Wer dachte, "Helikopter-Eltern" seien bereits der Gipfel an übertriebener Fürsorge, hat sich geirrt. Die Steigerung: "Rasenmäher-" oder auch "Curling-Eltern". Wie ihr Erziehungsstil den Kindern schadet und warum sie genau das Gegenteil von dem bewirken, was sie wollen.
Glück, psychische und physische Gesundheit und natürlich Erfolg: Im Grunde sind es diese Dinge, die wohl alle Eltern mit ihrer Erziehung erreichen wollen. Dasselbe Ziel also - und so viele unterschiedliche Wege. Kopfschüttelnd beobachten viele das Agieren sogenannter "Helikopter-Eltern", die wie ein Hubschrauber über ihrem Kind kreisen, es über die Maßen behüten und ihm möglichst jeden Wunsch von den Augen ablesen.
Doch es geht noch ausgeprägter: "Rasenmäher-Eltern" nennen Experten jetzt die Steigerung dieses Erziehungsstils. Manchmal ist auch von "Schneepflug-Eltern" die Rede. "Ich persönlich finde den Begriff 'Curling-Eltern' am passendsten", bemerkt die Münchner Familientherapeutin Anette Frankenberger. Das Bild des Curlings veranschauliche das Verhalten dieser Eltern: "Wie sie - zuweilen hektisch - den Weg freiwedeln, damit ihr kleiner Schützling schnell und reibungslos ans Ziel kommt."
Was solche Eltern charakterisiert: "Sie möchten ihren Kindern alle Hindernisse aus dem Weg räumen und möglichst jeden Frust ersparen", fasst Frankenberger zusammen, "doch sie tun ihren Kindern keinen Gefallen."
Rasenmäher-Eltern: "Ich brauche immer einen Helfer" - falsche Lektion für Kinder
Solche Eltern handeln oft nach ihrem Gefühl, auch klare Regeln und Grenzen seien frustrierend für die Kinder. Ihr großer Irrtum laut Frankenberger: Sie wollen mit ihrem Verhalten erreichen, dass die Kinder glücklich und ausgeglichen sind. "Aber in Wahrheit erziehen sie unselbstständige kleine Tyrannen. Zu Hause sind sie Tyrannen, woanders sind sie ängstlich, weil es ihnen an Selbstbewusstsein fehlt."
Stärker als der klassische Helikopter-Eltern-Typ greifen diese Eltern in das Geschehen ein.
Beispiel Hausaufgaben
Bei den Hausaufgaben sitzen typische "Rasenmäher"- oder "Curling-Eltern" von A bis Z dabei. Sie korrigieren umgehend jeden Fehler - wenn sie das Kind die Aufgaben überhaupt selbst machen lassen.
- Das Ziel der Eltern: fehlerfreie Hausaufgaben, damit der Lehrer sieht, wie brillant doch das Kind ist.
- Die Folgen: "Lehrkräfte erzählen mir immer wieder: Wenn Eltern das machen, weiß ich, was die Eltern, aber nicht was die Kinder können", erklärt Frankenberger. In der Probe versagen solche Kinder dann oft. Schlimmer aber noch: Das Kind zieht daraus die Lehre "Ich brauche immer einen Helfer. Ich kann es nicht alleine schaffen".
- Experten-Tipp: "Die Hausaufgaben sind der Job der Kinder! Man kann ihnen helfen, sich zu strukturieren, eine Umgebung zu schaffen, in der sie gut arbeiten können", sagt Frankenberger, die seit 27 Jahren Paare und Familien in ihrer Praxis berät. Das Ziel sei aber, dass die Kinder ihre Aufgaben irgendwann selbst erledigen. Nicht wie der 16-Jährige, der bei ihr in Behandlung ist, dessen Eltern immer noch seinen Schulranzen packen.
Verlange die Grundschullehrerin die Korrektur durch die Eltern, sollten die Kinder die Übungen zumindest erst einmal alleine machen und dann mit den Eltern besprechen.
Fatale Folgen für die Entwicklung des Kindes
Warum die Lektion "Ich kann nichts alleine schaffen" für Kinder fatal ist, erläutert Frankenberger anhand des Begriffs der "Selbstwirksamkeit" aus der Psychologie: Dabei handelt es sich um die Überzeugung, Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. "Kinder wollen selbstwirksam sein, sie wollen etwas bewirken und sich selbst damit zeigen, dass sie es auch können. So entwickeln sie Selbstwertgefühl und Selbstachtung", betont sie.
Dieser Möglichkeit dürfe man Kinder nicht berauben: "Man erreicht damit junge Erwachsene, die immer durchgeschleppt wurden und nichts selber können. Irgendwann sind sie aber der rauen Wirklichkeit ausgesetzt." Kinder, die man vor jedem Frust bewahre, würden vor allem eines werden: frustrierte Kinder, die sich selbst und eines Tages ihre Eltern verachten werden - "dafür, dass sie ihnen immer alles abgenommen haben".
Als Leitsatz für den richtigen Weg könne ein berühmtes Zitat von Maria Montessori dienen: "Hilf mir, es selbst zu tun!"
Falsche Lektion: "Ich brauche immer einen Anwalt"
Sich überall einzumischen, am besten, bevor der Frust überhaupt aufkommt, ist fest im System von "Rasenmäher-Eltern" verankert.
Beispiel Konflikte
Zwei kleine Jungs auf dem Spielplatz, ein Ball, beide möchten ihn gerne haben. Bevor einer der beiden überhaupt auch nur zu quengeln beginnt, kommt die Mutter angelaufen und schlichtet, wo noch gar kein Streit entstanden war ("Ihr müsst teilen, spielt zusammen!").
- Die Folgen: Das Kind lernt "Ich brauche immer einen Anwalt" statt "Ich kann Lösungen finden". Konflikte zu lösen, lernen Kinder aber genau dadurch: Konflikte.
- Experten-Tipp: "Je jünger Kinder sind, desto eher muss man dazwischen gehen. Aber zuerst warte ich ab, was sich da entwickelt. Wenn ich sehe, gleich wird der Zweijährige dem anderen eine mit der Schaufel überziehen, muss ich das natürlich verhindern."
Ansonsten aber sollten Eltern sich erstmal zurückhalten: "Es ist sehr oft überraschend, welche Lösungen die Kinder selber finden. Sie würden es viel öfter tun, wenn die Eltern sie nur lassen würden."
Falsche Lektion: "Ich bin nicht so wichtig"
Da sich Kinder von "Rasenmäher-Eltern" nicht anstrengen müssen, werden sie nicht nur unselbstständig und immer passiver. Sie fühlen sich auch zunehmend unfähig und können kein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln.
Beispiel: Arbeiten im Haushalt
Es soll schnell gehen, sie wollen nicht in eine mögliche Auseinandersetzung mit dem Kind gehen und ihm den Frust der mühseligen Arbeit ersparen: Typische "Rasenmäher-Eltern" binden Kinder nicht in die Arbeiten im Haushalt ein.
- Die Folgen: "Nicht nur lernen die Kinder auf diese Weise Haushaltsaufgaben erst recht als lästige und frustrierende Tätigkeiten kennen und erlernen so auch keinerlei Alltagskompetenzen", kritisiert Frankenberger. Dem Kind werde damit aber auch die Erfahrung genommen, sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen.
"Und dann wundert man sich, wenn sie hinter dem Smartphone verschwinden", sagt Frankenberger. "Dort machen sie positive Erfahrungen: Hier kann ich Levels erreichen, Aufgaben bewerkstelligen, im Team arbeiten. Im virtuellen Raum habe ich alles, was mir meine Eltern im analogen Raum verweigern."
- Experten-Tipp: "Bedenken Sie: Alle Kinder wollen wichtig sein!", erinnert Frankenberger. Dieses Gefühl gebe man ihnen, indem man sie in Arbeiten wie Aufräumen oder Putzen einbindet. "Ermutigen Sie es: 'Komm, so ist es nun mal – wir machen doch hier alles für alle.' Bringen Sie ihm bei, dass es nun mal sein muss, dass es aber auch Spaß machen kann. Wenn das Kind dann Wertschätzung von Ihnen erhält wie 'Danke, dass du geholfen hast!', macht es eine bedeutende Erfahrung: Ich bin ein wichtiger Bestandteil für die Gemeinschaft."
Schlüsselsatz für alle Eltern: "Du schaffst das! Aber ich begleite dich dabei"
Kinder müssen sich eine Frustrationstoleranz aneignen: "Sonst sind sie verloren in der Welt", sagt die Therapeutin. Oft geht es Eltern aber auch darum, sich selbst Frust zu ersparen, wie sich etwa beim Essen zeigt: "In Kindergärten wird beklagt, dass Kinder zu Hause nicht mehr mit Messer und Gabeln zu essen lernen, weil die Eltern die Sauerei fürchten und Angst haben, das Kind könne sich verletzen", beobachtet Frankenberger.
Eltern sollten ihren Kindern ruhig mehr zutrauen und auch zumuten: "Ich nehme es dir nicht ab, du schaffst das! Aber ich begleite dich dabei". Das Erfolgserlebnis, wenn das Kind dann das Gemüse auf dem Teller selber geschnitten habe, sei von großem Wert.
Wie Kinder glücklich werden
Geht Eltern zunehmend der gesunde Instinkt für die Erziehung verloren? "Kinder werden heute immer mehr zum 'Sinn' im Leben ihrer Eltern", bemängelt die Therapeutin, "ich stecke alles in das Kind, weil mir selbst ein übergeordneter Sinn im Leben fehlt. Dem Kind will ich die besten Voraussetzungen geben, es soll alles erreichen können. Nun soll es gefälligst glücklich sein!"
Doch übers Glücklichsein kursieren aus ihrer Sicht viele Missverständnisse: "Wir sind nicht glücklich, wenn wir alles haben. Wir sind glücklich, wenn wir etwas bewerkstelligen. Doch alles, was wir unseren Kindern abnehmen, werden sie nicht lernen."
Zur Person
- Anette Frankenberger arbeitet als systemische Paar- und Familientherapeutin sowie Supervisorin seit 1994 in eigener Praxis. Seit 1989 ist sie als Dozentin in der Erwachsenenbildung und Erziehungsberatung tätig. Frankenberger hat zwei erwachsene Kinder.
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