Er besucht vier Vorlesungen pro Tag, lernt, diskutiert – und zeigt damit: Es ist nie zu spät, Neues zu entdecken. Denn mit seinen 83 Jahren sitzt Manfred Strobl lieber in der Uni als im Fernsehsessel. Wie ein Leben im Ruhestand aussieht, das alles andere als ruhig ist, und inwiefern ein Studium im Alter geistig fit halten kann.

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Freitagnachmittag, in einem beliebten Studentencafé in München: Manfred Strobl trinkt den letzten Schluck seines Kaffees und wechselt ein paar Worte mit dem Servicepersonal. Strobl passt an diesen Ort, gehört dazu – und sticht gleichzeitig hervor. "Bis Montag!", ruft man ihm hinterher, als er zur Tür hinausgeht. Gemeinsam verlassen wir das Café, er navigiert uns zielgerichtet durch die vollen Straßen des Münchner Univiertels bis zur Universität – seinem zweiten Zuhause.

Manfred Strobl ist Rentner – und Student. Seit über 20 Jahren ist der 83-Jährige Seniorstudent an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München.

Über Seniorenstudien

  • Viele Hochschulen und Universitäten im deutschsprachigen Raum bieten Programme für ältere Studierende an. Der Akademische Verein der Senioren in Deutschland (AVDS) schätzte die Zahl der Seniorstudierenden im Jahr 2024 auf rund 58.000.
  • Je nach Universität gibt es verschiedene Formen und Voraussetzungen für ein Seniorenstudium. Neben einem regulären Bachelor- oder Masterstudium können Senioren auch an einem Zertifikatsstudium teilnehmen, bei dem Lerninhalte, Lerntempo und Prüfungen an die Bedürfnisse Älterer angepasst sind. Das Zertifikatsstudium endet mit einem anerkannten Bildungsabschluss. Außerdem haben Senioren die Möglichkeit, als Gasthörer Teil des Universitätsalltags zu sein. Dabei können sie Vorlesungen und Seminare besuchen, ohne Prüfungsleistungen zu erbringen – so wie Manfred Strobl.
Seniorenstudium Statistik
© AVDS

Früher war Strobl Diplom-Ingenieur für Maschinenbau. Im Rahmen einer konzernweiten Strategie wurde er mit 60 Jahren in den Ruhestand geschickt – gegen seinen eigenen Wunsch. "Ich hätte locker noch bis 70 arbeiten können", sagt er. Nur zu Hause sitzen und die freie Zeit genießen? Nein, da werde man doch nur krank, meint Strobl. "Ich wollte etwas tun. Ich musste etwas tun", sagt er.

Fünf-Tage-Woche, vier Vorlesungen pro Tag

Er habe sich selbst beweisen wollen, dass er noch leistungsfähig ist. Der entscheidende Impuls kam dann aus einem Gespräch mit einem Kollegen und seiner Frau. Was zunächst eine vage Idee war, wurde schnell zu seinem neuen Lebensmittelpunkt. Zu Beginn seines Studiums belegte Strobl nur wenige Vorlesungen pro Woche. Inzwischen besucht er an fünf Tagen pro Woche jeweils vier Vorlesungen als Gasthörer.

Über das Seniorenstudium an der LMU

  • Als Gasthörer der LMU können Seniorstudierende an ausgewählten Vorlesungen und Seminaren des allgemeinen Lehrbetriebs teilnehmen. Zusätzlich gibt es ein eigenes Veranstaltungsprogramm mit Vorlesungen, die sich an den Interessen der älteren Generation orientieren.
  • Sie bezahlen pro Semester 100 Euro bei weniger als fünf Semesterwochenstunden, 200 Euro bei fünf bis acht Semesterwochenstunden und 300 Euro bei mehr als acht Semesterwochenstunden.
  • An der LMU benötigen Seniorstudierende die gleichen Qualifikationen wie regulär Studierende: die allgemeine oder fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung. Diese wird entweder durch das Abitur oder durch anerkannte berufliche Qualifikation nachgewiesen.

Täglich pendelt Strobl dafür mit dem Zug aus Pfaffenhofen (Ilm) nach München. Er verlässt das Haus gegen neun Uhr morgens und kehrt gegen 19 Uhr zurück. "Wenn mich etwas interessiert, mache ich es richtig – das war schon im Beruf so." Seit seinem Studienbeginn im Jahr 2003 hat er kein Semester ausgelassen – damit studiert Strobl inzwischen im 42. Semester. Prüfungen schreibt er aber keine. Seine Hauptmotivation: Lernen, Neues erfahren, den Horizont erweitern.

Weniger Einsamkeit, mehr Lebensqualität

Die Gründe, warum sich Menschen für ein Seniorenstudium entscheiden, können aber vielfältig sein, erklärt Mike Martin. Er ist Psychologe, Altersforscher und Direktor des UZH Healthy Longevity Center der Universität Zürich. "Ein Studium kann das Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl und die Lebensqualität steigern – bei Jung und Alt." Zudem helfe das Studium, gesellschaftliche Entwicklungen besser zu verstehen: "Bildung ermöglicht informierte Entscheidungen – auch im Alter", sagt Martin im Gespräch mit unserer Redaktion. Viele suchen zudem den Austausch mit Gleichgesinnten.

Auch Strobl pflegt Kontakte zu anderen Studierenden, diskutiert politische und gesellschaftliche Themen. Die intensiven Gespräche finden dabei aber hauptsächlich unter den Seniorinnen und Senioren statt: "Da wird diskutiert, politisiert, Erfahrungen ausgetauscht." Mit jüngeren Studierenden gibt es meist nur gelegentliche Begegnungen: "In einigen Vorlesungen sitzen die regulären Studenten immer ganz hinten und die Alten vorn", erzählt Strobl. Mike Martin bestätigt: "Es ist für viele noch ungewohnt, nicht nur Jung, sondern auch Alt in den Universitäten zu sehen."

Am Rande der Vorlesungen kommt Strobl aber gelegentlich auch mit Jüngeren ins Gespräch, etwa mit Jurastudierenden: "Die haben immer so dicke Bücher mit ganz vielen Zettelchen dabei. Da habe ich sie mal gefragt: 'Braucht ihr die wirklich?' Das gibt es ja bestimmt auch digital." Auch an archäologischen Exkursionen hat Strobl schon teilgenommen: Zweimal war er für jeweils eine Woche in der Türkei.

Manfred Strobl Seniorstudent LMU
Fünf Tage pro Woche verbringt Strobl an der LMU in München. © Alina Lingg

Laut dem Deutschen Seniorenportal kann man durch ein Seniorenstudium außerdem der Einsamkeit im Alter entgegenwirken. Eine weitere Motivation bringt der AVDS gegenüber dem SWR ins Spiel: Viele Seniorinnen und Senioren hätten aufgrund von früheren Lebensumständen und Kindererziehung in jungen Jahren nicht studieren können und würden diese Lebensphase später nachholen.

Wofür studieren, wenn nicht für Geld oder einen Abschluss?

Strobl jedoch konnte schon früher studieren. Heute wählt er in seinem Seniorenstudium statt Maschinenbau allerdings Themen, die sein bisheriges Berufsleben kaum berührt haben: Von Soziologie über Kunst, Geschichte, Politik und Philosophie bis hin zu Sprachen und Biomedizin ist alles mit dabei.

Von seinem Umfeld bekommt er meist Respekt und Bewunderung: "In dem Alter – Donnerwetter!" Einige wundern sich aber auch über seine Beweggründe: Er mache schließlich keinen Abschluss, verdiene kein Geld damit. Was würde es dann schon bringen? Strobls Antwort ist klar: "Es bringt mir sehr viel. Es geht nicht um Zertifikate. Es geht um die Freude am Lernen."

"Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit."

Mike Martin, Altersforscher und Psychologe

Ältere Menschen müssten sich oftmals rechtfertigen, wenn sie noch mal studieren, meint Altersforscher Martin. Dabei sollte seiner Ansicht nach auch eine Universität eine moderne Gesellschaft repräsentieren, weshalb Seniorinnen und Senioren genauso an Universitäten gehörten wie junge Studierende.

Außerdem unterstütze ein Seniorenstudium auch beim gesunden Altern. "Für viele ist 'gesundes Altern' ein Widerspruch in sich", so Martin. Aber: "Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit." Gesundheit sei, wenn Menschen möglichst lange Dinge tun könnten, die sie wertschätzen. Das, was Personen als wichtig, wertvoll oder sinnhaft empfinden, sei dabei für jeden unterschiedlich: "Sich zu bilden, gehört für viele dazu."

Demenzprävention: Warum soziale Kontakte wichtiger sind als ein Studium

"Viele bringen ein Studium im Alter auch mit Demenzprävention in Verbindung", so Martin weiter. Dass lebenslanges Lernen Demenz verhindert, könne man aber nicht sagen. Es gebe zwar einen Zusammenhang, dass Demenzdiagnosen bei Personen mit höherem Bildungsniveau häufig später gestellt werden. Diese Personen hätten in der Regel aber ein größeres soziales Netzwerk und mehr Geld zur Verfügung. Damit könnten sie mögliche Einbußen, die durch eine beginnende Demenz entstehen, längere Zeit kompensieren.

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"Ich würde niemandem empfehlen, im Alter nur deshalb zu studieren, um Demenz vorzubeugen", sagt Martin. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass Menschen die Krankheit allein dadurch verändern können. "Das ist aber in der Regel auch nicht die Motivation der Studierenden."

Um den Geist zu trainieren, empfiehlt Martin hingegen soziale Interaktionen: "Das Erzählen, Zuhören, Erinnern, Reagieren und das Aufnehmen des neuen Inputs benötigt ständig unsere kognitiven Fähigkeiten", erklärt Martin. Menschen, die sozial sehr aktiv sind, würden bei allen kognitiven Aufgaben besser abschneiden als diejenigen, die es nicht sind. Dabei gehe es um alle möglichen kognitiven Fähigkeiten: Problemlösung, Gedächtnistraining, Entscheidungen treffen.

Lernen im Alter: Lebendig und neugierig durch das Studium

Natürlich spürt Strobl, dass das Lernen für ihn heute anders funktioniert als in jungen Jahren. Besonders neue Sprachen wie Japanisch oder Italienisch erforderten mehr Anstrengung. "Wörter zu büffeln war noch nie meine Stärke", gibt er zu. Habe er aber Vorwissen, falle ihm das Lernen nach wie vor leicht.

Früher hat Strobl in den Vorlesungen fleißig mitgeschrieben, falls er zu Hause noch mal etwas nachlesen wollte. Inzwischen werden die Folien aber ins Internet hochgeladen, sodass er nur wenig selbst mitschreibt und sich die Präsentationen stattdessen akribisch abspeichert. Außerhalb der Vorlesungen nutze er diese Unterlagen aber nicht mehr: "Das brauche ich nicht. Wenn man gut aufpasst, muss man zu Hause nicht mehr lernen."

Psychologe Martin unterstreicht die Vorteile, die Seniorstudierende gegenüber Jüngeren haben: "Ältere bringen viel Lebens- und Lernerfahrung mit – das kann ein Vorteil sein." Zudem würde sich die Motivation unterscheiden: Junge brauchen oft in erster Linie den Abschluss, Ältere studieren hingegen einzig aus Überzeugung.

"Ich glaube nicht." (lacht)

Manfred Strobls Antwort auf die Frage, ob seine Frau ihn nicht gerne mehr zu Hause hätte

"Ohne Studium würde etwas fehlen. Mir würde langweilig werden", meint auch Strobl. Zu Hause versorge er zwar Hühner und kümmere sich um Technik und Elektrik – aber er brauche auch die geistige Herausforderung. "Ich merke, wie lebendig und neugierig mich das Studium hält."

Auch seine Frau hat sich an seinen Alltag gewöhnt, sie bringt ihn morgens zum Bahnhof und holt ihn abends wieder ab. Auf die Frage "Hätte Ihre Frau Sie nicht eigentlich gern noch mehr zu Hause?" lacht Strobl: "Ich glaube nicht." Am Anfang sei sie nicht so begeistert gewesen, dass ihr Mann sein Vorlesungspensum stetig gesteigert habe. Inzwischen sei es einfach ihr Alltag. Sie würden stattdessen die vorlesungsfreie Zeit nutzen, um in den Urlaub zu fahren: "Da geht es meistens mit den Enkeln auf eine Schiffsfahrt."

Semesterplan
Mittwochs um 14:15 Uhr gibt es zu viele Vorlesungen, die Strobl interessieren. © Alina Lingg

Die Frage, was ihn am Seniorenstudium störe, kann Strobl erst nach längerem Überlegen beantworten: die Qual der Wahl. Das Angebot sei seit seinem Studienstart "unheimlich erweitert" worden – was grundsätzlich toll sei. Aber: Mittwochs um 14:15 Uhr sei ein "magischer Termin". Da würden so viele interessante Vorlesungen angeboten, dass er sich nicht entscheiden könne, welche er besuchen möchte. "Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich eine verpasse", so Strobl. "Aber da kann keiner was für." Deshalb sei er manchmal froh, wenn eine der Vorlesungen ausfalle – dann müsse er sich nicht entscheiden.

Sein Rat an Menschen, die ebenfalls mit dem Gedanken spielen, ein Seniorenstudium zu beginnen: "Einfach machen!" Es sei ein Geschenk, noch einmal so viele neue Dinge zu lernen.

Auch Mike Martin betont: "Das Alter sagt wenig darüber aus, wozu jemand fähig ist." Wer denkt, er oder sie sei "zu alt", um etwas zu tun, werde häufig nur durch gesellschaftliche Erwartungen davon abgehalten.

Über Prof. Dr. Mike Martin

  • Mike Martin ist Altersforscher und Leiter der Fachrichtung Gerontopsychologie und Gerontologie an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Bereichen Lebensqualität und gesundes Altern, dem kognitiven Alter sowie der sozialen Entwicklung im Alter. Er ist Direktor des UZH Healthy Longevity Center.
  • Martin studierte Psychologie an der Universität in Mainz sowie an der University of Georgia. Nach seiner Promotion erlangte er die Habilitation an der Universität in Heidelberg.
  • Die Publikationen von Mike Martin finden Sie unter diesem Link.

Über Manfred Strobl

  • Manfred Strobl ist 83 Jahre alt und Rentner. Seit dem Wintersemester 2003/04 studiert an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Dort besucht er inzwischen vier Vorlesungen pro Tag.

Verwendete Quellen