auf dem Display eines Kartenlesegeräts
Bei der Kartenzahlung inzwischen gängig: verschiedene Angebote, Trinkgeld zu geben. © dpa / Gregor Tholl/dpa/dpa-tmn

Aus Anbietersicht ist es Julia Pitters zufolge aber ein cleverer Schachzug, die Trinkgeld-Optionen auf dem Kartenterminal anzubieten. Weil die Trinkgeldgabe bei der Kartenzahlung sonst häufig in Vergessenheit gerate, kann dieser Denkanstoß hilfreich sein. "So weckt es den Eindruck, dass das üblich ist.", sagt Pitters. Und weil Menschen sehr stark auf soziale Normen reagieren und nicht das Gefühl haben möchten, Abtrünnige zu sein, entschieden sie sich eben häufig dafür, ein Trinkgeld auszuwählen.

Geben Menschen bei Trinkgeldoptionen eher mehr oder weniger Trinkgeld?

Durch den Einsatz des Nudgings, womit Gäste bereits in die Richtung geschubst würden, überhaupt Trinkgeld zu geben, steige die Summe des Trinkgelds insgesamt an, sagt Dominik Enste.

Wie viel allerdings jeder Einzelne gibt, hängt nicht nur von dessen üblichen Trinkgeldgewohnheiten ab, sondern auch davon, welche Optionen auf dem Zahlungsterminal ausgewählt werden können. "Typischerweise drücken die Menschen in der Mitte", sagt Enste. Ganz einfach deswegen, weil wir Extreme in der Regel scheuen.

Viele Händler und Geschäftsleute wüssten um diesen psychologischen Effekt, und wählten die Trinkgeldoptionen geschickt aus, sagt Julia Pütters. In Deutschland seien normalerweise Trinkgelder zwischen 5 und 10 Prozent üblich. Wenn die niedrigste Möglichkeit aber bei 10 Prozent beginnt, sei gleich "ein ganz anderer Anker gesetzt". Weil Gäste und Kunden eben zur Mitte tendierten, wählten sie eben nicht die niedrigste Kategorie aus, sonst gäben eher mehr als die 10 Prozent Trinkgeld.

Warum fällt es Menschen so schwer, bei verschiedenen Optionen "kein Trinkgeld" auszuwählen, obwohl das eigentlich ihre bevorzugte Wahl wäre?

Weil der Mensch ungern als sparsam oder gar geizig wahrgenommen werden wolle, sagt Julia Pitters. Doch gerade beim Zahlen am Kartenterminal würde die aktive Entscheidung gegen ein Trinkgeld mindestens vom Personal, womöglich aber sogar von Umstehenden unmittelbar wahrgenommen, sagt Philipp Rehberg von der Verbraucherzentrale Niedersachsen.

Dominik Enste zufolge liegt das in unseren Genen. In den kleinen Gemeinschaften, in denen Menschen früher lebten, kannte jeder jeden. Dort sprach es sich schnell herum, wer richtig knauserig und wer besonders großzügig war. "Wer nett war, konnte sich darauf verlassen, dass das dem eigenen Ansehen hilft und dass ihm die Großzügigkeit eines Tages zurückgezahlt wird", so Enste. Dieses Urverhalten hat sich bis heute gehalten, weil die Menschen automatisch den Strategien folgten, die schon früher vorteilhaft für sie waren.

Selbst die Auswahl der niedrigst möglichen Trinkgeldoption - und seien es die ansonsten üblichen zehn Prozent - falle darum in Anbetracht der weiteren Möglichkeiten schwer, sagt Prof. Stefan Trautmann vom Alfred-Weber-Institute for Economics von der Uni Heidelberg. Immerhin sei das noch immer die knauserigste der Trinkgeldoptionen.

Wie schaffen es Verbraucherinnen und Verbraucher, der Drucksituation zu entgehen und ihre Entscheidung über ihre Trinkgeldgabe freier und selbstbestimmter zu treffen?

"Wenn wir nicht lange Zeit zum Nachdenken haben, dann fallen wir schon immer wieder auf diese Dinge rein", sagt Julia Pitters. "Dem können wir uns nicht entziehen." Darum könne es helfen, sich vor einer Zahlung bewusst zu machen, ob und wie viel Trinkgeld man geben wolle. So ist man weniger überrumpelt, falls am Kartenterminal plötzlich verschiedene Möglichkeiten auftauchen.

Auch der Austausch mit anderen könne dabei helfen, den inneren Kompass zu verschieben, sagt Pitters. So kann man unter Umständen feststellen, dass sich auch andere gelegentlich dazu hinreißen lassen, mehr Trinkgeld zu geben, als sie eigentlich möchten oder mitunter selbst gerne "kein Trinkgeld" auswählen oder zumindest wählen würden.

Sonja Guettat von der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz empfiehlt zudem, sich nicht zeitlich unter Druck setzen zu lassen, nur weil zum Beispiel eine lange Schlange hinter einem an der Kasse ist. Stattdessen sollte man selbstbewusst nachfragen, wenn keine der eigentlich gewünschten Trinkgeldoptionen angegeben ist und diese manuell eingeben (lassen).

Ist es überhaupt zulässig, wenn Händler die Trinkgeldoptionen aktiv anbieten?

Der Verbraucherschützerin Sonja Guettat zufolge ist nicht verboten, die Trinkgeldoptionen vorzuschlagen. "Es gibt allerdings keinen Rechtsanspruch auf Trinkgeld." Darum müsse gewährleistet sein, dass Kundinnen und Kunden am Kartenterminal immer auch die Option wählen könnten, kein Trinkgeld zu geben.  © Deutsche Presse-Agentur